Abo

Audioaufnahme von EinsatzNeue Erkenntnisse zu Polizeischüssen auf Zwölfjährige

4 min
ARCHIV - 17.11.2025, Nordrhein-Westfalen, Bochum: Eine Frau steht vor einem Mehrfamilienhaus. In einem Mehrfamilienhaus in Bochum ist ein zwölfjähriges Mädchen bei einem Polizeieinsatz durch Schüsse aus einer Dienstwaffe lebensgefährlich verletzt worden. (zu dpa: «Landesregierung informiert über Polizeischuss auf Mädchen») Foto: Christoph Reichwein/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Einsatzort in Bochum

Der Fall um die angeschossene Zwölfjährige wirft weiterhin gravierende Fragen auf. Der Anwalt der Familie widerspricht zentralen Punkten der Polizeiversion.

Zehn Tage nachdem ein Polizist ein zwölfjähriges Mädchen in der mütterlichen Wohnung in Bochum nach einem Messerangriff niedergeschossen hat, bleiben noch viele Fragen zum Tathergang offen. Am Freitagmorgen sollen NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) sowie Familienministerin Josefine Paul (Grüne) den Sachverhalt durch neue Informationen über die tragischen Geschehnisse aufhellen.

Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ schildert den bisher recherchierten Ablauf: Gegen 0.30 Uhr am 17. November klingeln vier Streifenbeamte bei einer Wohnung in Bochum. Die Beamten suchen eine Zwölfjährige. Vermutlich hält sich das Mädchen bei ihrer Mutter auf. Betreuer einer Jugendeinrichtung in Münster haben das Kind als vermisst gemeldet.

Die taubstumme Schülerin ist zuckerkrank, braucht täglich Insulin-Spritzen. Das Familiengericht hat der Mutter das Sorgerecht entzogen. Wie diese Zeitung erfuhr, soll sie nicht darauf geachtet haben, ihre Tochter mit Insulin zu versorgen, so dass die Diabetikerin in einem Fall tagelang in einer Klinik wegen einer lebensbedrohlichen Überzuckerung verbringen musste. Zu dem konkreten Vorfall will sich der Anwalt der Tochter nicht äußern.

Tochter soll mit Messern auf Beamte zugestürmt sein

Am Tag nach der Vermisstenanzeige deuten Hinweise daraufhin, dass die Schülerin zu ihrer Mutter nach Bochum geflohen ist. Zwei Streifenwagen begeben sich zur Wohnadresse. Als niemand die Tür aufmacht, ordern die Einsatzkräfte einen Schlüsseldienst. Plötzlich öffnet die Mutter dann doch. Drei Beamte versuchen ihr klarzumachen, dass sie das Kind zur Jugendeinrichtung zurückbringen wollen, um eine medizinische Versorgung zu gewährleisten. Als die Mutter den Einsatzkräften den Weg versperrt, holen die Beamten sie heraus auf den Treppenflur, halten sie nach eigener Darstellung am Arm fest. Der Dienstgruppenleiter zeigt der serbischstämmigen, ebenfalls gehörlosen Frau, die kaum Deutsch spricht, einen Zettel. Darauf steht, dass der Einsatz nur dem Zweck diene, ihre Tochter abzuholen, um sie in das Heim zurückzubringen. Derweil postiert sich der vierte Kollege im Rahmen der Wohnungstür und schaut sich nach dem gesuchten Mädchen um.

Während sich der Einsatzleiter der Frau zuwendet, soll in seinem Rücken ein Tumult ausgebrochen sein. Plötzlich soll die Tochter mit zwei Küchenmessern in der Hand auf die Beamten zugestürmt sein. Noch ist nicht klar, ob die Zwölfjährige die langen Klingen in einer oder in beiden Händen geführt hat. Der Dienstgruppenleiter zückt sein Elektroimpulsgerät, als sich die Distanz zur Angreiferin bis auf unter drei Metern verringert. „Taser, Taser, Taser“, warnt er seine Kollegen, dann löst er das Impulsgerät aus. Dabei bekommt er nicht mit, dass sein Kollege an der Wohnungstür gleichzeitig einen Schuss abgefeuert hat. Das Projektil trifft das Kind in den Bauch. Getroffen sackt es zu Boden. Im Hintergrund haben zwei weitere Streifenbeamte ebenfalls ihre Waffen in Anschlag gebracht. Sofort leisten die Beamten erste Hilfe, das Mädchen kommt in eine Klinik. Ein Polizeisprecher beschreibt ihren Zustand am Donnerstag als „kritisch aber stabil“.

Bodycams nicht eingeschaltet

Wie sich herausstellt, hat keiner der vier Polizisten seine Bodycam eingeschaltet. „Die Polizisten sind in diesen Einsatz gegangen, um dem Mädchen Zugang zu seinen Medikamenten zu ermöglichen. Es bestand kein Grund, von einer drohenden Gefahr auszugehen. Das ist für den Einsatz der Bodycam in Wohnungen aber Voraussetzung", bekundete Innenminister Reul kürzlich gegenüber der „Rheinischen Post“.

Nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ existiert jedoch ein anderes Beweismittel, das den Tatablauf dokumentieren soll. Während des Einsatzes besteht Funk-Kontakt zur Leitstelle in Bochum. Diese Audioaufnahme könnte weitere Aufschlüsse über die Ereignisse in jener Nacht liefern.

Inzwischen haben zwei Beamte, die im Hintergrund agierten, bereits zum Geschehen ausgesagt. Im Gegensatz zu dem Schützen und seinem Einsatzleiter, der den Taser ausgelöst hat, gelten sie nur als Zeugen. Gegen die anderen beiden Beamten wird ermittelt. Strafverteidiger Michael Emde, der den Einsatzleiter vertritt, sagt auf Anfrage, dass er auf Grund der Schilderungen seines Mandanten keine „strafbare Handlung erkennen kann.“ Nach Informationen dieser Zeitung soll auch der Bruder des Mädchens, der sich ebenfalls in der Wohnung befunden hat, in seiner Aussage die Angaben der Beamten bestätigt haben.

Anwalt widerspricht Darstellung der Polizei

Der Anwalt des angeschossenen Kindes sieht dies anders. Die Darstellung von Polizei und Staatsanwaltschaft sei falsch: „Den Gesundheitszustand konkret als kritisch, aber stabil zu bezeichnen, während meine Mandantin um ihr Leben kämpft und ohne, dass zuvor eine Weitergabe von medizinischen Details an die Behörden erfolgte, schafft auf Seiten der Familie meiner Mandantin jedenfalls kein Vertrauen in eine objektive Ermittlung der Geschehnisse und lässt an der Neutralität der ermittelnden Behörden leider grundlegend zweifeln“, betont Simón Barerra González.

Ferner hätte die Mutter seiner Mandantin den Sachverhalt ganz anders geschildert. „Die Mutter wurde zu Boden gezerrt und mit Handschellen fixiert, obwohl sie keinen Widerstand geleistet hat. Auch gibt es keine Hinweise dafür, dass meine Mandantin die Polizisten mit Messern angreifen wollte.“ Gewiss habe es die Messer gegeben, aber nicht in der Absicht, die Polizisten anzugreifen.