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ARD und Redakteure rücken von RBB-Führung ab

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Berlin – Es ist ein beispielloser Vorgang in der ARD-Geschichte. In der Krise beim Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) gehen die Intendanten einen nie dagewesenen Schritt - und distanzieren sich scharf von der Spitze des kleinen Senders.

Der Vorwurf: Die RBB-Leitung arbeite die Affäre um Filz und Vetternwirtschaft rund um die abberufene Senderchefin Patricia Schlesinger nicht hinreichend und nicht transparent genug auf.

ARD-Chef und WDR-Intendant Tom Buhrow sagte am Samstag, die Intendantenriege habe das Vertrauen in die aktuelle Geschäftsleitung des Senders verloren. Wenig später forderten die Vertreter der RBB-Redakteure den sofortigen Rücktritt der Führung. Am Samstagvormittag war bereits Friederike von Kirchbach zurückgetreten, bis dahin Vorsitzende des Rundfunkrates, eines Kontrollgremiums im Sender. Und die Geschäftsleitung? Bis Stand Sonntagmittag: Keine öffentliche Reaktion.

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Erste Meldung in der „Tagesschau”

Über den Schritt der ARD-Intendanten wurde am Samstagabend als erste Nachricht in der 20.00-Uhr-„Tagesschau” vor Millionen Zuschauern berichtet. Mehr Priorität kann man in der ARD-Welt dieser Aussage nicht einräumen. Buhrow, der die Geschäfte führt, seitdem Schlesinger am 7. August ihren Rücktritt als ARD-Vorsitzende erklärt hat, sieht die aktuelle Situation bei der kleineren ARD-Anstalt in Berlin und Brandenburg so: „Es scheint so instabil, dass man sagen kann, es besteht die Gefahr, dass sich die Strukturen des RBB anfangen aufzulösen.”

An diesem Montag wird sich das zweite Kontrollgremium, der RBB-Verwaltungsrat, treffen. Es wird um die konkrete Vertragsauflösung Schlesingers gehen, die vor einer Woche vom Rundfunkrat als Intendantin abberufen worden war. Dann soll auch klar sein, ob die 61-Jährige eine Abfindung bekommt; auch um Pensionsansprüche könnte es gehen. Schlesinger war seit Jahresbeginn ARD-Vorsitzende und seit 2016 RBB-Intendantin.

Der ARD-Vorstoß und der Unmut des RBB-Redaktionsausschusses setzen auch die Kontrollgremien weiter unter Druck. Der Verwaltungsrat muss seine eigene Arbeitsweise aufarbeiten, was er bereits angekündigt hat. Chefkontrolleur Wolf-Dieter Wolf trat zurück und steht mit Schlesinger im Zentrum der Vorwürfe, die beide zurückwiesen.

Es geht um umstrittene Beraterverträge für ein RBB-Bauprojekt, um Abstimmungen zwischen beiden zum Gehalt und Boni für Schlesinger. Und um Aufträge für den Ehemann und Ex-„Spiegel”-Journalisten Gerhard Spörl bei der Messe Berlin - wo Wolf bis vor kurzem in Personalunion auch Chefaufseher war. Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin ermittelt gegen die drei wegen Untreue und Vorteilsannahme. Es läuft zudem eine externe Untersuchung einer Anwaltskanzlei.

Das Vertrauen in die RBB-Führung ist hin

Die ARD-Senderchefs wollen sich nun sogar hin und wieder ohne den RBB zu Sitzungen treffen. Aus Kreisen verlautete, dass es am Freitagabend zum ersten Mal eine Intendantenschalte ohne den RBB gab. „Wir, die Intendantinnen und Intendanten der ARD, haben kein Vertrauen mehr, dass der geschäftsführenden Leitung des Senders die Aufarbeitung der diversen Vorfälle zügig genug gelingt”, hieß es von ARD-Chef Buhrow. Ähnlich äußerten sich NDR-Intendant Joachim Knuth, HR-Senderchef Florian Hager und SWR-Intendant Kai Gniffke, der nächstes Jahr wohl der neue ARD-Vorsitzende sein dürfte.

Nach dpa-Informationen soll mangelnde Aufklärung bei dem umstrittenen Bonus-System für Führungskräfte eine Rolle für den jetzt deutlichen Schritt gespielt haben. Aus ARD-Kreisen war auch zu hören, dass manchmal nach Intendantenschalten ganz neue Sachlagen zu Vorwürfen rund um den RBB vorlägen, die zuvor nicht von dem Sender in der Runde kommuniziert worden seien.

Die ARD-Intendanten hatten zum ersten Mal von den Filz- und Protzvorwürfen aus der Presse erfahren müssen, wie Buhrow kürzlich in einem dpa-Interview sagte. Längst hat der Skandal auch das Ansehen des gesamten öffentlich-rechtlichen Rundfunks mit ramponiert. Die ARD-Häuser sehen sich jetzt einem Generalverdacht ausgesetzt.

Doch nicht alle finden den ARD-Vorstoß vom Samstag gut. Aus dem RBB-Rundfunkrat gibt es Stimmen des Unmuts. Ein Beispiel: Der brandenburgische Landespolitiker Erik Stohn (SPD), selbst Rundfunkratsmitglied, spricht am Sonntag von einem „unsolidarischen Tritt vor das Schienenbein”, die Aufklärung laufe bereits. „Einen sofortigen Rückzug der Geschäftsstellenleitung halte ich für fahrlässig.”

ARD-Chef Buhrow sagte auch: „Wir wollen ein Signal senden: Wir wollen helfen, dass der Sender stabilisiert wird und dass auch wieder Vertrauen wachsen kann, damit wieder berechenbare transparente Strukturen einkehren. Wir sind der Überzeugung, dass es mit dieser Geschäftsleitung immer unruhiger wird.” Es werde auch im RBB, unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, immer unruhiger statt ruhiger.

Es gilt die Unschuldsvermutung, aber wenn man all das zusammenpuzzelt, was vor allem das Online-Medium „Business Insider” seit Ende Juni ans Licht brachte, baut sich ein erschreckendes Bild auf: Eine Welt, in der man an der Spitze schalten und walten konnte – ohne ein ehrliches Korrektiv im eigenen Umfeld, das sich durchsetzen konnte. Und ohne wirklich gute Kontrolle der unabhängigen Gremien. Die Rede ist auch von einem „System Schlesinger”.

Die Debatte dreht sich um fehlendes Fingerspitzengefühl und Moral. Es geht bei den Vorwürfen gegen die abberufene Senderchefin auch um Details wie Abendessen, Reisen, Massagesitze in einem teuren Dienstwagen und eine grüne Pflanzenwand in der Chefetage – das alles in einem notorisch klammen Sender mit der schlechtesten ARD-Quote im Programm.

Der amüsante Versprecher eines Teilnehmers in der Rundfunkratssitzung beim Westdeutschen Rundfunk (WDR) vor Tagen spiegelt vielleicht die kritisierte Kontrolllage beim RBB gerade in diesem einen Wort wider: Dort fragte jemand unter dem Eindruck der RBB-Krise die WDR-Spitze, wie es denn dort um das Zweiaugenprinzip bestellt sei.

Die ARD-Gemeinschaft mit ihren neun Landesrundfunkanstalten legt traditionell großen Wert auf Einigkeit und den Auftritt mit einer Stimme. Da wird auch mal Ärger runtergeschluckt, um die Reihen nach außen geschlossen zu halten. Umso bemerkenswerter ist die Distanzierung der ARD-Häuser vom RBB.

© dpa-infocom, dpa:220821-99-462096/4 (dpa)

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