Pensionierungen, neue Aufgaben, AusfälleDie Kriminalpolizei in NRW ist am Limit

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Polizisten NRW IMAGO

Polizisten aus Nordrhein-Westfalen schauen auf einen Streifenwagen.

Köln/Düsseldorf – Der Bericht an den Rechtsausschuss des NRW-Landtags fand kaum Notiz an jenem 9. Dezember 2020. Widerspruchslos winkte die Opposition das Papier durch. Dabei lieferte die Antwort aus dem NRW-Justizministerium auf eine Anfrage der AfD brisante Informationen: Helmut Hammerschlag, Leitender Oberstaatsanwalt in Aachen, hatte auf sechs Seiten ein gravierendes Problem bei der Kriminalpolizei Aachen skizziert. Seine Klage: Es gäbe „personelle Engpässe … insbesondere in den Fachkommissariaten für Sexualdelikte, Fälle der organisierten Kriminalität (OK), Betäubungsmitteldelikten und Umfangsverfahren.“

Hammerschlag beließ es nicht beim Aufzählen, er nannte auch mögliche Gründe für die Misere. Seitdem die Aachener Polizei für die Proteste der Braunkohlegegner im Rheinischen Revier zuständig sei, „werden die personellen Ressourcen erheblich durch Verfahren im Zusammenhang mit dem Tagebau Garzweiler gebunden und stehen nur noch eingeschränkt zur Verfügung“. Dies könne Ermittlungen verzögern.

Aber nicht nur der Tagebau kostet die Beamten Zeit. Der Behördenleiter bemängelt auch, dass pensionierte Ermittler, chronisch Kranke oder Beamte in Elternteilzeit, „nicht adäquat ersetzt werden können“.

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Mutmaßlicher Vergewaltiger war ein halbes Jahr auf freiem Fuß

Als Beispiel für seinen Befund bestätigte Hammerschlag einen Beitrag der „Aachener Nachrichten“ über den Fall eines 37 Jahre alten Mehrfachvergewaltigers. Im Herbst 2019 hatten die Strafverfolger ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, nachdem zwei Anzeigen gegen den Tatverdächtigen eingegangen waren. Es sollte allerdings mehr als ein halbes Jahr vergehen, ehe der Mann in Untersuchungshaft wanderte. Erst nach gut zehn Monaten erfolgte die erste Auswertung gesicherter Dateien.

Große Datenmengen müssen gesichtet werden.

Große Datenmengen müssen gesichtet werden.

Dabei stellte sich heraus, dass der Beschuldigte nicht nur Frauen, sondern auch ein sechs Jahre altes Mädchen missbraucht hatte. Laut Staatsanwaltschaft wurde der Fall im Kommissariat für Sexualdelikte letztlich durch eine Beamtin bearbeitet, da weitere Kollegen ausgefallen waren. Die Kommissarin habe es laut Hammerschlag trotz engagierten Einsatzes nicht vermocht, „die gesicherten Datenträger in der für eine Haftsache gebotenen Kürze und Qualität auszuwerten“. Inzwischen steht der Aachener wegen Vergewaltigung in vier Fällen vor Gericht.

Ein Beamter für komplexen Fall von Internetbetrug

Ein Einzelfall? Hammerschlag hat noch mehr Angelegenheiten in petto, die auf einen Personalengpass hindeuten. Zum Beispiel diesen: Die Kriminalpolizei in Aachen hatte auf Drängen der Staatsanwaltschaft eine Ermittlungsgruppe gegen eine Bande von Internetbetrügern gebildet. Mindestens 1000 Fälle sind zu dieser Zeit aktenkundig.

Im August 2020 wurde die Sonderkommission dann wieder aufgelöst, seither betreue nur ein einzelner Beamter den Massenkomplex. Dies habe dazu geführt, so der Leitende Oberstaatsanwalt, „dass die komplexen und umfangreichen Ermittlungen derzeit nicht mehr mit dem gebotenen Nachdruck geführt werden können“.

Selten kritisiert die Justiz die Ermittler bei der Polizei so offen. Dabei belegt der Vorgang vor allem eines: Seit Jahren leidet die Kriminalpolizei landesweit unter einem personellen Aderlass und einer chronischen Überalterung. Bis zum Jahr 2025 werden laut dem Innenministerium knapp ein Viertel der 10.000 Ermittler im Land in den Ruhestand wechseln.

Jährlich 2659 Neueinsteiger sollen Engpass ausgleichen

Zwar versucht die schwarz-gelbe Landesregierung den jahrzehntelangen Sparkurs durch erhöhte Einstellungsraten wettzumachen. So stiegen die Zahlen jährlich um jeweils 740 Neueinsteiger auf 2659 Kommissar-Anwärter im Jahr 2020. Ein guter Schritt, von dem die Kriminalpolizei im Land aber erst in einigen Jahren profitieren wird. „Ehe die Neuankömmlinge bei der Kripo landen, vergehen meist sieben Jahre, das ist absurd“, sagt Oliver Huth, Vize-Chef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK).

Nach einem dreijährigen Fachhochschulstudium werden die Absolventen im Wach- und Wechseldienst eingesetzt. Erst danach dürfen sie sich auf das Kripo-Fach spezialisieren. Dort fangen die Männer und Frauen laut Huth beinahe wieder bei Null an, weil ihnen Staatsbürgerkunde und Straßenverkehrsrecht besser vertraut sind als Vernehmungstechniken. „Egal wo die Kripo gebraucht wird, ist sie am Ende“, sagt Huth: „Damit kommen wir teilweise unserem gesetzlichen Auftrag nicht mehr nach.“

Aachens Polizeipräsident Dirk Weinspach will sich dieser Kritik nicht anschließen. Seine Sicht auf die Dinge ist differenzierter: „Richtig ist aber, dass die Kollegen bei der Kriminalitätsbekämpfung am Limit arbeiten. Deshalb muss die Kripo auch Prioritäten setzen.“ Heißt im Klartext: Manche Felder werden bevorzugt beackert, andere liegen dafür länger, weil das Personal für alles fehlt.

Digitalisierung bringt Flut an Beweismitteln mit sich

Weinspach, 61, kennt die Probleme: Durch die Digitalisierungswelle ist die Flut der Beweismittel gestiegen. Allein bei einfachen Delikten finden sich große Datenmengen aus beschlagnahmten Handys oder Überwachungskameras. Und jede Nachricht, jedes Bild muss ausgewertet werden. „Zudem nimmt die Cyberkriminalität im Internet extrem zu, meist geht es um eine Vielzahl von Taten, die nur mit einem großen Aufwand aufzuklären sind“, sagt Weinspach.

Hinzu komme das demografische Problem. Da lange Zeit wenig eingestellt wurde, steht ein großer Teil der Beamten kurz vor dem Renteneintrittsalter. Die Dienststellen überaltern. „Mit der Folge, dass die Belastbarkeit abnimmt und die Anfälligkeit für Krankheiten wächst.“ Durch die fortschreitende Pensionswelle gehe auch viel kriminalistische Erfahrung verloren.

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Hinzu kommt noch die Prioritätenliste, die Innenminister Herbert Reul ausgegeben hat: der Kampf gegen Neo-Nazis, islamistische Terrorgruppen, die Clan-Kriminalität und Kinderschänder im Netz. Und das alles mit einem Kader von Kriminalisten, der Lücken aufweist.

Vielerorts herrscht Mangelverwaltung. In Bonn etwa wurden zum 1. September 2020 nicht alle freien Stellen besetzt. Die Folge sei eine steigende Belastung der Beamten, sagt ein Behördensprecher, „und das sowohl bei der Bearbeitung der Delikte als auch im operativen Bereich“. Der Essener Kripo, ohnehin schwer gefordert durch kriminelle kurdisch-libanesische Großfamilien, fehlen laut dem BDK-Bezirksvorsitzenden Markus Bergmann bis zu 150 Ermittler.

In Duisburg, ebenfalls ein Clan-Hotspot, fallen jährlich im Schnitt 1500 Verfahren wegen ungeklärter Todesfälle an, die sich in keiner Kriminal- und Personalberechnungsstatistik wiederfinden. „Dazu kommen noch 50 Kommissionen, die Mord und Totschlag bearbeiteten“, erläutert der BDK-Vertreter und Chef des Duisburger Mordkommissariats, Arno Eich. Früher pendelte die Jahresziffer zwischen 25 und 30. „In den großen Städten ist die Zahl der Gewalt- und Tötungsdelikte in den vergangenen 15 Jahren enorm gestiegen, nur der Personalansatz ist derselbe geblieben.“

Überstundenberg in fünfstelliger Höhe

Eine normale Fünf-Tage-Woche sei angesichts dieser Belastung äußerst selten. „Wir schieben hier einen Überstundenberg in fünfstelliger Höhe vor uns her“, sagt Eich. Der Missstand führe dazu, dass die Ermittlungserfolge gerade bei Drogen- oder Bandendelikten spärlich ausfielen. „Im Bereich der Kontrollkriminalität wird man nur fündig, wenn man mit einem hohen Personaleinsatz an die Dinge herangeht, hier bestehen aber eklatante Defizite.“

Als größte der 16 Kriminalhauptstellen des Landes schultert Köln diverse Sonderaufgaben. Dennoch warnt Kripo-Chef Klaus-Stephan Becker vor übertriebener Panikmache. „Den Untergang der Kriminalpolizei sehe ich nicht.“ (siehe Kasten) Noch immer bindet der Kindesmissbrauchskomplex der Ermittlungsgruppe (EG) Berg 50 Ermittler. In der Hochphase der Nachforschungen musste auch die weitaus kleinere Kreispolizeibehörde Aachen nahezu jeden sechsten ihrer 330 Kriminalisten dafür abstellen. „Das war eine echte Hausnummer“, weiß Polizeipräsident Weinspach.

Darüber hinaus gibt es auch noch die Proteste im Rheinischen Braunkohlerevier, die viele Beamte beschäftigen. Seit 2018 musste die Aachener Polizei in diesem Zusammenhang 90 Großeinsätze bewältigen. „Die meisten Delinquenten, die dort eine Straftat begehen“, sagt Kripochef Andreas Bollenbach, „haben keinen Ausweis dabei und erschweren die Feststellung der Personalien, indem sie ihre Fingerkuppen verkleben.“ Insofern zöge so eine Demonstration noch viele weitere Tage Arbeit hinter sich her. „Das macht die Gesamtbelastung aus“, stellt der Leitende Kriminaldirektor fest. Aus diesem Grund hat man in Aachen eine dauerhafte Ermittlungskommission eingerichtet, die sich einzig um den Tagebau kümmert.

Das Innenministerium hat auf die Mehrbelastung reagiert und seit 2017 durch „Sonderzuweisungen“ dem Aachener Staatsschutz 28 Ermittler und 14 Regierungsangestellte zukommen lassen. Ein großer Schluck aus der Pulle, gewiss. Den Beamten vor Ort ist das aber offenbar nicht genug: „Durch die besondere Herausforderung im Bereich Garzweiler“, sagt Kripochef Bollenbach, „gleicht der Zuwachs die Belastungen nicht aus“.

Auch Cybercrime, die Mafia und Cum-Ex machen Arbeit

Aber nicht nur die Lage am Hambacher Wald und im Braunkohletagebau macht immer mehr Arbeit. Zugleich nehmen die Aufgaben auf dem Feld Cybercrime, dem milliardenschweren Steuerbetrug Cum-Ex oder bei der Mafia zu. Vor diesem Hintergrund will Reul jährlich 100 Berufsanfängerinnen und Berufsanfänger mit einschlägiger Vorbildung direkt in speziellen Bereichen der Kriminalpolizei einsetzen. Damit wird er aus Sicht vieler Beamter aber wohl nicht alle personellen Löcher stopfen können.

Und dann sind da noch die Begehrlichkeiten von Reuls Parteifreund Peter Biesenbach. Der Justizminister hat Dutzende Staatsanwälte in neue Schwerpunktabteilungen zur landesweiten Bekämpfung von Terrorismus oder Online-Kriminalität gebündelt. Geht es nach Biesenbach, soll sein Amtskollege Reul die Offensive der Justiz mit einem Mehr an Kriminalbeamten mittragen. Der aber sträubt sich, weil Ressourcen fehlen.

Inzwischen hat die knappe Personalsituation einen Streit zwischen den Ministerien entfacht. Bisheriger Höhepunkt war ein langer Brandbrief Peter Biesenbachs an den CDU-Kollegen Herbert Reul anlässlich eines geplanten Treffens kurz vor Weihnachten. Verärgert über den harschen Ton in dem Schreiben, sagte Reul das Gespräch mit dem Kabinettskollegen über das Kripo-Personal erst mal ab.

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