Kritik an LieferdienstDroht „Gorillas“ ein „wilder Streik“?

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Gorillas DPA Streik 081121

Im Sommer 2021 protestieren Gorillas-Mitarbeiter gegen das Unternehmen.

Berlin – An deutlichen Worten mangelte es im Berliner Arbeitsgericht nicht: „In Deutschland sind seit 60 Jahren die Gewerkschaften dazu berufen, Arbeitsbedingungen zu verbessern“, betonte Richter Thomas Kühn gleich mehrfach. Nach Klagen von gekündigten Mitarbeitern des Lieferdienstes Gorillas muss er nun womöglich entscheiden, ob Arbeitskämpfe auch ohne Gewerkschaften – und damit wilde Streiks – erlaubt sind.

Dabei ist die Rechtssprechung seit den 1950er Jahren auf den ersten Blick eindeutig: Nur von Gewerkschaften getragene Arbeitskämpfe sind rechtlich geschützt, andernfalls drohen Beschäftigten Abmahnungen, Kündigungen und Schadensersatzforderungen. Und bei Gorillas hatte im Sommer keine große Gewerkschaft zum Arbeitskampf aufgerufen, sondern ein loser Zusammenschluss der Kurierfahrer. Das „Gorillas Workers Collective“ mobilisierte zu Streiks, Lagerhausblockaden und Demonstrationen. Im Herbst setzte Gorillas Medienberichten zufolge etwa 250 Mitarbeiter vor die Tür.

Gorillas: Dutzende Klagen gegen Kündigungen von Fahrern

Gegen die Kündigungen laufen nun dutzende Klagen vor Arbeitsgerichten, am Montag wurden erstmals eine gekündigte Fahrerin und das Unternehmen angehört. Dabei sieht sich Gorillas im Recht: Den Anwälten des Unternehmens zufolge hatte die Klägerin mehrere Tage lang die Arbeit niedergelegt, kehrte trotz Aufforderungen von Vorgesetzten nicht an den Arbeitsplatz zurück. Die Kündigung zurücknehmen will man deshalb nicht.

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Für Benedikt Hopmann ist die Lage indes weit weniger eindeutig – mit derartigen Fällen hat der Arbeitsrechtler Erfahrung: Er brachte seinerzeit den Prozess um die wegen eines entwendeten Pfandbons gekündigte Kassiererin Emmely bis vor das Bundesarbeitsgericht, erzwang schlussendliche ihre Wiedereinstellung. „Das sind die prekärsten Arbeitsverhältnisse, die man sich vorstellen kann“, so Hoppmann über die Situation Gorillas-Angestellten.

Dem würden die „Rider“, wie sich die Kuriere häufig nennen, wohl kaum widersprechen. Gorillas punktet mit dem Versprechen, binnen zehn Minuten Lebensmittel und andere Supermarktprodukte an die Haustür zu liefern. Bestellt wird per App, geliefert per Fahrrad – von Kurieren, die zuletzt unter anderem unzureichende Diensträder, zu schwere Rucksäcke, unpünktlich gezahlte Gehälter und unverhältnismäßige Befristungen bemängelten. Einen wilden Streik machen solche Kritikpunkte nicht legal, das weiß auch Hopmann. Doch wie er dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) erklärte, geht es ihm darum, dass der Streik ohne Gewerkschaft entlang von EU-Vorgaben womöglich erlaubt gewesen sein könnte: „Sowohl die Europäische Sozialcharta als auch die Konventionen der internationalen Arbeitsorganisation enthalten ein weiter gefasstes Streikrecht“, so der Anwalt. „An dieser Stelle widerspricht deutsches Recht internationalem Recht.“

Hopmann betont, dass die Beschäftigten durchaus verhandlungsbereit waren, zudem sei die Belegschaft sehr international und mit dem deutschen Arbeitsrecht nicht vertraut: „Es gibt Situationen, in denen Gewerkschaften nicht zum Streik aufrufen können. Da ist es gut, wenn die Belegschaften selber protestieren.“

Gericht hinterfragt Zurückhaltung von Verdi & Co.

Richter Kühn, der schon zu Beginn auf die Zuständigkeit von Gewerkschaften für Streiks verwiesen hatte, nahm derartige Argumente allerdings verhalten auf. Fraglich ist aus seiner Sicht vor allem, warum klassische Gewerkschaften sich des Konflikts zwischen Gorillas und den Fahrern nicht angenommen haben. Verdi hatte den Ridern laut Medienberichten zuletzt attestiert, auch wegen Sprachbarrieren schwer organisierbar zu sein – zugleich aber zum Eintritt in die Gewerkschaft aufgerufen. Ob Hopmann mit seiner Argumentation Erfolg hat, bleibt daher abzuwarten. Richter Kühn zeigte jedenfalls wenig Interesse, das in der Sozialpartnerschaft verankerte Arbeitskampfrecht auf den Kopf zu stellen. Räumte aber ein, dass jetzt womöglich höhere Instanzen gefragt sind: „Es kann sein, dass all das erst in Straßburg entschieden wird“.

Abseits der Grundsatzfragen ist offen, wie hart die Arbeitskämpfe Gorillas überhaupt getroffen haben: Das 2020 gegründete Unternehmen ist mittlerweile in 20 Städten aktiv und laut Investoren etwa 1,8 Milliarden Euro wert. Die Bewertung nach der jüngsten Finanzierungsrunde ist niedriger, als Analysten erwartet hatten – aber mit Delivery Hero zählt nun auch ein Dax-Konzern zu den Eignern.

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