Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

CHP-Festnahmen in der TürkeiDer harte Kampf der türkischen Opposition

Lesezeit 4 Minuten
Zehntausende auf der Straße: Unterstützer des ohne Anklage inhaftierten Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu in Istanbul. /

Zehntausende auf der Straße: Unterstützer des ohne Anklage inhaftierten Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu in Istanbul. /

Es ist eine beispiellose juristische Verfolgungsjagd: Seit Wochen werden in der Türkei Politiker der größten Oppositionspartei CHP festgenommen. Gegen die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu gingen erneut Zehntausende auf die Straße – am Mittwoch wurden im Anschluss Dutzende Demonstranten verhaftet.

Ein rot-weißes Fahnenmeer überzieht am Dienstagabend den Platz vor dem Istanbuler Rathaus. Studentinnen und Rentner fordern in Sprechchören die Freilassung ihres Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu und den Rücktritt von Präsidenten Erdoğan, schwanken zwischen Wut und Entschlossenheit.

Seit 100 Tagen sitzt İmamoğlu in Haft, er gilt als größter Konkurrent Erdogans. Nun drohen ihm viele Jahre Haft und ein Politikverbot. Zehntausende von Menschen sind zum Rathaus gekommen, um dagegen zu protestieren. Die Polizei setzt Tränengas ein, am Mittwoch dann werden Dutzende Menschen verhaftet – ihnen wird Präsidentenbeleidigung vorgeworfen. Die türkische Opposition ist sichtlich erschöpft, doch sie gibt nicht auf.

Hinter ihr liegen Monate einer beispiellosen juristischen Verfolgungsjagd. In sechs großen Verhaftungswellen wurden in den vergangenen Wochen zahlreiche Bürgermeister, Bürokratinnen, Berater und Geschäftsleute aus dem Umfeld von İmamoğlu und seiner Partei CHP festgenommen. Zuletzt am Montag traf es über 120 Menschen aus der Stadtverwaltung von Izmir, darunter den ehemaligen Bürgermeister.

Noch immer keine Anklage gegen İmamoğlu

Die Istanbuler Staatsanwaltschaft wirft Ekrem İmamoğlu die Anführung einer kriminellen Vereinigung, Korruption und Terrorunterstützung vor, eine Anklageschrift liegt bis heute nicht vor. İmamoğlu weist alle Vorwürfe von sich und nennt es ein politisch motiviertes Verfahren. Allerdings haben mittlerweile mehr als 20 der Inhaftierten Reue gezeigt und ein Geständnis abgelegt. Sie berichten von Bestechung, Erpressung und Ausschreibungsmanipulationen in der Istanbuler Stadtverwaltung unter Federführung İmamoğlus. Seine Partei CHP bestreitet das und erklärt, die Häftlinge seien zu diesen Geständnissen gezwungen worden.

Korruption ist in der türkischen Politik seit vielen Jahrzehnten ein immenses Problem; Erdoğan war einst mit dem Versprechen angetreten, dem ein Ende zu bereiten. Allerdings wurden gegen Erdoğans AKP bereits 2013 immense Korruptionsvorwürfe laut; bis heute sind sie nicht aufgeklärt.

Menschen protestieren nach der Festnahme des Istanbuler Bürgermeisters Imamoglu.

Menschen protestieren nach der Festnahme des Istanbuler Bürgermeisters Imamoglu.

Viele Bürger zweifeln daher, ob es sich bei den jüngsten Ermittlungen gegen die CHP um einen beherzten Kampf gegen Korruption oder eine politische Hetzjagd gegen den Oppositionsführer handelt. Immerhin ist die CHP seit den landesweiten Kommunalwahlen im Frühjahr 2024 stärkste Partei im Land, verdrängte Erdoğans AKP das erste Mal seit Jahrzehnten auf den zweiten Platz. İmamoğlu kürte die CHP kurz nach seiner Verhaftung zu ihrem Präsidentschaftskandidaten, er liegt in fast allen Umfragen deutlich vor Erdoğan.

Selbst in AKP-Hochburgen protestierten Tausende

Der Vorsitzende der CHP Özgür Özel tourt seit Wochen durchs ganze Land, hält Kundgebungen gegen die Verhaftungswellen, protestiert gegen das Erdoğan-Regime. Selbst in einstigen AKP-Hochburgen konnte er tausende Menschen auf die Straße locken. Die Wut der Bevölkerung gegen mangelnde Rechtsstaatlichkeit, aber auch die nicht endende wollende Hyperinflation im Land ist groß.

Am Wochenende sprach Özel auf dem SPD-Parteitag in Berlin ein Grußwort, nannte die Angriffe auf seine Partei einen „zivilen Putsch“. Die SPD forderte dort mit einer Resolution die Freilassung İmamoğlus und aller politischer Gefangenen in der Türkei. „Seine Verhaftung ist der Versuch, den stärksten politischen Wettbewerber mit unlauteren Mitteln auszuschalten – ein Angriff auf Demokratie und freie Wahlen in der Türkei“, heißt es in der Resolution.

Erdoğan selbst dürfte sich die Hände reiben

Derweil gehen die juristischen Angriffe auf die CHP an anderer Front weiter. In einem Gerichtsprozess wird CHP-Chef Özel vorgeworfen, Delegierte beim Parteitag im Herbst 2023 mit Geld bestochen zu haben, damit sie für ihn stimmen. Die Staatsanwaltschaft fordert ein bis drei Jahre Haft sowie ein Politikverbot für Özel. Zudem droht der Partei eine Zwangsverwaltung oder aber die Rückkehr ihres vorherigen Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu. Das wäre der Fall, wenn die Wahl von Özel 2023 für nichtig erklärt würde. Kılıçdaroğlu schwieg monatelang zu den Vorwürfen gegen seinen Nachfolger. Am Wochenende erklärt er schließlich, er würde das Amt annehmen, um seine Partei vor der Zwangsverwaltung zu bewahren. Ebenso ließ Kılıçdaroğlu laut Medienberichten verlauten, dass er die Proteste gegen İmamoğlus Verhaftung für „nicht richtig“ halte, dies sei eine „Angelegenheit zwischen İmamoğlu und der türkischen Justiz“.

In der Partei ebenso wie in der Bevölkerung rief das einen Sturm der Entrüstung hervor. Denn Kılıçdaroğlu (74) war 13 Jahre lang ein mäßig erfolgreicher Oppositionsführer, hatte gegen Erdoğan eine Wahl nach der anderen verloren. Viele fragen sich nun, was Kılıçdaroğlu umtreibt. Möglich, dass er seine Abwahl vor anderthalb Jahren noch immer nicht überwunden hat. Viele in der Bevölkerung sehen ihn sogar als Marionette Erdoğans.

Erdoğan selbst dürfte sich die Hände reiben: Die ihm so gefährliche CHP steht als zerstritten dar, zerrieben in Machtkämpfen. Manche Analysten glauben gar, Erdoğan ziele mit dem Verfahren auf eine Spaltung der CHP und werde zeitnah vorgezogene Neuwahlen ansetzen. Die braucht er, um überhaupt noch einmal als Präsident antreten zu dürfen.