„Currenta war wie eine Apokalypse"Was sich Leverkusener von der Wahl erhoffen

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Die Dhünn ist Ingrid Mayers Lieblingsfluss.

Leverkusen – Wenn man direkt in die Metaphorik einsteigen wollte, könnte man sagen, Peter Odenthal hat bei unserem Treffen die Apokalypse im Rücken und den Lago Maggiore im Blick. Aber das wäre ihm selbst vielleicht zu abgehoben. Obwohl er den Begriff Apokalypse gebraucht hat im Gespräch, und von diesem Eindruck spannt sich dann der Bogen ins Tessin, denn von dem Angst-Ereignis der Currenta-Explosion erholt sich Herr Odenthal derzeit mit Frau, Hund und Wohnmobil am Lago.

Kurz vor Abreise besuchen wir ihn in Bürrig für die Wahl-Serie, einen von drei Leverkusenern, die das Thema Umwelt- und Klimaschutz und gesundes Leben für sich bedenken. Das zweite geht nicht ohne das erste. Im Wahlkampf ist das ein großes Thema, in Umfragen auch, in manchen Wahlprogrammen dann doch nicht mehr so. Die Industrie-Stadt Leverkusen erscheint wie ein Brennglas für den vermeintlichen Antagonismus der Abhängigkeit des Wohlstands und der politischen Handlungsspielräume von wirtschaftlichen Maßgaben einerseits und andererseits der zwingenden Notwendigkeit, den Lebensraum der Menschen ganzheitlich und dauerhaft lebenswert zu erhalten.

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Peter Odenthal mit Hund Finn: „Ich bin aber nicht anti.“

Peter Odenthal sagt bei der Kontaktaufnahme am Telefon gleich: „Ich bin aber nicht anti.“ Und Currenta? „Ja doch, das hat etwas in Bewegung gesetzt.“ Er empfängt uns in einem Garten-Idyll, beschienen von lieblicher Septembersonne, lieblich bepiepst aus einer großen Vogelvoliere. Überhaupt ist es ringsum lieblich, zumindest auf Sicht. Vor dem Haus fließt der Mühlengraben, gleich daneben die Wupper in grüner Wiese, unweit steht die Reuschenberger Mühle, dahinter der Reuschenberger Wald. In gegengesetzter Blickrichtung dann aber die große Entsorgungsanlage, das Klärwerk, die Müllverbrennung – Luftlinie etwa 1,5 Kilometer. Das ist Leverkusen.

Urvertrauen in Sicherheitsstandards

Der Begriff Apokalypse sticht ungewöhnlich drastisch aus Odenthals ruhiger und besonnener Rede hervor. Er schließt den Rückblick ab, den er auf den 27. Juli wirft, den Tag der Explosion im Tanklager der Sonderabfallverbrennungsanlage, auf das was danach passiert (die Verunsicherung, die weißen Flecken auf dem Dach von der Salzsäure) und vor allem nicht passiert (Kommunikation durch Currenta und die Stadt Leverkusen), und das was davor war, nämlich eine Art Urvertrauen in Sicherheitsstandards einer Industrie, die in dieser Stadt schon ein Mythos ist.

„Ich bin ein alter Bayer-Mann, in dritter Generation, ich hatte hier nie Angst, ich hatte im Werk nie Angst“, sagt Odenthal heute als 75-Jähriger. Mit 14 hat er bei Bayer angefangen, 2006 bei Bayer aufgehört, als Chemielaborant und Gruppenleiter. Der Konzern verkaufte die Entsorgungssparte 2019 an einen australischen Investor.

„Als ich rausschaute, regnete es schwarz vom Himmel“

„Die Wucht der Explosion, die Rauchsäule - wenn man die Anlage kennt, wusste man, dass da viel passiert war. Was mich dann ängstigte, war die Unsicherheit, ob noch weiter Explosionen folgen. In der Nachbarschaft herrschte Panik, viele sind so schnell wie möglich weggefahren. Als ich rausschaute, regnete es schwarz vom Himmel.“

Odenthal hat sich in den letzten Jahren vor der Rente um Umweltschutz gekümmert und Luftanalysen durchgeführt. „Ich musste sofort an Seveso denken“, sagt er. Bei dem schweren Chemieunfall 1976 in Norditalien wurden hochgiftige Dioxine freigesetzt. „Das war für mich eine Apokalypse. Jetzt habe ich überhaupt kein Vertrauen mehr.“

Mülltourismus einschränken

Aus dem Unglück folgen für Peter Odenthal zwei politische Forderungen, die sowohl sein direktes Umfeld betreffen, aber aus seiner Sicht auch Allgemeingültigkeit besitzen. „Wenn ich jetzt höre, um welche Mengen toxischer Stoffe es mittlerweile bei der Entsorgung geht, dass die Anlage zu einem internationalen Verbrennungszentrum für hochkritische Stoffe hochgerüstet wurde, die mindestens aus dem europäischen Ausland über die Straße hierher transportiert werden, sage ich: Das ist ein Irrsinn. Die Politik muss Mülltourismus einschränken. Hier lokal: So wie diese Anlage jetzt betrieben wird, darf sie nicht mehr betrieben werden. Die sollte auf den Standort des Chemiewerkes gebracht werden, weg von Wohnbebauung, da ist Platz genug - ich weiß wovon ich rede.“

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Blick auf die Currenta-Anlage nach der Explosion im Tanklager

Von der Merkel-Regierung ist Peter Odenthal enttäuscht. „Für die Umwelt wurde nichts getan, immer nur Absichtserklärungen, außer beim Atomausstieg.“ Odenthal vermisst die Vision, die tatsächliche Umsetzung von im Wahlkampf versprochenen Maßnahmen bezweifelt er. „Auf wichtige Posten müssen Fachleute, ein Weiter-so ist ausgeschlossen“, sagt er und schon sind wir bei Abfallvermeidung, Massentierhaltung, Billigflügen, Flächenfraß, Braunkohle. „Erneuerbare Energien – das hätte man doch schon viel früher angehen können“, sagt Odenthal und zeigt beim Abschied nochmal auf die Reuschenberger Mühle. Mit Odenthals Unterstützung soll sie in zwei Jahren endlich zum Museum werden. Ein Wasserkraftwerk ist sie schon.

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Ophovener Mühlenbach, Mutzbach, Murbach – in Leverkusen und um Leverkusen herum ist Wasser durchaus ein Ding. Neben dem kleineren Geplätscher zählen als echte Flüsse Rhein, Wupper, Dhünn, und von den dreien ist die Dhünn Ingrid Mayer am liebsten. In der Nähe des Industriemuseums Freudenthaler Sensenhammer in Schlebusch werfen wir einen Blick auf Wasser, Ufer, mildes Grün und sprechen über den Eisvogel, den sie hier manchmal sieht und die Wasseramsel, die sich manchmal zeigt.

Noch so eine idyllische Insel, und die zweite Favoritin von Ingrid Mayer ist auch nicht weit. Zwar schon auf Kölner Stadtgebiet reklamiert Mayer die Einrichtung des Naturschutzgebiets Hornpottgrube als „unseren Erfolg“ – „wir“ sind in diesem Fall der BUND und der Nabu, Kreisgruppe Leverkusen, man arbeitet hier zusammen.

Kormorane in der ehemaligen Kiesgrube

Ingrid Mayers Mann stellte den Antrag, dann gab es glückliche Verbindungen zur Wasserbehörde Köln, kurzum: Seit 1983 steht die ehemalige Kiesgrube unter Schutz, jetzt: Kormorane, Graureiher, manchmal ein Fischadler auf der Durchreise, aber immer Froschkonzert. Ingrid Mayer liebt die Hornpottgrube, „auch wenn sie zwei Meter von Leverkusen entfernt liegt“.

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Peter Odenthal wünscht sich mehr politische Tatkraft im Umwelt- und Klimaschutz.

Die Geschichte dazu mag alt sein, sie lohnt sich immer noch zu hören, auch die der angrenzenden Bullenwiese, die mittlerweile fast komplett zugebaut wurde, Stichwort Flächenfraß. „Wir kämpfen ja schon seit Jahrzehnten gegen Versiegelung, für Stadtbegrünung - die Themen bleiben die gleichen, es werden nur immer mehr“, sagt Ingrid Mayer. Sie ist 82, sorgt sich besonders um den Artenschutz („das liegt mir am heftigsten auf der Seele“) und ihre Nachfolge („wir haben kaum junge Leute in der Gruppe“), hat das Naturgut Ophoven, Leverkusens Vorzeigeprojekt in Sachen Naturschutz, mitgegründet und schaut jetzt in eine unbestimmte Ferne beim Überdenken der Frage, ob eine derart von Industrie geprägte Stadt als Aktionsraum für Umweltschutz besonders reizvoll ist oder besonders fordernd.

Bevölkerungsstruktur als Aufgabe

Sie beschreibt eine Art Kulturkampf, der hier eigentümlich scharfe Konturen hat: „Die Bevölkerungsstruktur hier ist eine Riesenaufgabe. Sie können Leverkusen nicht mit Köln vergleichen. Das ist eine Arbeiter- und Industriestadt, jemand der in der chemischen Industrie arbeitet, scheut sich Themen mit anzupacken, die sich gegen genau diese Industrie richtet.“ Das Engagement für Klima- und Umweltschutz beschreibt Mayer als mühsam, sowohl was Straßenaktionen betrifft, als auch politische Kooperationen. „Wenn Sie in Wiesdorf einen Infostand machen, bleibt fast keiner stehen.“

Anachronismus achtspuriger Ausbau

Noch enttäuschter zeigt sich Mayer über städtischen Starrsinn, etwa bei der Aktion „Pestizidfreie Kommune“, die zwar zeitigte, dass Glyphosat aus Parkanlagen verbannt wurde. „Ihre eigenen Pächter dazu zu verpflichten, pestizidfrei zu arbeiten, hat die Stadt sich aber nicht getraut“, kritisiert Mayer ihre Verwaltung.

Richtet sie den Blick auf Bundesebene kommen wir um den achtspurigen Ausbau der A3 nicht herum, der für sie ein Anachronismus ist. „Wir sprechen doch dauernd von der Verkehrswende und vom Klimaschutz.“ Für sie liegen die Fakten klar auf dem Tisch und alles hängt mit allem zusammen. Naturschutz ist Menschenschutz, siehe Retentionsflächen, siehe Hochwasserkatastrophe. Daraus müsste doch auch die Politik jetzt schnell Handlungsschlüsse ziehen, im Großen. Aber eben auch jeder im Kleinen, findet Ingrid Mayer: Nistkästen anbringen, Dächer begrünen, ökologisch erzeugte Lebensmittel kaufen. „Da ist Leverkusen eine Diaspora“, sagt Frau Mayer und als Leser könnte man jetzt vielleicht meinen, sie gibt bald auf. Alter und so. Aber von wegen: „Ich spüre immer wieder, man MUSS das machen.“

Umweltthemen im Fokus

Ganz anderer Typ, gleiches Muss. Erhard Schoofs ist ein aktives und aktivierendes Urgestein in Leverkusens politischem, kulturellen, gesellschaftlichen Leben. Wenn er sagt „ich mag Farben“, scheint sich das trotz seines bunt karierten Hemdes, das er an diesem Tag in seinem Haus in Rheindorf trägt, und dem ausgesprochenen Faible für die Künstler des Expressionismus, zu allererst auf die Farbe Grün zu beziehen. Grüne Tiffanylampe auf dem Tisch, grün gestrichene Balkontür, ein großer Teich mit üppigem Bewuchs drumrum, die Wasserlilien sind erst vor kurzem verblüht. Etwas entfernt rauscht die A59.

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Ingrid Mayer vom BUND Leverkusen

Schoofs ist Fraktionsvorsitzender der Bürgerliste, mit der er im Rat zahlreiche Umweltschutzthemen verfolgt, darunter die Schwammstadt, Retentionsgebiete an Flüssen, Senkung des Wasserverbrauchs, Berücksichtigung des Klima- und Gesundheitsschutzes bei der Verkehrsplanung und so weiter. Aber als Herzensprojekt benennt er nicht den Erfolg von Einzelmaßnahmen, sondern die Einrichtung eines Umweltdezernats. „Das haben wir ganz frisch beantragt, das wäre ein übergreifendes Querschnittsdezernat – damit könnten wir vielleicht erreichen, dass sich die Dinge schneller bewegen“, sagt Schoofs.

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Peter Schoofs ist Fraktionsvorsitzener der Bürgerliste in NRW, er kämpft für Umweltthemen.

Denn die Zögerlichkeit und in seiner Wahrnehmung die Hemmung in der Politik, Verantwortung zu übernehmen, sei auf allen Verwaltungsebenen ein Ärgernis. Erhard Schoofs ist 81, für Beschönigung hat er keine Zeit. Verständnis für Trägheiten schon lange nicht mehr. „Wenn wir so weitermachen, ist unser Planet in nicht ferner Zukunft unbewohnbar“, sagt er. Aber auch: „Entweder die Menschen sind zu träge, das wahrzunehmen, oder sie wollen nicht, oder sie sagen: Was kann ich denn schon tun? Dabei kann man so viel tun. Wir können anfangen, jede günstig gelegene Hauswand mit Photovoltaik zu bestücken.“

Schoofs kennt die Hürden der Politik aus 25 Jahren Stadtrat. Wenn er auf die Bundestagswahl zu sprechen kommt, sieht er beim Thema Klima und Umweltschutz erstmal nur Lücken. „Die Grünen haben ein recht gutes Programm, aber bei CDU und SPD sehe ich nur Ansätze – das reicht nicht mehr. Wir müssen uns selbst disziplinieren.“

Grundlegendes ändern

Handlungsstärke und Haltungsstärke wünscht sich Schoofs und verweist auf Politikerpersönlichkeiten à la Brandt, Wehner, „wegen mir auch Strauß“, sagt er und gibt der SPD gleich noch einen mit für die Ewigkeit: „Bei Scholz wachsen die Meinungen nach Umfragewerten. Ich halte es für absolut tödlich, wenn Politiker nicht mehr ihre Meinung vertreten, sondern nur sagen, was die Leute angeblich gerne hören wollen.“

Die Herausforderungen sind im Spiegel der Klimakrise umfassend. „Es muss sich doch Grundlegendes ändern. Das wird auch unseren Wohlstand betreffen, und das ist schwer zu vermitteln“, sagt Schoofs, und auch noch: „Heute sind die Politiker nicht mehr so zupackend und klar wie früher.“ Wie Peter Odenthal und Ingrid Mayer engagiert sich Erhard Schoofs seit Ewigkeiten im Ehrenamt. Drei Macher. Ihr Wunsch: Konsequenz und Tatkraft.

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