Geflüchtete aus UkraineWie Polen über Nacht zum Land der offenen Arme wurde

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Polen Flucht Ukraine

Besonders Frauen und Kinder flüchten aus der Ukraine und erreichen Polen.

  • Kein Land nimmt so viele Geflüchtete aus der Ukraine auf wie Polen. Rund 2,1 Millionen Menschen sind bereits vor dem Krieg ins Nachbarland geflohen.
  • In die beispiellose Hilfsbereitschaft mischt sich Angst – auch davor, dass Polen das nächste Opfer Putins werden könnte.
  • In die beispiellose Hilfsbereitschaft mischt sich Angst – auch davor, dass Polen das nächste Opfer Putins werden könnte.

Warschau/Przemysl – In den stuckverzierten Konferenzräumen des Hotels „Maria“ fahren ukrainische Kinder mit Bobbycars über den Parkettboden, nebenan sind Stühle und Tafel für den Schulunterricht aufgebaut. Im „Silver Saloon“ im Western-Stil wird gerade das Mittagessen durch die hölzernen Schwingtüren angeliefert. Auf dem Hof verfolgen Kindergruppen einen weißen Lastwagen, der neue Hilfsgüter bringt.

Nebenan im marmorverzierten Veranstaltungssaal bauen Arbeiter gerade die Stühle vom Solidaritätskonzert für die Ukraine von gestern Abend ab. Und hinten auf der Weide spielen Kinder Seilhüpfen, daneben grasen zwei Esel. Rund 500 Geflüchtete aus der Ukraine wohnen zurzeit im weitläufigen Hotelkomplex am Rand der niederschlesischen Industriestadt Walbrzych (Waldenburg) im Südwesten Polens.

Bereits mehr als 2,1 Millionen Geflüchtete in Polen

Mehr als 700 Menschen beherbergt die Hoteliersfamilie, der noch zwei Häuser in den Nachbarorten gehören, insgesamt. Kostenlos, privat und zurzeit ohne jede staatliche Unterstützung. Inhaberin Dorota Baranska und ihre Schwester Violetta Mercik, die das Hotel „Maria Helena“ im Nachbarort Szczawno-Zdrój (Bad Salzbrunn) führt, haben die Türen weit geöffnet für die Familien aus der Ukraine. „Es sind doch unsere Nachbarn“, sagt Violetta Mercik, „da können wir nicht Nein sagen.“

Rund 2,1 Millionen Geflüchtete aus der Ukraine sind in den vergangenen vier Wochen in Polen angekommen, in einem Land von 38 Millionen Einwohnern. Vier Millionen könnten es nach einer Schätzung des UN-Flüchtlingshilfswerks noch werden. Sie kommen in ein Land, das sich Geflüchteten in den vergangenen Jahren so weit wie möglich verschloss.

Es ist erst ein halbes Jahr her, da ließ die nationalkonservative Regierung an der Grenze zu Belarus Zehntausende Polizisten, Grenztruppen und Militär aufmarschieren, um den Ansturm von Flüchtenden aus dem Nahen Osten zu stoppen, die über Minsk nach Deutschland wollten.

Polen wurde über Nacht zum Land der offenen Arme

Quasi über Nacht ist Polen nun ein Land der offenen Arme geworden. Nur eines ist geblieben: Die Regierung in Warschau hat weder Pläne noch Ressourcen, sich um diesen neuen Ansturm zu kümmern. Die Registrierung der Geflüchteten läuft an, sie bekommen Zugang zum Sozialsystem, zu Schulen und Kindergärten. Wer privat Menschen aus der Ukraine aufnimmt, kann umgerechnet 250 Euro staatliche Unterstützung pro Monat beantragen, limitiert auf zwei Monate. Das war es dann auch bereits.

Es sind – überall im Land – private Hilfsorganisationen, lokale Netzwerke, Millionen von Polinnen und Polen wie die Schwestern Baranska und Mercik, die die Hauptlast dieses beispiellosen Ansturms von Kriegsflüchtenden tragen. Es gäbe einen Spruch im Land, twitterte der frühere US-Botschafter in Warschau, Daniel Fried in diesen Tagen: „Polen ist jetzt Hilfsorganisation der Welt“. Noch richtiger wäre: Die Polinnen und Polen sind es.

Notlager Przemysl

Geflüchtete in einem Notlager im polnischen Przemysl

Dutzende von Helferinnen und Helfern aus dem Ort gehen im „Hotel Maria“ ein und aus. Es helfen auch die Firmen aus dem benachbarten Gewerbegebiet, das von einem riesigen Toyota-Getriebewerk dominiert wird. Und die Schwestern sind auch im Ausland gut vernetzt. Das ostwestfälischen Unternehmen Großewinkelmann schickte vier Transporter mit Hilfsgütern, demnächst wollen die Männer wiederkommen, um einen Spielplatz im Hof des Hotels „Maria“ zu bauen. „Wir organisieren gerade die nächste Tour“, sagt Waldemar Walczyk am Telefon, der aus Walbrzych stammt und nun in Ostwestfalen lebt.

Beeindruckt von der Gastfreundschaft

„Ich bin überglücklich und extrem beeindruckt von der Gastfreundschaft der Menschen hier“, sagt Marta Medjakowska in einer ruhigen Ecke des „Maria“. Mit ihren vier jüngsten Kindern ist die Sozialarbeiterin in Walbrzych untergekommen, ihr Mann und ihr ältester Sohn sind noch zu Hause in Lviv (Lemberg). Auch Medjakowska wollte nicht weg. Lviv in der Westukraine schien sicher genug. Sie half Kindergruppen aus den Kampfgebieten, das Land zu verlassen, bis eine polnische Kollegin ihr sagte: „Du musst an dich denken und an deine Kinder. Ihr müsst euch in Sicherheit bringen.“

„Die Polen sind so freundlich, so geduldig“, sagt Medjakowska, „es ist sicher nicht einfach mit uns, wir haben so viele Fragen, viele von uns haben so viel verloren.“ Dann stockt ihre Stimme, Tränen schießen ihr in die Augen. Violetta Mercik nimmt sie in den Arm, auch ihre Augen werden feucht. Für einen kurzen Moment schweigen beide Frauen, die Ukrainerin und die Polin.

„Ich könnte den ganzen Tag heulen“

„Ich könnte den ganzen Tag heulen“, sagt Violetta Mercik dann leise. „Niemand weiß, wie es weitergeht.“ Niemand weiß, wie viele Menschen aus der Ukraine noch Zuflucht in Polen suchen. Niemand weiß, wie weit Putin zu gehen bereit ist. Wie nah der Krieg noch kommen kann. „Die Polen verstehen uns. Polen kann uns zu einem zweiten Zuhause werden“, sagt Marta Medjakowska, und sie meint damit nicht nur die Sprachen und die Kulturen, die sich nah sind. Sie meint auch die Geschichte, die gemeinsamen Erfahrungen der Länder im Ostblock.

„Polen wissen, wie es sich anfühlt, das Opfer zu sein“, sagt sie. Weiter nach Westen drängt es keine der Bewohnerinnen des „Hotel Maria“. Die meisten wollen so schnell wie möglich zurück – oder bleiben, erst einmal in der neuen Gemeinschaft der Hotels und dann zumindest in Polen.

Doch wie lange geht das gut? Wie lange kann das Land diesem Ansturm gerecht werden? Allein 100.000 Kinder aus der Ukraine sind in der Hauptstadt Warschau angekommen, schätzt Bürgermeister Rafal Trzaskowski. Die Kitas und Schulen sind bereits überfüllt. Gehört es zu Putins perfidem Plan, die Nachbarländer der Ukraine durch Geflüchtete seines Krieges gegen die ukrainische Zivilbevölkerung zu destabilisieren, zu überfordern?

Russland versuche, über eine negative Social-Media-Kampagne die polnische Solidarität mit den Geflüchteten aus der Ukraine zu unterminieren, teilte Stanislaw Zaryn, Pressesprecher des Geheimdienstkoordinators der Regierung, Anfang der Woche mit. Desinformation und Fake News sollten dazu beitragen, Spannungen zu verstärken und Übergriffe gegen Geflüchtete zu provozieren.

Polen hat Rückendeckung der USA

Der russische Premier Dimitri Medwedjew veröffentlichte gerade eine längere Tirade mit dem Titel „Über Polen“. Darin heißt es: „Jetzt wurden die Interessen der Bürger Polens der Russophobie dieser mittelmäßigen Politiker und ihrer Puppenspieler von jenseits des Ozeans mit deutlichen Anzeichen senilen Wahnsinns geopfert.“ Mit dem „Puppenspieler“ ist US-Präsident Joe Biden gemeint, dessen Besuch am Freitag und Samstag sehnlichst erwartet wird.

Die USA gelten als der verlässlichste Verbündete Warschaus, was militärische Unterstützung und Waffenlieferungen an die Ukraine über die ostpolnische Drehscheibe Rzeszów angeht. Bidens Ankündigung, jeden Zentimeter Nato-Bodens zu verteidigen, beruhigt etwas. Die Deutschen seien weniger zuverlässig als die USA, was Zusagen für die Lieferung von Defensivwaffen für die Ukraine angehe, sagte der Sprecher des Außenministeriums gerade im WDR-Radio.

Doch er betonte auch die erhöhte diplomatische Bedeutung des „Weimarer Dreiecks“ aus Deutschland, Frankreich und Polen.

Streit mit Brüssel wirkt begraben

Das ist neu - von Weimar war in Polen in den vergangenen Jahren weniger die Rede. Zusammen mit Ungarn stemmte sich die nationalkonservativen Regierung von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki gegen Brüssel, gegen den Rechtsstaatsmechanismus, gegen die Deutschen.

Noch im Herbst hofierte Morawiecki die französische Rechtspopulistin Marine Le Pen und den ungarischen Premier Viktor Orbán in Warschau. Von diesen Allianzen will heute niemand mehr etwas wissen. In polnischen Boulevardmedien wird der Ungar, der sich kommende Woche zur Wiederwahl stellen muss, bereits als „Trojanisches Pferd Russlands“ bezeichnet.

Eigentlich, so sagen es Beobachter in Warschau, müsste Polen nun auf die faire europäische Verteilung der Geflüchteten drängen, wie sie auch die deutsche Bundesinnenministerin Nancy Faeser gerade gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) gefordert hat. Zunächst beschränkt man sich auf neue Sonderzüge von Wroclaw ins deutsche Cottbus und auf die Hoffnung, dass Biden bei seinem Besuch Millionenhilfen der USA ankündigt.

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„Kein Land kann auf Dauer so viele zusätzliche Menschen beherbergen“, sagt auch Marta Medjakowska im Hotel „Maria“. Niemand wisse, was im Sommer sein wird. Ob dann noch Krieg herrscht. Ob sie zurückkönnen, ob sie weiterziehen müssen. Auch bei den Gastgebern mischt sich ganz reale Angst in die Hilfsbereitschaft. Und sie lässt sich nicht nur überdecken dadurch, dass Millionen Menschen wie Violetta Mercik täglich Essen kochen, Spenden sammeln, Wohnungen organisieren, Schul- und Kitaplätze suchen. Sie haben auch im Hinterkopf, dass sie damit auf ihre Weise die Ukraine unterstützen – und damit auch Polen schützen.

„Wenn wir uns hier gut um die Frauen und Kinder kümmern, können die Männer in der Ukraine besser kämpfen“, sagt Violetta Mercik. Und wenn Putins Truppen in Kiew scheitern, können sie auch nicht nach Warschau und Walbrzych vordringen.

Dann muss sie weiter - im „Maria Helena“ das Mittagessen vorbereiten. Und der normale Hotelbetrieb läuft parallel ja auch noch weiter. „Unsere Flüchtlinge dort sind wie eine große Familie geworden“, sagt sie. Sie halten sich aneinander fest, Ukrainerinnen aus Mariupol, Kiew und Lviv. Und ihre polnischen Gastgeberinnen auch.

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