Kommentar zu MigrationTrotz klarer Regeln droht Überforderung von Behörden wie 2015

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Geflüchtete Berlin

Geflüchtete aus der Ukraine werden an einer Essensausgabe in Berlin versorgt.

  • Michael Betrams war Präsident des Verfassungsgerichtshofs NRW. Er schreibt über aktuelle Streitfälle sowie rechtspolitische und gesellschaftliche Entwicklungen.
  • In dieser Ausgabe seiner Kolumne „Alles, was Recht ist“ schreibt er über die Lage für Geflüchtete aus der Ukraine.

Nach Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UN-HCR) sind durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine bereits zehn Millionen Menschen – nahezu ein Viertel der Bevölkerung – in die Flucht getrieben worden. >> Alle Nachrichten und Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine im Newsblog. Davon haben inzwischen über 3,2 Millionen ihre Heimat verlassen und sind in die Nachbarländer geflohen, die große Mehrzahl nach Polen. Von dort sind bislang rund 220.000 Menschen auch nach Deutschland gekommen. Die EU geht mittlerweile davon aus, dass etwa acht Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine in den Mitgliedstaaten aufgenommen werden müssen.

Größte Migration seit Zweitem Weltkrieg?

Der renommierte Migrationsforscher Gerald Knaus spricht angesichts dessen von einer Bewegung, die es in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben habe. Der russische Präsident Wladimir Putin – so Knaus – hoffe offenbar, die Europäische Union ins Chaos stürzen und durch die Fluchtbewegung destabilisieren zu können. Das ist zwar eine Mutmaßung. Doch wecken allein schon die jetzigen Flüchtlingszahlen Erinnerungen an die Ereignisse des Jahres 2015, als infolge des Syrien-Kriegs Hunderttausende Flüchtlinge ohne Grenzkontrollen nach Deutschland kamen und hier Asyl beantragten.

Die Unterschiede zu damals sind allerdings erheblich. Während es sich seinerzeit um Flüchtlinge handelte, die die deutsche Grenze illegal überquerten, halten sich die ukrainischen Flüchtlinge legal bei uns auf und haben auch ohne An-trag auf Asyl ein Bleiberecht. Wie erklärt sich dieser gravierende Unterschied? Der Europäische Rat, das Gremium der Staats- und Regierungschefs der EU, hatte bereits im Jahr 2001 mit Blick auf Massenvertreibungen im ehemaligen Jugoslawien eine Richtlinie erlassen. Sie regelt die „Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen auf die Mitgliedstaaten“.

EU-Länder verständigen sich auf Verteilung

Diese sogenannte Massenzustrom-Richtlinie hat Deutschland in Paragraf 24 seines Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (AufenthG) aufgenommen. Gleichwohl kam dieser Paragraf in der Flüchtlingskrise 2015 nicht zur Anwendung, weil sich die EU-Mitgliedsländer seinerzeit unter anderem nicht auf die in der Richtlinie vorgesehene „ausgewogene Verteilung“ der Flüchtlinge auf die EU-Länder verständigen konnten.

Eine solche Verständigung ist jedoch diesmal – in Anbetracht des russischen Überfalls auf die Ukraine und das dadurch ausgelöste Flüchtlingsdrama – gelungen. Der Rat hat deshalb am 3. März auf Vorschlag der EU-Kommission die Massenzustrom-Richtlinie aktiviert und die Aufnahme ukrainischer Kriegsflüchtlingen nach dieser Richtlinie beschlossen. Damit ist Paragraf 24 AufenthG unmittelbar zur Anwendung gekommen, so dass nunmehr gilt: Ukrainische Staatsangehörige und ihre Angehörigen, die sich bis zum 24. Februar, dem Zeitpunkt des russischen Überfalls, in der Ukraine aufgehalten haben, erhalten in Deutschland „vorübergehenden Schutz“. Das gilt unter anderem auch für nicht ukrainische Staatsangehörige, die sich vor dem oder am 24. Februar unbefristet in der Ukraine aufgehalten haben und nicht sicher in ihr Herkunftsland zurückkehren können.

„Königsteiner Schlüssel“ für Verteilung von Geflüchteten

Der genannte Personenkreis erhält von der Ausländerbehörde eine Aufenthaltserlaubnis von zunächst einem Jahr, der auf maximal drei Jahre verlängert werden kann. Flüchtlinge mit einer solchen Erlaubnis haben ferner Anspruch auf Unterstützung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Für die Verteilung der Schutzsuchenden soll nach einer Besprechung von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) mit den Innenministern der Länder und Vertretern der kommunalen Spitzenverbände der „Königsteiner Schlüssel“ maßgeblich sein. Von dieser Verteilung sollen die privat in Familien oder bei Bekannten untergebrachten und versorgten Flüchtlinge ausgenommen bleiben, um deren Ankommen und Integration zu erleichtern.

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Vor diesem rechtlichen Hintergrund sollte man eigentlich erwarten können, dass Bund, Länder und Kommunen die Situation schnell in den Griff bekommen. Doch leider verstärken die täglich länger werdenden Schlangen bei der Registrierung der ukrainischen Flüchtlinge in Berlin und andernorts den Eindruck völliger Überforderung. Die von der Bund-Länder Konferenz am 17. März versprochene Verbesserung ist jedenfalls angesichts der wachsenden Zahlen mehr als fraglich.

NRW-Integrationsminister Joachim Stamp (FDP) spricht bereits von einer „absoluten Herkulesaufgabe“ und beschwört die „internationale Solidarität“. Eine deutliche Warnung, dass sich die chaotischen Verhältnisse des Jahres 2015 doch wiederholen könnten.

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