Kampf um Stadt IsjumWie der Krieg im Osten der Ukraine tobt

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Ein ausgebrannter russischer Panzer in der Nähe der Pontonbrücke bei Isjum.

Ein ausgebrannter russischer Panzer in der Nähe der Pontonbrücke bei Isjum.

  • Anatolii Schara (37) ist Big-Data-Ingenieur. Zurzeit wohnt er in Kiew. Sein Heimatdorf in der Region Cherson wurde von der russischen Armee besetzt, sein Elternhaus geplündert. 2017 war Schara für die Deutsche Welle tätig.
  • Er beschreibt, wie der Krieg in seiner Heimatregion eingeschlagen ist, von getöteten Zivilisten und dem Katz-und-Maus-Spiel mit Russland.
  • Ein Gastbeitrag.

Kiew – Vor einigen Wochen erhielt ich eine Nachricht auf dem Signal-Messenger von meinem alten Freund Olexander. Von 2014 bis 2017 diente er in einer Elite-Spezialeinheit des ukrainischen Militärs im Donbass. Als Russland am 24. Februar seinen Angriffskrieg startete, brachte Olexander seine Familie in die Westukraine und schloss sich sofort seiner alten Truppe an. Manchmal korrespondierten wir in den vergangenen Kriegsmonaten. Er erzählte mir, dass seine Einheit in der Nähe der Stadt Isjum in der Region Charkiw kämpfe.

Als Olexander von mir erfuhr, dass ich in den Donbass reisen wollte, lud er mich ein, ihn dort zu besuchen. Wir trafen uns am Bahnhof in Kramatorsk, den die Russen kürzlich mit einer taktischen Totschka-Rakete beschossen, was zu einer beträchtlichen Zahl von Opfern führte.

Graue Haare, müde Augen und neue Tattoos an den Händen

Olexanders Aussehen hatte sich stark verändert: graue Haare, müde Augen und neue Tattoos an den Händen. Nach kurzer Begrüßung machten wir uns direkt auf den Weg zu Olexanders Einheit. Nach ein paar Stunden Geländefahrt erreichten wir ein Dorf nahe der Frontlinie. Die Basis befand sich auf einem verlassenen Bauernhof. Scharfschützen bewachten das Gelände. In einem Bunker saßen mehrere andere Männer in MTP-Tarnanzügen mit dem Standard-Muster der britischen Streitkräfte auf einer Couch.

Sie starrten auf ihre Laptop-Bildschirme und diskutierten über etwas, was sie dort sahen. Olexander und seine Männer nutzen für ihre Kommunikation mit Armee und Geheimdiensten den Satelliten-Internetdienst Starlink, den der US-Multimilliardär und Tesla-Chef Elon Musk in die Ukraine geschickt hat. Mit Hilfe von Starlink können die ukrainischen Streitkräfte zuverlässig und sicher Informationen austauschen.

Der schwer beschädigte Wohnblock in der Stadt Isjum nach dem massiven russischen Artilleriebeschuss

Der schwer beschädigte Wohnblock in der Stadt Isjum nach dem massiven russischen Artilleriebeschuss

Die Soldaten auf der Couch waren Olexanders engste Waffenbrüder. Olexander ist ihr Kommandant. In seiner Einheit trägt er den Kampfnamen „Musiker“ – eine Anspielung auf seinen Zivilberuf. Er fragte, ob jemand etwas dagegen hätte, wenn er auf dem Laptop leise Musik einschalten würde. Olexander ist ein großer Fan der finnischen Rockband Apocalyptica. Begleitet von deren Songs kamen wir ins Gespräch über Olexanders Geschäft im Krieg.

Russen stürmten auf ukrainische Stadt Isjum

Gleich in den ersten Tagen ihrer Invasion versuchten die Russen, so schnell wie möglich die ostukrainische Stadt Isjum etwa 125 Kilometer südöstlich von Charkiw einzunehmen. Das hätte ihnen den Weg nach Charkiw und in den Donbass geebnet. Ihr ursprünglicher Plan war es, die in den Oblasten (Bezirken) Donezk und Luhansk stationierten ukrainischen Truppen einzukesseln. Dafür entsandten die Russen eine beträchtliche Zahl von Soldaten.

Artillerie und Flugzeuge begannen sofort ihr tödliches Werk. Sie zerstörten systematisch die Infrastruktur der Stadt. Infolge der Artillerie- und Luftangriffe starben viele Zivilisten in den ersten Tagen des Krieges. Die Menschen flüchteten sich in die Keller. Das Essen wurde in den Höfen auf offenem Feuer zubereitet. Krankenhäuser funktionierten nicht. Auch die verbliebenen Ärzte gingen in die Keller, wo sie unter anderem bei Geburten assistierten.

Schlimmer als in Horrorfilmen

Zuerst versuchten die Einheimischen, ihre Toten in den Höfen der Häuser zu begraben, ähnlich wie in Mariupol. Aber dann bekamen sie Angst, nach draußen zu gehen – und dort begannen die Leichen zu verwesen und einen ekelhaften Gestank zu verbreiten, der ständig Brechreiz verursachte. Ohne Atemmaske war es schier unmöglich, sich fortzubewegen. Herrenlose Hunde fraßen die Leichen, die nicht begraben worden waren. Es war schlimmer als in Horrorfilmen, berichtete Olexander.

Seine Einheit erfüllte in Isjum die Funktion der Artillerie-Aufklärung für die ukrainische Armee. Sie lieferte Informationen über die Bewegungen der russischen Truppen. Oft mussten Olexander und seine Männer im Rücken des Feindes agieren. Trotz erbitterten Widerstands gegen die Übermacht der russischen Streitkräfte wurden die ukrainischen Truppen Anfang März zum Rückzug auf das rechte Ufer des Flusses Siwerskyj Donez gezwungen. Um den Feind für eine Weile aufzuhalten, hatte Olexanders Gruppe die Aufgabe, die Brücke in Isjum zu sprengen, die beide Seiten des Flusses verband.

Ablenkungsmanöver und Aufklärung

Russische Pioniere versuchten jedoch mit Unterstützung ukrainischer Kollaborateure, an anderen geeigneten Stellen provisorisch eine Pontonbrücke zu bauen. Die Besatzer suchten nach einer Möglichkeit, nachts einen Platz zur Querung des Flusses zu finden, ohne dass die ukrainische Armee ihre Bewegungen bemerkte. Die Russen aufzuspüren war Teil der Order für Olexanders Gruppe. Dazu muss man wissen, dass die Russen die ukrainische Artillerie immer wieder zu täuschen versuchten – etwa mit gleichzeitigen Bewegungen verschiedener Militärkonvois.

An einem kalten Märzabend näherten sich russische Fahrzeuge mit ausgeschalteten Scheinwerfern dem Flussufer, um dort überzusetzen. Mit Hilfe von Drohnen entdeckte Olexanders Gruppe die russischen Soldaten beim Entladen ihrer Lkw. Sie arbeiteten schnell und professionell. Zusätzlich trafen Bagger ein und begannen mit dem Ausheben von Gruben, um die ersten Abschnitte der Pontonbrücke zu installieren. Die Drohne erfasste die Zahl der auf der gegenüberliegenden Flussseite konzentrierten Militärfahrzeuge und zeichnete deren GPS-Daten auf. Olexander gab die genauen Koordinaten an den Kommandanten des Artilleriebataillons weiter, der auf ein Signal wartete, das Feuer zu eröffnen. Inzwischen hatten die Russen den ersten Abschnitt der Pontonbrücke bereits errichtet. Nach und nach trafen Panzer, Infanteriefahrzeuge, Lastwagen mit Munition und Soldaten ein, so dass sich das gesamte Gebiet um die Flussquerung füllte.

Einschläge neben der Pontonbrücke

Immer ungeduldiger fragte der Kommandeur des Artilleriebataillons nach dem Feuerbefehl. Olexander wartete auf die maximale Konzentration der feindlichen Militärausrüstung. Er und seine Einheit zählten schließlich mehr als 70 Fahrzeuge. Erst als die Russen den letzten Abschnitt des Pontonübergangs gelegt hatten und ihre Panzer sich für die Überfahrt bereitmachten, teilte Olexander den Kanonieren mit, sie könnten das Feuer eröffnen. Ein paar Sekunden später war das schrille Geräusch fallender Granaten zu hören. Sie schlugen direkt neben der Pontonbrücke in den Fluss und verursachten gewaltige Wellen.

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Ein Teil der russischen Panzer an Land begann zu wenden, weil den Kommandanten klar war: Die nächsten Schläge würden genauer sein. Die ukrainische Artillerie beschoss weiter den Übergang und den Sammelplatz am Ufer. Panzer und weitere Fahrzeuge explodierten durch direkte Treffer. Andere Panzer verkeilten sich ineinander, versuchten vergeblich zu entkommen. Der Wind trieb einen Geruch von Motoröl, Schießpulver, verbranntem Metall zu Olexanders Gruppe herüber, die sich in einiger Entfernung auf dem anderen Ufer verschanzt hatte. An der Stelle, wo noch vor wenigen Minuten die russischen Truppen gestanden hatten, gähnten jetzt tiefe Geschosstrichter. Wie sich herausstellte, tötete die ukrainische Artillerie bei diesem Einsatz eine Reihe hochrangiger russischer Offiziere. Sogar die russische Armee selbst berichtete später darüber.

Die Russen übten Vergeltung mit massivem Artilleriebeschuss auf die städtische Infrastruktur von Isjum. Ganze Wohnviertel wurden bombardiert. Faktisch hat Isjum aufgehört zu existieren. Sie kann nicht restauriert, sondern muss neu aufgebaut werden. Auch die russische Luftwaffe brachte die ukrainischen Verteidiger in schwere Bedrängnis. Sie griffen deren Stellungen mit Raketen und Bomben an. Die ukrainische Luftabwehr hatte dem nichts entgegenzusetzen. Die einzige Hoffnung lag auf tragbaren US-Flugabwehr-Raketen vom Typ Stinger.

Olexander und seine Kameraden hatten im Auftrag der für die Verteidigung von Isjum verantwortlichen 93. motorisierten Infanteriebrigade Beobachtungsposten bezogen. Plötzlich entdeckten sie eine Staffel russischer SU-34-Kampfflugzeuge im Tiefflug. Ein ukrainischer Infanterist riss eine Stinger-Rakete aus ihrer Verpackung. Ein anderer half ihm dabei, sie zu schultern und packte eine weitere Rakete aus. Der erste Soldat starrte auf die anfliegenden Maschinen, nahm eine von ihnen ins Visier. Sekunden vergingen, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten. Dann drückte der Soldat den Starterknopf für die Stinger, und mit ohrenbetäubendem Lärm hob die Rakete ab.

Schleudersitze betätigt

In hoher Geschwindigkeit näherte sie sich einem der Flugzeuge. Offenbar erfassten dessen Sensoren das herannahende Geschoss. Das Flugzeug stellte die Nase steil nach oben, gewann rasch an Höhe und fiel dann zur Seite ab. Doch die Rakete verfolgte es weiter. Der Pilot versuchte im Sturzflug, ihr zu entkommen. Dann traf die Stinger eines der Triebwerke. Das Flugzeug fing Feuer, zog schwarze Rauchschwaden hinter sich her, begann sich zu drehen und wilde Bahnen zu beschreiben.

Vom Boden aus waren zwei Objekte zu erkennen, die von der Maschine wegflogen. Die Männer von Olexanders Einheit verstanden sofort: Die Besatzung des Kampfflugzeugs hatte ihre Schleudersitze betätigt. Wenige Sekunden später stürzte das Flugzeug zu Boden und explodierte. Olexanders Männer beschlossen, auszuschwärmen und nach den Piloten zu suchen. Sie vermuteten sie in der sogenannten Grauzone, militärischem Niemandsland, das weder von der russischen noch von der ukrainischen Seite kontrolliert wurde.

Nach einiger Zeit gelang es den Ukrainern in unwegsamem Gelände, die Russen aufzuspüren. Zunächst stießen sie auf einen ihrer Fallschirme in einem Baum. Sie dachten, der Pilot hätte sich des Fallschirms entledigt und sei in einen nahe gelegenen Wald geflohen. Doch plötzlich entdeckten sie Blutspuren im Gras und dann – nur wenige Meter davon entfernt – den verstümmelten Körper des toten Piloten in seinem orangefarbenen Overall, auf der Schulterpartie noch die Fallschirmgurte. 200 Meter weiter fanden die Ukrainer die Leiche des zweiten Piloten. Auch er trug noch die Gurte des Fallschirms.

Eine Untersuchung ergab, dass diese schwer beschädigt und damit untauglich gemacht worden waren. Offenbar sollten die russischen Piloten sterben, um nicht in die Hände der Ukrainer zu geraten.

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