17 von 41 Opfern entstammen dem „Petersen-Clan“. Die Angehörigen wollen von dem Missbrauch nichts mitbekommen haben. Ist das glaubhaft?
Missbrauchs-SkandalKamen Mittäter im Fall Lügde unbehelligt davon? Nach wie vor sind viele Fragen offen
Stephan Manke ist Staatssekretär im Innenministerium in Niedersachsen. Am Freitag muss der SPD-Politiker von Hannover nach Düsseldorf reisen. Manke wird im Untersuchungsausschuss zum Kindesmissbrauch in Lügde als Zeuge vernommen. Der Spitzenbeamte soll dazu befragt werden, wie es bei der Aufklärung zu zahlreichen Abstimmungspannen zwischen den Behörden kommen konnte. Aus einem internen Vermerk des damaligen Polizeidirektors von Niedersachsen, Dirk Pejril, geht hervor, dass heiße Spuren zum Teil nicht verfolgt wurden. Die „zeitlichen Verläufe, Bewertungen und Entscheidungen“ seien „nicht nachvollziehbar“, heißt es. Wie konnte es dazu kommen?
Auf dem Campingplatz Eichwald im ostwestfälischen Lügde waren zwischen 2008 und 2018 mindestens 41 Kinder im Alter zwischen vier und 13 Jahren in einem Wohnwagen vergewaltigt worden. Der schwere Missbrauch wurde teilweise gefilmt und weiterverbreitet. Sechs Jahre nach der Festnahme der drei Haupttäter ist die Aufarbeitung noch nicht abgeschlossen. Denn viele Fragen sind bis heute unbeantwortet.
Schlamperei verlängerte Martyrium
Schon während der Gerichtsverhandlungen waren haarsträubende Fehler von Polizei und Jugendämtern ans Licht gekommen, die das Martyrium der Opfer unnötig verlängert hatten, weil Hinweise nicht beachtet und heiße Spuren nicht verfolgt wurden. Dabei kam den Tätern die Lage des Tatorts in Lügde an der Grenze zwischen zwei Bundesländern zugute – denn die Opfer lebten zum Teil im niedersächsischen Northeim. Jugendämter, Polizei und die Staatsanwaltschaft behielten brisante Erkenntnisse teils für sich oder ließen sie liegen. Trotz „deutlicher Hinweise“ seien „Handlungsnotwendigkeiten nicht ausreichend geprüft worden“, musste der niedersächsische Landespolizeipräsident Axel Brockmann bereits einräumen.
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So bleibt auch nach der Verurteilung der drei Haupttäter ein ungutes Gefühl. Wurden alle Täter, Helfer und Mitwisser zur Verantwortung gezogen? Eine Merkwürdigkeit ruft besonders große Zweifel daran hervor.
SPD verlangt „Cold-Case-Verfahren“
Einer der drei Haupttäter von Lügde ist Andreas V.. Zu seinem guten Bekannten auf dem Platz gehörte der Mitcamper, der in den Ermittlungsunterklagen den Aliasnamen „Jan Petersen“ trägt. Er wird als „Großvater“ des „Petersen-Clans“ geführt, der bei den Untersuchungen immer wieder einer Rolle spielte. Denn: Immerhin 17 der 41 Opfer, die V. anvertraut worden waren, stammen aus der Petersen-Familie. Die Angehörigen wollen von dem Missbrauch nichts mitbekommen haben. Ist das wirklich glaubhaft?
Andreas Bialas, Obmann der SPD im Untersuchungsausschuss, hat massive Zweifel. „Wenn 17 von 41 Opfern aus einer Familie kommen, ist es schwer zu glauben, dass die von den Taten nichts gewusst haben will“, sagt der Politiker aus Wuppertal. Bialas befürchtet, dass sich die Ermittler darauf fokussiert haben, die Beweisführung gegen die drei Haupttäter abzudichten. „Das ist ja auch sehr gut gelungen. Aber es gibt Zweifel, ob alle Taten ermittelt werden konnten“, so Bialas. Er erwartet, dass das Landeskriminalamt in Düsseldorf seiner Fachaufsicht nachkommt und auch eine mögliche Verstrickung des Petersen-Clans erneut prüft – zum Beispiel in einem „Cold-Case-Verfahren“.
Ombudsperson könnte Opfern helfen
Auch der Umgang mit den Opfern wirft Fragen auf. Für viele missbrauchte Kinder stellen Gerichtsverfahren eine unerträgliche Belastung dar. Sie sind zum Teil völlig überfordert damit, die Rollenverteilung bei den Verhandlungen zu verstehen. Wenn sie gegen ihre Eltern aussagen sollen, brechen manche unter dem Druck zusammen. In den Unterlagen zum Fall des Opfers „Almut“ heißt es, das Kind erlebe die Vernehmungen als so belastend wie den Missbrauch selbst.
Nach der Katastrophe bei der Duisburger Loveparade hatte das Land NRW einen Ombudsmann bestellt, der sich um die Opfer kümmern sollte. Die SPD fordert, anlog dazu eine Ombudsperson für die Missbrauchs-Opfer zu verpflichten.
Mit diesem Anliegen stößt sie allerdings auf taube Ohren. Christina Schulze Föcking, Vize-Fraktionsvorsitzende der CDU im Landtag, verweist darauf, CDU und Grünen hätten sich bereits im Koalitionsvertrag auf die Bestellung eines Kinderschutzbeauftragten verständigt. Damit werde der Bereich „weiter verstärkt“.
„Kinder brauchen Verfahrens-Lotsen“
Die Kompetenzen des Kinderschutzbeauftragten sind aber ebenso unklar wie der Zeitpunkt, an dem die Stelle eingerichtet wird. „Eine individuelle Begleitung wird so oder so durch eine solche Instanz kaum möglich sein“, kritisiert SPD-Obmann Bialas. „Die Opfer brauchen konkrete Lotsen, die sie durch das System führen. Mit strukturellen Untersuchungen ist ihnen kaum geholfen. So wird erneut eine Chance vertan, den betroffenen Kindern beizustehen.“
Ein Sprecher des NRW-Gesundheitsministeriums räumt ein, für Opfer sei es aufgrund der traumatisierenden Erlebnisse „oft sehr schwer“, an den Verfahren mitzuwirken und die benötigten Informationen zu erhalten. Die Landesbeauftragte für den Opferschutz, Barbara Havliza, sieht bei der Zusammenarbeit der Schnittstellen „durchaus noch Luft nach oben“. In allen Fällen sei „allein das Beste zum Wohle der Betroffenen anzustreben“.
NRW-Familienministerin kann zum Verbleib der Opfer keine Angaben machen
Ein Wunsch, der beim Lügde-Komplex offenbar oft weit von der Realität entfernt ist. Bei der Opferentschädigungen verzögerten bürokratische Hürden die Auszahlung über Jahre. Dazu passt, dass beim Land heute keiner genau weiß, was aus den missbrauchten Kindern geworden ist. Die konkrete Betreuung und Unterstützung der Geschädigten „liege in der Verantwortung der zuständigen kommunalen Behörden vor Ort“, heißt es im NRW-Familienministerium. Man habe „keine abschließenden Erkenntnisse, wie viele Opfer aus den Familien herausgenommen“ worden seien.
Laut Landeskriminalamt ist das Polizeipräsidium in Bielefeld für die weitere Bearbeitung des Lügde-Komplexes zuständig. Sollten im Rahmen der Fachaufsicht weitere Untersuchungen angeordnet werden, müsse dies vom NRW-Innenministerium veranlasst werden, hieß es. NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) hatte stets betont, er verlange ein konsequentes Vorgehen gegen die Täter. Ein Sprecher sagte: „Sollten sich bei den Vernehmungen im Untersuchungsausschuss Hinweise ergeben, dass weitere Ermittlungen notwendig sind, werden wir diese veranlassen.“ Der Untersuchungsausschuss setzt seine Arbeit bis zum Ende der Legislaturperiode im Mai 2027 fort.