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Interview

Sylvia Löhrmann
Israel-Jubiläum –„Unter Freunden muss man auch mal Kritik ansprechen“

Lesezeit 5 Minuten
Sylvia Löhrmann (Bündnis 90/Die Grünen), Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen,  während einer Pressekonferenz in der Staatskanzlei.

Sylvia Löhrmann sagt: „Die Menschen in Deutschland und Israel müssen sich begegnen, damit Vorurteile abgebaut werden können oder bestenfalls gar nicht erst entstehen.“

Die Zerstörung des Gaza-Streifens durch Israel stößt in Deutschland bei vielen auf Unverständnis. NRW-Antisemitismusbeauftragte Löhrmann im Gespräch.

Der Jahrestag fällt in eine Zeit, in der das Verhältnis zwischen Deutschland und Israel nicht ungetrübt ist. Vor 60 Jahren nahmen die Staaten diplomatische Beziehungen auf, die Feierstunden in dieser Woche werden vom Krieg im Nahen Osten überschattet. Am Dienstag hat die Antisemitismusbeauftragte der Landesregierung, Sylvia Löhrmann, eine Ausstellung im Düsseldorfer Landtag mit eröffnet, in der das persönliche Miteinander von Deutschen und Israelis beleuchtet wird. Wie ist der Blick der früheren NRW-Schulministerin auf die aktuelle Lage? Hat sie Verständnis für die Proteste gegen das Vorgehen der israelischen Armee im Gaza-Streifen?  

Frau Löhrmann, seit dem Kriegsbeginn am 7. Oktober 2023 ist der Antisemitismus verstärkt entfacht. Wo endet berechtigte Kritik an israelischer Politik, wo beginnt Antisemitismus?

Sylvia Löhrmann: Antisemitismus beginnt da, wo Juden weltweit in Mithaftung genommen werden für die Politik der israelischen Regierung – und wo die Existenz Israels infrage gestellt wird. Vielfach wird suggeriert, man könne die Politik Israels nicht kritisieren. Aber – mit Verlaub – das ist ja Quatsch. Man braucht nur nach Israel selbst zu schauen, um zu sehen, wie viele Menschen in dort gegen die Politik der eigenen Regierung auf die Straße gehen.

Die Menschenrechtsorganisation „Amnesty International“ wirft Israel einen „Genozid“ an den Palästinensern im Gazastreifen vor. Wie ist Ihre Position dazu?

Der 7. Oktober 2023 war der größte Anschlag auf Jüdinnen und Juden nach der Schoa. Ursache und Wirkung dürfen nicht verwechselt werden. Die Gleichsetzung der Politik Israels mit der des Nationalsozialismus ist auch Antisemitismus. Ich finde es unbegreiflich, die Lage so einseitig zu sehen. Gleichzeitig müssen wir Israel mahnen, das internationale Völkerrecht zu achten.

Nach einer Bertelsmann-Studie halten nur noch 18 Prozent der Deutschen das israelische Vorgehen für richtig. Steht die Freundschaft zwischen Deutschland und Israel vor einer Zerreißprobe?

Richtig gute Freundschaften stehen immer mal vor Zerreißproben, das kennen wir alle aus unserem persönlichen Umfeld. Unter Freunden muss man auch mal Kritik ansprechen. Aber wir müssen diese Zahlen auch sehr ernst nehmen. Sie zeigen uns, dass wir noch mehr Aufklärungsarbeit leisten müssen. Wichtig ist, dass wir Israel nicht immer nur als Krisenstaat oder im Zusammenhang mit der Schoa betrachten.

Israel ist die einzige Demokratie im Nahen Osten, mit einer spannenden und vielfältigen Kultur und Zivilbevölkerung. Die Menschen in Deutschland und Israel müssen sich begegnen, damit Vorurteile abgebaut werden können oder bestenfalls gar nicht erst entstehen.

Woher kommt die derzeitige Zunahme des Antisemitismus?

Ein zentraler Faktor ist die aktuelle Krisenzeit. In Zeiten großer Verunsicherung ist es immer einfach, wenn man einen Schuldigen hat. Die Geschichte zeigt, dass dies nur zu oft Jüdinnen und Juden trifft. Da kommen Rechtsextreme, Verschwörungstheoretiker, Antikolonialisten, Apartheitsgegner und Antikapitalisten zusammen – Gruppen, die sonst gar nichts miteinander gemeinsam haben. Alle eint nur der Hass auf Israel.

Sportjournalist Marcel Reif spricht bei der Eröffnung der Ausstellung „Deutschland. Israel. Einblicke“ im Landtag in Düsseldorf neben Sylvia Löhrmann, Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen.

Sportjournalist Marcel Reif spricht bei der Eröffnung der Ausstellung „Deutschland. Israel. Einblicke“ im Landtag in Düsseldorf. Sylvia Löhrmann hat die Schau mit eröffnet.

Wie groß ist der Antisemitismus, der durch Migration zu uns kommt?

Jede Pauschalisierung verbietet sich. Alle Migranten oder alle Muslime in einen Topf zu werfen ist Teil des Problems und nicht Teil der Lösung. Auch das wäre gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Gleichzeitig verschließen wir nicht die Augen, dass auch Menschen zu uns kommen, die mit antisemitischer Staatspropaganda erzogen wurden. Wir müssen alle Formen des Antisemitismus bekämpfen. Die Lage wird nicht besser, wenn man den einen Antisemitismus für schlimmer erklärt als den anderen. Dann versucht man, das Problem von sich wegzuschieben.

Sie haben sich als NRW-Schulministerin intensiv mit Erinnerungsarbeit beschäftigt. Wie hilfreich ist das für die Ausübung Ihrer neuen Aufgabe?

Ich kann viel von dem, was ich in meinen vielfältigen Tätigkeiten gelernt habe und immer noch lerne, jetzt ehrenamtlich einbringen. Auch als Generalsekretärin des Vereins „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ habe ich viele hilfreiche Kontakte geknüpft. Erinnerungsarbeit ist natürlich ein wichtiger Baustein in der Bekämpfung des Antisemitismus.

„Aufklärung, Bildung und Begegnung. Die Politik kann immer nur den Rahmen setzen, gelebt werden muss es von der Zivilgesellschaft“

Worin sehen Sie den mächtigsten Hebel, um Antisemitismus in NRW zu bekämpfen?

Aufklärung, Bildung und Begegnung. Die Politik kann immer nur den Rahmen setzen, gelebt werden muss es von der Zivilgesellschaft. Die persönliche Begegnung und das persönliche Kennenlernen sind das A und O. Etwas beim interreligiösen Dialog, ebenso der Austausch im Kulturbereich und im Sport. Wir brauchen wieder mehr Brückenbauer.

Derzeit sind Reisen nach Israel ziemlich gefährlich…

Ja, deswegen müssen wir die Menschen zu uns einladen, um die Begegnungen zu ermöglichen. Und das passiert auch. Wenn der Krieg beendet ist, wird es auch wieder viele Begegnungen in und Austausche nach Israel geben.

Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson. Gilt das auch, wenn das Land den humanitären Verpflichtungen nicht gerecht wird? Wo endet die Solidarität?

Solidarität kann nur gelebt werden, wenn sie auch ernst gemeint ist. Darum finde ich es richtig, dass derzeit bei den Feierlichkeiten auch schwierige Themen offen ausgesprochen werden. Das ist ehrlicher, als wenn nur staatstragend formuliert wird.

Halten Sie es für falsch, wenn Schüler an Pro-Palästinensischen Demos teilnehmen?

Was gesellschaftlich kontrovers diskutiert wird, muss auch in der Schule kontrovers diskutiert werden. Wenn sich Schülerinnen und Schüler mit Menschen solidarisieren, die leiden, ist das ja erstmal in Ordnung. Aber es gibt klare Grenzen. Die Staatsgründung Israels war auch eine Antwort auf die Schoa. Das Existenzrecht Israels darf nicht in Frage gestellt werden. Und es ist klar zu unterscheiden zwischen der Terrororganisation Hamas, die das Judentum vernichten will, und dem palästinensischen Volk.


In der Ausstellung „Deutschland. Israel. Einblicke“ im Düsseldorfer Landtag schildern Künstler, Diplomaten, Autoren, Schauspieler und Journalisten aus Deutschland und Israel die Geschichten, die sie mit dem anderen Land verbinden. So berichtet der Sportmoderator Marcel Reif, Sohn eines Holocaust-Überlebenden, wie er den Besuch bei seiner Tante in Tel Aviv erlebte. Reif war in Kaiserslautern groß geworden und hatte sich dafür im Alter von 19-Jahren vor seinen Verwandten rechtfertigen müssen.

Bei der Eröffnung der Schau am Dienstag in erzälte Reif zudem von einem Besuch in der Schule seiner Enkel. „Am Ende habe ich denen gesagt: Niemand wird euch verantwortlich machen dürfen für das, was mal war, aber jeder wird euch verantwortlich machen müssen für das, was mal ist, wenn es wieder passiert.“ Die Ausstellung kann bis zum 6. Juni nach Voranmeldung besichtigt.

Feierstunde im Landtag Am Mittwoch, 14.5., erinnern Landtag, Landesregierung und die israelische Botschaft in einer Feierstunde an die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen des Staates Israel und der Bundesrepublik Deutschland vor 60 Jahren. Neben Landtagspräsident André Kuper wollen auch Ministerpräsident Hendrik Wüst und der israelische Botschafter in Deutschland, Ron Prosor, sprechen.