Dennis Radtke (CDU) ist Europaabgeordneter, Vorsitzender der CDA und einer der lautesten Verfechter für eine Brandmauer zur AfD in seiner Partei. Im Interview spricht er über Fettnäpfe der CDU in der Bundesregierung, das Szenario einer AfD-Landesregierung im Osten und darüber, wie seine Partei wieder auf 36 Prozent kommen könnte.
CDA-Chef Dennis Radtke„Sollte sie mit der AfD zusammenarbeiten, dann wäre die CDU kaputt“

Dennis Radtke (CDU), Europaabgeordneter und Bundesvorsitzender der Christlich-Demokratischenim Neven-DuMont-Haus.
Copyright: Alexander Schwaiger
Herr Radtke, Sie haben sich jüngst über die hohe „Fettnapfquote“ der CDU in der Bundesregierung beschwert. Welche Resonanz aus Ihrer Partei haben Sie darauf bekommen?
Sehr unterschiedlich in alle Richtungen. Grundsätzlich gilt das alte Indianer-Sprichwort: Wer die Wahrheit spricht, der braucht ein schnelles Pferd. Meine Kritik wurde leider missdeutet und nur auf Friedrich Merz reduziert. Dabei meinte ich ausdrücklich die Gesamtperformance der Bundesregierung.
Bei Fettnäpfchen kann einem aber schon als Erstes der Kanzler einfallen.
Ich habe mehrere Beispiele genannt. Die Diskussion, bis zu welchem Alter man teure Medikamente bekommen sollte, die Fragen, wann wir wieder russisches Gas kaufen können und ob es nicht sinnvoll wäre, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall abzuschaffen, kamen ausdrücklich nicht von Friedrich Merz.
Wie kann es sein, dass die unbarmherzigsten Vorschläge – Stichwort: keine teure Behandlung mehr für Hundertjährige - derzeit aus Ihrer Partei kommen? Ist das C im Namen kein natürlicher Kompass mehr?
Offensichtlich nicht für jeden. Deshalb müssen wir aufpassen, dass das C nicht zur bloßen Parteitagsfolklore verkommt, wo man schwungvoll mit einer Morgenandacht beginnt und das war es dann mit christlich. Ich reagiere auch sehr allergisch auf Aussagen aus unseren Reihen, dass die Kirchen nur noch rot oder grün blinkten. Wir müssen als christdemokratische Partei nicht direkt alles umsetzen, was eine Kirche fordert. Aber wir müssen als CDU nicht nur „ertragen“, wenn die Kirchen sich zu Wort melden, sondern wir müssen uns ernsthaft damit auseinandersetzen.
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Sie sind Vorsitzender der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), des Sozialflügels der CDU. Der Geist der CDA gehört noch immer zur DNA der nordrhein-westfälischen CDU. Welche Rolle spielt Friedrich Merz dabei, dass das in Berlin anders ist?
Keine große. Früher war die CDA gemeinsam mit der Jungen Union und der Frauen Union die progressive Speerspitze der Partei. Seit den Vorsitzenden Hildegard Müller und Philipp Mißfelder ist die JU eher in eine strategische Partnerschaft mit der Mittelstandsunion eingetreten. Das ist aus meiner Sicht nicht schlimm, aber man muss verstehen, woher bestimmte Veränderungen in der Union kommen. Auch deshalb verweise ich gerne auf die letzte Mitgliederstudie der Konrad-Adenauer-Stiftung. Sie zeigt: Das durchschnittliche CDU-Mitglied steht weiter rechts als der durchschnittliche CDU-Wähler. Und der durchschnittliche CDU-Funktionär steht nochmal weiter rechts als das durchschnittliche Parteimitglied. Das muss man bei Entscheidungen im Hinterkopf haben: Wir sollten Politik für die Wählerinnen und Wähler machen, nicht für die Funktionärselite.
„In NRW sehen wir, welches Potenzial unsere Partei hat“
Wie grenzt sich christdemokratische Sozialpolitik von sozialdemokratischer ab?
Die SPD hat den Anspruch, über staatliche Leistungen ein Rundum-Sorglos-Paket zu schnüren, was nicht funktioniert. Das zeigt sich auch in der Debatte ums Bürgergeld. Natürlich muss es ein soziales Auffangnetz geben. Aber die soziale Frage entscheidet sich daran, ob Arbeiten sich noch lohnt. In immer mehr Familien arbeiten beide Elternteile und kommen trotzdem nicht über die Runden, weil die Mieten unbezahlbar werden, weil Eigentum zur Illusion wird und Energie- wie Lebensmittelkosten durch die Decke gehen. Ich sehe nicht, dass die Bundesregierung diese Fragen klar adressiert. Stattdessen ringen Union und SPD seit einem halben Jahr um eine Bürgergeldreform und zerlegen sich beim Thema Rente.
Welche Signale sollte die Bundesregierung stattdessen senden?
Mietkaufmodelle wären ein starkes Signal. Wie sonst soll ein Normalverdiener in einer Stadt wie Köln die Chance auf Eigentum bekommen? Wenn in Österreich die öffentliche Hand als Bauherr auftritt, ist sie verpflichtet, den Menschen ein Angebot zu machen: Ihr könnt bei uns anstelle von Miete den Kaufpreis abstottern. Oder blicken wir nach Westen zu unseren holländischen Nachbarn: Die bauen mit einem Drittel der Bauvorschriften. Ich kenne einen Architekten, der hat vor zehn Jahren ein Mehrfamilienhaus im Ruhrgebiet nach den höchsten Standards gebaut. Der hat jetzt einmal durchgerechnet, wie teuer derselbe Hausbau heute wäre. Ergebnis: Allein durch den Aufwuchs an Bauvorschriften wären die Baukosten doppelt so hoch. Das ist doch komplett irre.

Interview mit Dennis Radtke (CDU), MdEP und CDA-Bundesvorsitzender im Neven-DuMont-Haus.
Copyright: Alexander Schwaiger
Wie viele Prozentpunkte kostet es, wenn die CDU ihr soziales Gewissen nicht mehr so pflegt wie früher?
Ich halte das Delta zwischen den Zustimmungswerten der CDU auf NRW-Ebene und denen auf Bundesebene für einen guten Gradmesser. Natürlich haben die guten Umfrageergebnisse in NRW auch viel mit dem Landesvorsitzenden und Ministerpräsidenten Hendrik Wüst zu tun und mit dem geräuscharmen Regieren der schwarz-grünen Koalition in Düsseldorf, wo Probleme intern diskutiert und abgeräumt werden. Aber hier sehen wir, welches Potenzial unsere Partei hat.
Das ist aber ein Riesendelta. Die CDU liegt auf Landesebene in Umfragen bei 36 Prozent.
Genau.
Wäre Wüst dann nicht der bessere Kanzler?
Wir haben einen guten Bundeskanzler. Mir ist nicht bekannt, dass wir einen neuen suchen. Unser gemeinsamer Anspruch als CDU sollte sein, dass Friedrich Merz so lange wie möglich keinen Nachfolger braucht.
„Ansonsten leben wir nach den Wahlen in Ostdeutschland in einem anderen Land“
Blicken wir auf ein anderes Bundesland: Wie bröckelig ist die Brandmauer zur AfD angesichts der bevorstehenden Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt, wo die AfD mit weitem Abstand vor der CDU auf Platz eins liegt?
Natürlich ist es im Osten verdammt schwierig, Mehrheiten jenseits der AfD zu organisieren. Aber der AfD beim Einzug in die Staatskanzlei zu helfen, wäre ein historischer Sündenfall. Bürgerlich-christliche Parteien haben sich in Deutschland schon einmal historisch versündigt, weil sie der falschen Partei an die Macht geholfen haben. So etwas darf sich nie wiederholen. Ansonsten werden wir nach den Wahlen in Ostdeutschland 2026 alle in einem anderen Land leben.
Welche Veränderungen würden Bürger in NRW merken, wenn Bundesländer im Osten von der AfD regiert würden?
Im Grundgesetz steht: Die Länder bilden den Bund, nicht umgekehrt. Wenn die AfD eine Landesregierung anführt, betrifft das uns alle. Das beginnt mit dem Rundfunkstaatsvertrag, den die AfD kündigen will. Bei einer absoluten Mehrheit kann die AfD in einem Bundesland zudem über die Zukunft des Landesamts für Verfassungsschutz entscheiden, sie kann Richter und Polizeipräsidenten ernennen, sie würde am Tisch sitzen, wenn die Ministerpräsidenten konferieren und dürfte mitentscheiden – eine Partei, die das ganze System zum Einsturz bringen will. Auch deshalb entscheidet gute Politik der Bundesregierung in Berlin in den nächsten zehn Monaten mit darüber, was aus unserem Land wird.
Das klingt schon sehr nach der Rhetorik der letzten Patrone.
Ich mag den Begriff nicht, weil er von der AfD ausgelegt werden kann, als wäre sie schon fast am Ziel. Das verleiht nur zusätzlichen Schub. Aber ich halte es für essenziell, dass die Bundesregierung jetzt Tritt fasst und damit nicht bis zur nächsten Bundestagswahl wartet. Mir fehlt nämlich die Fantasie, wie unsere Freunde in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern die Stimmung bis zu den Landtagswahlen innerhalb von zehn Monaten rein mit landespolitischen Themen drehen wollen.
2018 hatte Merz angekündigt, er könne die AfD in Umfragen halbieren und die CDU auf 40 Prozent hieven. Wie konnte dieser Plan dermaßen scheitern?
Vielleicht muss man einfach konstatieren, dass es eine Aussage war und kein Plan.
Und wie sähe ein Plan aus?
Wir müssen die Probleme der Menschen, beim Thema Mieten, Energie, Eigentum, Kinderbetreuung, Pflege von Angehörigen lösen. Illegale Migration ist natürlich auch ein Problem, aber das ganze Thema Flucht und Migration ist zur Projektionsfläche geworden für alles, was in unserem Land nicht funktioniert. Das erleben wir auch bei Debatten im Bundestag. Da wird über die Erfolge in der Asylwende gesprochen, darüber, wie sich die Zugangszahlen reduzieren, dass wir besser bei Abschiebungen werden. Und dann stellt sich ein Redner der AfD ans Pult und sagt: Schön und gut. Aber das reicht alles nicht. Diesen Wettbewerb können wir nicht gewinnen.
Wenn ein Beschluss ausschließlich dadurch zustande kommen kann, dass die Falschen zustimmen, dann wird er dadurch falsch.
Dann ist es also egal, ob die Regierung in den Bereichen Kriminalität und Migration liefert?
Nein, aber man muss nicht von morgens bis abends darüber reden. Schauen wir nochmal nach NRW: Nach dem schrecklichen Anschlag in Solingen haben Hendrik Wüst und Innenminister Herbert Reul mit den Grünen – mit den Grünen! – ohne offenen Streit das härteste Sicherheitspaket in der langen Geschichte unseres Landes verabschiedet.
Vor der Abstimmung des Bundestags zur Migration im Januar vertrat Ihr Parteivorsitzender die These: Ein Beschluss wird nicht dadurch falsch, dass die AfD ihm zustimmt. Hatte Friedrich Merz recht?
Diese Strategie ist gründlich in die Hose gegangen. Sie hat einen wesentlichen Beitrag geleistet, dass beim Bundestagswahlergebnis der CDU keine drei vorne stand und die totglaubte Linkspartei ihre Auferstehung feierte. Wenn ein Beschluss ausschließlich dadurch zustande kommen kann, dass die Falschen zustimmen, dann wird er dadurch falsch.
Ihr Vorgänger als CDA-Chef Karl-Josef Laumann soll mal gesagt haben: Wenn die CDU mit der AfD zusammenarbeitet, tritt er aus. Schließen Sie sich dem an?
Die Debatte muss man nicht auf Einzelpersonen reduzieren. Sollte es dazu kommen, würde nicht nur Laumann gehen. Und die CDU wäre kaputt. Die AfD muss nicht die Grünen oder die FDP kaputt machen, um an die Macht zu kommen – sie muss uns kaputt machen. Wir sind der Schlüssel. Und das weiß die AfD auch.
„In Frankreich hat sich die politische Mitte völlig marginalisiert und pulverisiert“
Wie stehen Sie zu einem AfD-Verbotsantrag?
Ich mag die Bezeichnung nicht. Sie erweckt den Eindruck, politische Parteien hätten die Macht, unliebsame Mitbewerber einfach zu verbieten. Aber das stimmt so nicht. Es geht um die Frage, ob man ein Verfassungsorgan – das Bundesverfassungsgericht – bittet, die Verfassungsmäßigkeit der AfD zu prüfen. Eine solche Überprüfung halte ich für notwendig, auch wegen der Einstufungen der AfD durch den Verfassungsschutz.

Interview mit Dennis Radtke (CDU), MdEP und CDA-Bundesvorsitzender im Neven-DuMont-Haus.
Copyright: Alexander Schwaiger
Wer verhindert, dass am Tag nach einem AfD-Verbot eine BfD gegründet wird?
Darum geht es nicht. Natürlich kann es sein, dass direkt eine BfD oder CfD gegründet würde. Die dürfte allerdings dann nicht als Rechtsnachfolgerin der AfD fungieren. Wir können die Idee einer solchen Partei ebenso wenig verbieten wie ihre Wähler. Aber wenn eine mit öffentlichen Geldern finanzierte Partei einen Kampf gegen unseren Rechtsstaat führt, dann darf der Rechtsstaat die Strukturen dieser Partei im Zweifelsfall zerschlagen.
Aber wenn das Verfassungsgericht am Ende sagen würde, es reicht nicht für ein Verbot der AfD, dann wäre das doch für die Antragsteller der Bumerang schlechthin.
Das sehe ich nicht so. Dieses Argument zielt auf die Sorge, die AfD könnte sich zur politischen Märtyrerin stilisieren. Aber das macht sie sowieso, ganz egal, was die anderen Parteien tun. Mit Blick auf die vorige Legislaturperiode hat die AfD behauptet, die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags sei mehrfach zu ihren Lasten gebrochen oder gebogen worden. Tatsächlich gibt es keine einzige erfolgreiche Verfassungsbeschwerde der AfD, in der irgendein Regelverstoß festgestellt worden wäre.
Der Rechtsradikalismus ist kein spezifisch deutsches Phänomen. Ihre Kollegen aus der EVP-Fraktion im Europaparlament haben in ihren Ländern ähnliche Probleme. Welche Lehren ziehen Sie aus dem Umgang Ihrer Schwesterparteien mit rechtsradikalen Parteien?
Einige Beispiele dienen als Abschreckung. In Frankreich hat sich die politische Mitte völlig marginalisiert und pulverisiert, die letzten 15 Jahre waren ein einziger Weg nach rechts. Mein Fraktionskollege François-Xavier Bellamy von den Republikanern hat dem rechtsextremen Politiker Éric Zemmour seine Unterschrift gegeben, um ihm die Teilnahme an der Wahl zu ermöglichen. Als ich das hörte, lief es mir eiskalt den Rücken runter. Zemmour ist ein rechtskräftig verurteilter Holocaust-Leugner. Nach meinem politischen Verständnis sollte kein bürgerlicher Politiker so einem Menschen ermöglichen, sich um dieses Amt zu bewerben. Beim jüngsten Misstrauensvotum gegen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen stimmten unsere französischen Freunde im Europaparlament mit den Leuten von Marine Le Pen gegen von der Leyen. In der Fraktion begründeten sie diesen Schritt mit ihrer Sorge, sie würden andernfalls bei Neuwahlen in Frankreich von Le Pens Partei gegrillt werden. Eine bürgerliche Partei, die so agiert, verschwindet zurecht. Wer eine anti-europäische Politik will, der wählt in Frankreich sowieso nicht die Republikaner, sondern eben Le Pen oder Zemmour.
Wie blicken Ihre Straßburger Fraktionskollegen auf die Brandmauer-Debatte in Deutschland?
Das kommt drauf an, mit wem Sie sprechen – die EVP ist, wie alle Fraktionen, ein ziemlich bunter Haufen. Aber die AfD ist ja so schmuddelig, dass sie nicht einmal in die Patrioten-Fraktion mit Le Pen und der österreichischen FPÖ aufgenommen wurde.
Dennis Radtke (46) sitzt seit 2017 für die CDU im Europäischen Parlament und gehört der Fraktion EVP (Europäische Volkspartei) an. Seit 2024 ist er Chef der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft Deutschlands (CDA). Radtke ist verheiratet, Vater von zwei Kindern und lebt in Bochum.

