FaktencheckKeine Belege für Merz’ „Sozialtourismus“-Vorwurf gegen Ukrainer

Lesezeit 4 Minuten
Neuer Inhalt (1)

Friedrich Merz bei einer Sitzung des Bundestags.

CDU-Chef Friedrich Merz hat ukrainischen Geflüchteten vorgeworfen, in Deutschland Sozialbetrug zu begehen. Dabei könnte der Unionspolitiker selbst Falschnachrichten weiterverbreitet haben. So haben Faktenchecker am Dienstag keinerlei Belege für Merz’ Anschuldigungen gegen Flüchtlinge aus der Ukraine gefunden. Zwar entschuldigte sich der CDU-Chef schnell für seine Wortwahl, die Gerüchte hat er mit seiner Aussage zum „Sozialtourismus“ aber nur weiter befeuert. Welche Vorwürfe verbreiten sich aktuell im Netz, und was ist dran?

In den sozialen Medien und Messengerdiensten häufen sich aktuell Berichte über Ukrainer, die unberechtigterweise in Deutschland von Hartz IV profitierten und dann zurück in die Ukraine reisten. Laut dem Recherchezentrum Correctiv sind die Behauptungen unbelegt. Es handle sich um ein Gerücht, keine oder wenige Belege sprächen für den Vorwurf des Sozialbetrugs, wie etwa Merz ihn am Montag verbreitete. Allerdings sei die Beschuldigung auch nicht belegbar falsch, so Correctiv.

Flixbus zu angeblichen Pendelfahrten: „keine Auffälligkeiten bekannt“

Laut den Faktencheckern verbreite sich bereits seit Anfang September auf Whatsapp eine Sprachnachricht, in der behauptet wird, Ukrainer würden in Deutschland Sozialbetrug begehen. So kämen ukrainische Bürger mit dem Flixbus nach Deutschland, würden Hartz IV beziehen und sofort wieder in die Ukraine zurückfahren. „Die Ämter“, so heißt es in der Quelle, seien angewiesen, wegzuschauen und den Betrug zu dulden. Begründet wird das Gerücht mit angeblichen Pendelfahrten zwischen Berlin und Kiew.

Tatsächlich gibt es regelmäßige Flixbus-Verbindungen zum Beispiel zwischen Berlin und Kiew. Die sind auch oft ausgebucht. Ein Sozialbetrug lasse sich damit allerdings nicht belegen, so die Faktenchecker von Correctiv. Flixbus habe dem Recherchezentrum mitgeteilt, dass die Zahl der Reisenden aus der Ukraine im August sogar zurückgegangen sei. Zum Vorwurf etwaiger Pendelfahrten von Ukrainern seien „diesbezüglich keine Auffälligkeiten bekannt“, zitiert Correctiv das Busunternehmen.

Kein Hartz IV ohne Meldeadresse

Um in Deutschland Hartz IV zu beantragen, muss prinzipiell eine gültige Meldeadresse vorhanden sein. Laut Arbeitsagentur fielen Betrugsfälle demnach schnell auf: „Sollten Menschen Hartz IV in Deutschland beantragen, sich aber nicht im Land aufhalten oder hier keine Meldeadresse haben, falle dies zum Beispiel dadurch auf, dass den Menschen keine Post zugestellt werden könne“, wird ein Sprecher zitiert. Die Zahlung von Leistungen werde auch eingestellt, wenn man feststelle, dass Menschen nicht vor Ort seien.

Laut Bundesarbeitsministerium seien auch die Vorwürfe, die „Ämter“ würden bei fehlenden Meldeadressen wegsehen, unwahr. Nach Angaben von Correctiv seien dem Ministerium auch keine „Pendelfahrten“ bekannt.

Mehr als halbe Million Ukrainer beziehen Hartz IV

Derzeit erhalten laut Bundesagentur für Arbeit (BA) etwa 546.000 ukrainische Staatsangehörige in Deutschland die Grundsicherung für Arbeitsuchende (ALG II). Das teilte die Arbeitsagentur dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) am Dienstag auf Anfrage mit. Darunter waren laut den vorläufigen Zahlen der Arbeitsagentur 355.000 Menschen im erwerbsfähigen Alter und 191.000 Kinder und andere nicht erwerbsfähige Leistungsberechtigte. Bei den Werten handele es sich um Schätzungen auf dem Stand von August, sagte eine BA-Sprecherin dem RND. „Gegenüber Februar 2022 zeigen sich deutliche Anstiege.“

Das könnte Sie auch interessieren:

Insgesamt sind derzeit in Deutschland 997.000 ukrainische Geflüchtete im Ausländerzentralregister erfasst, teilte das Bundesinnenministerium auf RND-Anfrage mit. Ein Teil davon könne weiter- oder zurückgereist sein, was sich im Schengen-Raum allerdings zahlenmäßig kaum erfassen lasse, sagte ein Ministeriumssprecher dem RND.

Auch die Gesamtzahl, wie viele der Leistungsempfänger mit ukrainischem Pass sich bei ihrem Arbeitsvermittler zeitweise aus Deutschland abmelden, werde nicht zentral erhoben, erklärte die Agentur. „Wir erfassen nicht statistisch, wie viele Personen eine Ortsabwesenheit beantragt haben.“

Daten zur Grundsicherung weiter unklar

Die Arbeitsagentur betonte, dass Aussagen zur Zahl der Ukrainer in Grundsicherung „weiterhin nur eingeschränkt möglich“ seien. Das liege daran, dass Zahlen dazu erst nach drei Monaten veröffentlicht werden, weil es nachträglich noch zu Bewilligungen und Aufhebungen komme.

Die vorläufigen Werte stellen laut BA eine Schätzung zur Zahl der Ukrainer dar, deren Antrag auf Grundsicherung bis zum 11. August bewilligt wurde – zu denen aber jene hinzukommen, die zwar in den Jobcentern als erwerbsfähig gemeldet sind und Grundsicherung beantragt hätten, aber noch keine Bewilligung erhalten haben. „Die Daten werden sich daher noch rückwirkend ändern“, betonte die Sprecherin.

Correctiv ist ein unabhängiges und spendenfinanziertes Recherchezentrum mit Sitz in Berlin, das sich vor allem dem Faktencheck widmet. Ein Team aus Journalisten überprüft sich im Netz verbreitende Gerüchte und Vorwürfe auf deren Wahrheitsgehalt und legt seine Ergebnisse transparent offen. Bekannt geworden ist Correctiv auch für eigene Investigativrecherchen wie zum Cum-ex-Steuerskandal und der Aufdeckung der AfD-Spendenaffäre. (RND/hyd/sgey)

KStA abonnieren