„Uns fehlt die Luft zum Atmen“350 Bürgermeister schicken Brandbrief an Ministerpräsident Wüst

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Mitglieder von Mosaik verteilten in jedem Jahr Weihnachtsgechenke an die Kinder in den Flüchtlingsunterkünften. Foto: Uwe Schäfer

Ehrenamtler verteilen Geschenke an Flüchtlingskinder in Köln. Die Gemeinden schlagen Alarm, weil auch die Finanzierung der Unterbringung und Versorgung geflüchteter Menschen nicht geklärt ist.

40 Prozent der Kommunen droht nach Angaben des Städte- und Gemeindebunds im kommenden Jahr die Haushaltssicherung und ihren Bürgern damit drastische Steuererhöhungen.

Den Städten und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen steht das Wasser nach Einschätzung ihrer Bürgermeisterinnen und Bürgermeister bis zum Hals. In einem Brandbrief an Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU), den mehr als 350 von ihnen unterschrieben haben, sehen sie den Fortbestand der kommunalen Selbstverwaltung gefährdet.

„Die Summe an aktuellen Herausforderungen überfordert die Kommunen“, stellte Eckhard Ruthemeyer, Präsident des Städte- und Gemeindebundes NRW, anlässlich der Übersendung des Schreibens fest. „Während die Steuereinnahmen stagnieren und Bund und Land Zuweisungen kürzen, explodieren die Kosten für Sachaufwendungen und Personal sowie die Versorgung von Geflüchteten. Zusätzlich konfrontieren Bund und Land die Städte und Gemeinden mit neuen Aufgaben wie etwa dem Rechtsanspruch auf Ganztag, ohne die nötigen Mittel bereitzustellen“, so Ruthemeyer.

Wir schlittern 2024 ungebremst in die Handlungsunfähigkeit
Eckhard Ruthemeyer, Präsident des Städte- und Gemeindebunds NRW

„Die chronische Unterfinanzierung und die Vielzahl an Krisen nehmen uns die Luft zum Atmen“, sagte der Präsident des kommunalen Spitzenverbandes. „Wenn Bund und Land nicht endlich ein Einsehen haben und die Kommunen so ausstatten, dass sie ihren Aufgaben gerecht werden können, schlittern wir 2024 ungebremst in die Handlungsunfähigkeit“.

Der Brandbrief kam für den Ministerpräsidenten keineswegs überraschend. Der Städte- und Gemeindebund hatte die NRW-Staatskanzlei schon vor zehn Tagen darüber informiert, dass eine entsprechende Unterschriftenaktion mit den Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern vorbereitet werde, in denen es um die schwierige finanzielle Lage der Kommunen gehe und um einen Gesprächstermin gebeten. Hendrik Wüst hat prompt reagiert und noch am Donnerstag (21. September) in Düsseldorf eine Delegation empfangen, um das Schreiben auch persönlich in Empfang zu nehmen.

Städte- und Gemeindebund informiert Wüst vorab über das Protestschreiben

Bei der letzten Präsidiumssitzung des Städte- und Gemeindebunds Ende August sei der Unmut unter den Vertretern der Kommunen über die Vielzahl der Krisen, mit denen sie sich alleingelassen fühlen, offen zutage getreten. Deshalb habe man sich zu dem Schritt entschieden, einen gemeinsamen Hilferuf an das Land zu senden.

Mit der Vorabinformation der Staatskanzlei habe man verhindern wollen, dass Inhalte des Briefs vorab an die Öffentlichkeit durchsickern, sagte ein Sprecher auf Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“. Bei 361 Mitgliedskommunen mit unterschiedlicher parteipolitischer Führung hätte man den Brief eh nicht geheim halten können.

Nach einer aktuellen Umfrage des Städte- und Gemeindebundes NRW gehen aktuell mindestens vier von zehn Kämmereien davon aus, im kommenden Jahr in die Haushaltssicherung gehen zu müssen.

Drastische Steuererhöhungen drohen

„Die Folgen werden unmittelbar vor Ort zu spüren sein“, sagte Ruthemeyer. „Wenn Bund und Land untätig bleiben, bleibt vielen Städten und Gemeinden nichts anderes übrig, als die Hebesätze der Grundsteuer B drastisch anzuheben und freiwillige Leistungen wie den Betrieb von Bädern oder soziale Hilfen zurückzufahren. Das Gesetz verpflichtet sie, einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen.“

Im Schreiben an den Ministerpräsidenten zeigten sich die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister aus NRW über die Entwicklung tief besorgt. Bürgerinnen und Bürgern seien derartige Schritte nicht mehr vermittelbar. Stattdessen drohe das Vertrauen in Staat und Demokratie weiter zu erodieren. Auch die Bereitschaft zu kommunalpolitischem Engagement werde darunter leiden, wenn im Rat nicht mehr gestaltet, sondern nur über Zumutungen entschieden werden könne.

Sofortprogramm für Kommunen gefordert

„Wir appellieren an das Land und den Ministerpräsidenten, den Städten und Gemeinden zur Seite zu stehen und ein Sofortprogramm zur Rettung der kommunalen Handlungsfähigkeit zu unterstützen", so Ruthemeyer.

Die Liste der Überbelastungen, unter denen die NRW-Kommunen stöhnen, ist ellenlang. Sie beginnt mit der Inflation sowie der unklaren Finanzierung der Unterbringung und Versorgung geflüchteter Menschen „ohne erkennbare Aussicht auf Neuordnung des Zuwanderungsgeschehens“.

Weitere Brocken seien der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Primarbereich, bei dem völlig unklar sei, wie dieser bezahlt werden soll, die immer höheren Abgaben der kreisangehörigen Städte und Gemeinden an die Landschaftsverbände, die Pflicht zur Erstellung einer kommunalen Wärmeplanung, steigende Zinsen für Kommunalkredite, die ungeregelte Finanzierung des Deutschlandtickets, die unzureichende finanzielle Beteiligung von Bund und Land an der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen. Unüberschaubar seien auch die Kosten für die Planung und Umsetzung von Maßnahmen zum Klimaschutz.

Die Reaktion der SPD-Opposition im Düsseldorfer Landtag auf den Hilferuf der Kommunen ließ am Donnerstag nicht lange auf sich warten. „Dieser Brief ist das Ergebnis fortwährender Verantwortungslosigkeit von Hendrik Wüst. Wenn 350 Bürgermeister da ihre Unterschrift drunter setzen, dann zeigt das, wie dick die Luft ist“, sagte Fraktionschef Jochen Ott. „Herr Wüst muss endlich aufwachen und den Städten und Gemeinden die Hand reichen. Sonst riskiert er eine kommunale Krise mit unabsehbaren Folgen für das Leben vor Ort. Wenn demnächst flächendeckend Grund- und Gewerbesteuer in NRW erhöht werden müssen, dann werden das Hendrik-Wüst-Steuern sein. Die Notlage ist real, sie lässt sich nicht mehr weglächeln.“

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