Raketentreffer nahe Ukraine-GrenzeKiew macht Russland allein für Tote in Polen verantwortlich

Lesezeit 5 Minuten
Die Google-Earth-Luftaufnahme zeigt die Region um den Ort Przewodow in Polen nahe der Grenze zur Ukraine (rechts).

Die Google-Earth-Luftaufnahme zeigt die Region um den Ort Przewodow in Polen nahe der Grenze zur Ukraine (rechts). In dem polnischen Ort sind bei einer Explosion auf einem landwirtschaftlichen Betrieb zwei Menschen ums Leben gekommen.

Am Dienstagabend sind Raketen mehrere Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt in Polen eingeschlagen. Es handelte sich wohl um ukrainische Abwehrgeschosse, Polen wertet die Einschläge nicht als Angriff.

Beim Raketeneinschlag mit zwei Toten im Osten Polens gibt es Hinweise darauf, dass es sich um ein Flugabwehrgeschoss aus der Ukraine handelt. Das teilte US-Präsident Joe Biden am Mittwoch nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur bei einem Krisentreffen mit anderen Staats- und Regierungschefs von Nato- und G7-Staaten auf Bali mit.

Es sei eine Rakete des Systems S-300 eingeschlagen. Das Raketensystem S-300 ist sowjetischer Bauart und wesentlicher Bestandteil der ukrainischen Flugabwehr. Moskau bestritt, Ziele im ukrainisch-polnischen Grenzgebiet beschossen zu haben und sprach von einer gezielten Provokation.

Kiew macht Russland allein für Tote in Polen verantwortlich

Die Ukraine macht Russland für den Tod zweier Menschen in Polen  verantwortlich. „Für die steigenden Risiken in angrenzenden Ländern ist allein Russland verantwortlich“, schrieb der Berater im ukrainischen Präsidentenamt, Mychajlo Podoljak, am Mittwoch auf Twitter.

Alles zum Thema Wolodymyr Selenskyj

Es liege in Europas eigenem Interesse, sich besser zu schützen: „Es ist Zeit für Europa, den Himmel über der Ukraine zu schließen“, sagte er. Russland führt seit Februar einen Angriffskrieg gegen die Ukraine und hatte am Dienstag massiv deren Energiesysteme beschossen.

Raketentreffer: Polen und Nato sehen keine Hinweise auf gezielte Angriffe

Nach den neuen Erkenntnissen machte Polens Präsident Andrzej Duda am Mittwochmittag deutlich, dass Polen den Raketenangriff nicht als gezielten Angriff werte. Es gebe auch keine Beweise dafür, dass die Rakete von Russland abgefeuert worden sei, sondern es handele sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine ukrainische Flugabwehrrakete, sagte Duda in Warschau.

Auch die Nato hat nach Angaben ihres Generalsekretärs Jens Stoltenberg keine Hinweise darauf, dass der Raketeneinschlag in Polens Grenzgebiet zur Ukraine ein vorsätzlicher Angriff war. Nach vorläufigen Analysen sei der Vorfall wahrscheinlich durch eine ukrainische Flugabwehrrakete verursacht worden, die gegen russische Angriffe mit Marschflugkörpern eingesetzt worden sei, sagte Stoltenberg am Mittwoch in Brüssel. Es gebe keine Hinweise, dass Russland offensive militärische Aktionen gegen die Nato vorbereite.

Mindestens eine Rakete schlug in ost-polnischem Dorf ein

Nach polnischen Regierungsangaben schlug eine „Rakete aus russischer Produktion“ im ostpolnischen Dorf Przewodow sechs Kilometer von der Grenze ein. Dabei wurden zwei Menschen auf einem landwirtschaftlichen Betrieb getötet. Polen versetzte einen Teil seiner Streitkräfte in eine höhere Bereitschaft.

Biden erklärte nach dem Krisentreffen öffentlich, es gebe Informationen über die Flugbahn, die einem Abschuss aus Russland entgegenstünden. „Ich werde sicherstellen, dass wir ganz genau herausfinden, was passiert ist“, ergänzte er.

Macron spricht von zwei Einschlägen auf polnischem Boden

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sagte zum Abschluss des G20-Gipfels: „Es sind zwei Geschosse auf polnischem Boden niedergegangen.“ Bislang war in den meisten Berichten nur von einer einzigen Rakete die Rede. Auf die Frage, von wem die Raketen abgefeuert worden seien, antwortete Macron: „Heute können wir das nicht zuordnen. Wir müssen sehr vorsichtig bleiben.“

Kanzler Scholz: Raketenvorfall in Polen sorgfältig aufklären Scholz sagte nach dem G20-Gipfel: „Jede voreilige Festlegung über den Tatsachenverlauf vor seiner sorgfältigen Untersuchung verbietet sich bei einer so ernsten Angelegenheit.“

Die Nachrichtendienste hätten sich ausgetauscht, die USA unterstützten die polnischen Ermittler. Wie andere Staats- und Regierungschefs betonte Scholz, die Ursache des Einschlags dürfe nicht aus dem Blick geraten. Dieser wäre nicht passiert „ohne den russischen Krieg gegen die Ukraine, ohne die Raketen, die jetzt intensiv und in großem Ausmaß auf die ukrainische Infrastruktur verschossen werden“.

Der britische Premierminister Rishi Sunak sagte, die Ukraine setze Raketen ein, um sich „gegen eine illegale und barbarische Angriffsserie Russlands verteidigen“.

Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan forderte Aufklärung. Laut türkischer Kommunikationsdirektion betonte er jedoch auch, er müsse die Aussagen Russlands respektieren, nichts mit dem Einschlag zu tun zu haben. Erdogan hatte sich mehrfach als Vermittler im russischen Krieg in der Ukraine angeboten.

Polens Armee: Luftabwehr kann nicht ganzes Land schützen

Nach Darstellung des polnischen Generalstabs konnte der Einschlag von der Raketenabwehr nicht verhindern werden. Die Aufgabe der Systeme bestehe darin, kritische Infrastrukturen zu schützen. „Keine Armee verfügt über ein Luftabwehrsystem, das das gesamte Territorium eines Landes schützt“, teilte die Armeeführung mit.

Schweden kündigte an, es wolle der Ukraine mit einem neuen Unterstützungspaket einschließlich eines Luftverteidigungssystems unter die Arme greifen. Moskau spricht von gezielter Provokation Das Verteidigungsministerium in Moskau sprach von einer gezielten Provokation. Es seien keine Ziele im ukrainisch-polnischen Grenzgebiet beschossen worden. Auch die in polnischen Medien verbreiteten Fotos angeblicher Trümmerteile hätten nichts mit russischen Waffensystemen zu tun.

Russland hatte die Ukraine am Dienstag nach Kiewer Zählung mit mehr als 90 Raketen und Marschflugkörpern beschossen. Der ehemalige russische Präsident Dmitri Medwedew warnte auf Twitter: „Die Geschichte mit den ukrainischen „Raketenschlägen“ auf eine polnische Farm beweist nur eins: Der Westen erhöht durch seinen hybriden Krieg gegen Russland die Wahrscheinlichkeit für den Beginn des Dritten Weltkriegs.“

Raketeneinschlag in Polen: Nato berät in Brüssel

Ein Sprecher der polnischen Regierung erklärte, man habe mit den Nato-Verbündeten beschlossen, zu überprüfen, ob es Gründe gebe, die Verfahren nach Artikel 4 des Nato-Vertrags einzuleiten. Artikel 4 sieht Beratungen der Nato-Staaten vor, wenn ein Land die Unversehrtheit seines Gebiets, seine politische Unabhängigkeit oder die eigene Sicherheit bedroht sieht. 

Am Mittwochmittag machte aber nach den jüngsten Erkenntnissen Polen deutlich, dass es keine unbedingte Notwendigkeit mehr für das Nato-Verfahren nach Artikel 4 gebe. Die meisten bislang gesammelten Beweise deuteten darauf hin, dass „die Auslösung von Artikel 4 dieses Mal vielleicht nicht notwendig sein wird“, sagte Regierungschef Mateusz Morawiecki am Mittwoch in Warschau bei einer gemeinsamen Erklärung mit Präsident Andrzej Duda.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte zuvor am späten Dienstagabend über den Einschlag in Polen: „Dies ist ein russischer Raketenangriff auf die kollektive Sicherheit!“ Verteidigungsminister Olexij Resnikow pochte vor den neuen Erkenntnissen auf die Einrichtung einer Flugverbotszone.

Durch die gezielten russischen Angriffe auf die Energieversorgung fiel nach Angaben von Selenskyj zeitweise für zehn Millionen Menschen der Strom aus. Für acht Millionen Menschen habe die Versorgung später wieder hergestellt werden können. Der Mittwoch ist für die Ukraine der 266. Tag im Abwehrkampf gegen die russische Invasion.

Hintergrund: Das ist der Artikel 4 der Nato

In Artikel 4 sichern sich die Nato-Staaten „Konsultationen“ in allen Fällen zu, in denen ein Mitglied „seine territoriale Integrität, politische Unabhängigkeit oder Sicherheit“ gefährdet sieht. Daraus gehen aber nicht zwingend gemeinsame Schritte hervor. Die Reaktion der Nato auf den Raketeneinschlag in Polen dürfte stark davon abhängen, ob dieser zufällig oder absichtlich herbeigeführt wurde. (mab/dpa/AFP)

KStA abonnieren