Leihmutter aus der UkraineWunder im Bombenhagel: die Zwillinge aus dem Krieg

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Leihmütter in der Ukraine bringen Babys für Eltern im Westen zur Welt (Symbolbild). 

  • Kristina und Alexander Beyer aus Münster sind zurück aus der Ukraine – mit Zwillingen, die eine Leihmutter für sie auf die Welt gebracht hat.
  • Die Babys aus dem umkämpften Land zu bekommen glich einem Abenteuer.

Münster – An den Luftalarm haben sie sich schnell gewöhnt. „Es klingt komisch“, sagt Kristina Beyer. „Aber man bekommt immer mehr Vertrauen, dass schon nichts passiert.“ Es ist nichts passiert. Jedenfalls nicht ihnen.

Vor Luftalarm muss sich die 36-jährige Kristina Beyer nicht mehr fürchten. Die Frau mit den dunkelblonden Haaren, ein Teil davon locker zum Dutt zusammengebunden, sitzt mit ihrem ein Jahr jüngeren Mann Alexander auf dem Balkon ihrer Dreizimmerwohnung in Münster, beide haben jeweils ein Baby im Arm. Sie erzählen davon, wie die Zwillinge geboren wurden, in der Ukraine, durch eine andere Frau. Eine Leihmutter, die sie dafür bezahlt haben.

Krieg hat Geschäft mit den Babys durcheinandergebracht

Schon viele andere haben das vor ihnen gemacht. Geschätzt 2000 Leihmutterschaftsgeburten gibt es jedes Jahr in der Ukraine. Genaue Zahlen fehlen. Doch der Krieg hat auch das Geschäft mit den Babys durcheinandergebracht. Alina und Maria, die Zwillinge, die Kristina und Alexander Beyer, die in Wirklichkeit anders heißen (Namen sind der Redaktion bekannt), nun in den Armen halten, gehören zu den Kriegsbabys, die dennoch dort zur Welt gekommen sind.

Wann sie verstehen werden, dass sie im Kriegsland geboren wurden? Im Bauch einer anderen Frau aufgewachsen sind? Noch sind sie zu jung dafür, doch der Moment wird kommen. Das wissen auch Kristina und Alexander Beyer.

Ein Fläschchen mit Milch liegt auf dem Balkontisch, zu dem Kristina Beyer immer wieder greift, um es Alina zu geben. Sie ist durstig, ist unruhiger als Schwester Maria, die entspannt auf dem Schoß des Vaters Alexander Beyer liegt. Neugierig blickt sie mit ihren wachsamen, blauen Augen umher. „Schon jetzt sind ihre unterschiedlichen Charaktere sichtbar“, sagt Kristina Beyer. Sie klingt stolz.

Der Kontakt mit der Leihmutter besteht weiterhin

Als sie mit den Babys aus der Ukraine zurückkamen, wollte sie sie all ihren Freunden zeigen, sagt Kristina Beyer. „Aber viele haben uns erst mal in Ruhe gelassen.“ Nach und nach sei der Besuch doch gekommen. „Zwei bis drei Freunde fanden das mit der Leihmutterschaft nicht so toll, da wird die Freundschaft schon etwas auf die Probe gestellt“, sagt Alexander Beyer.

Sie wissen um die Kritiker. Die Leihmutterschaft Ausbeutung nennen, die von den armen Frauen reden, von Kinderhandel. Und dies auch noch mitten im Krieg. Aber für Natalia, ihre Leihmutter, sei es eine freie Entscheidung gewesen, sagt Alexander Beyer. Deswegen war ihnen auch so wichtig, dass sie von Anfang an mit ihr Kontakt hatten. Und auch nach der Geburt weiter haben. „Fast jeden Tag chatten sie noch“, sagt Kristina Beyer. Aber nicht mehr im Minutentakt.

Der Krieg veränderte alles

Dieses Mal blickt sie nicht ständig auf ihr Handy, anders als im März, bei einem ersten Treffen in Münster, über das das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) damals berichtete. Damals war die Ungewissheit noch viel größer, die Beyers saßen an diesem Tag ebenfalls auf dem Balkon, kurz vor ihrer Reise in die Ukraine. Ständig klingelte eines der Smartphones. Es war die hochschwangere Natalia, oder die Leihmutterschaftsagentur, oder die Bank. Kristina Beyer war immer in Erwartung schlimmer Nachrichten.

Die Ängste liegen nun hinter ihnen. Dass alles gut gegangen ist, sagen sie, grenzt für Kristina und Alexander Beyer noch immer an ein Wunder. Als die beiden sich für die Leihmutterschaft entschieden hatten, rechneten sie nicht mit einem Angriff Putins auf das Land. Als im Februar der Krieg ausbrach, wurden die Monate danach zur Belastungsprobe. Für sie in Deutschland, aber auch für Natalia, die ihre Babys da schon im Bauch trug.

Jeden Tag Luftalarm

Anfang April, rund einen Monat vor der Geburt, machte sich das Paar, das bereits eine vierjährige Tochter hat, auf den Weg in die slowakische Stadt Kosice. Mit einem Bulli, vollgepackt mit Windeln, Babymilch, keimfreiem Wasser. Knapp 100 Kilometer liegen zwischen Kosice und der ukrainischen Stadt Uschgorod, wo Natalia auf die Geburt wartete, und eine Grenze, die Kriegsland von Nichtkriegsland trennt.

„Das erste Mal seit Kriegsbeginn in die Ukraine zu fahren war aufregend“, sagt Kristina Beyer. Sie waren vor dem Krieg mehrere Male dort, um Natalia zu besuchen. Doch jetzt war alles anders. „Wir wussten nicht, was passiert, was wir machen müssen, wenn es Luftalarm gibt“, sagt Kristina. Und den gab es häufig. „Fast jeden Tag“, sagt Kristina Beyer. Sie lernten, damit umzugehen.

„Sie hat ihren eigenen Kopf“

Während es Berichte über andere Wunscheltern gab, die ihre Leihmütter und Neugeborenen im Stich ließen, aus Angst, ins Kriegsgebiet zu reisen, war das für Kristina und Alexander Beyer keine Option. Mehrere Male besuchten sie Natalia vor der Geburt in ihrer Unterkunft in Uschgorod in einem Hotelzimmer, das sie für sie gebucht hatten. Denn Natalia kommt eigentlich aus Dnipro, im Osten der Ukraine, wo sie mit ihrem Partner und ihren eigenen zwei Söhnen lebt.

Die Babys für Kristina und Alexander Beyer sollte sie ursprünglich in Kiew, wo die Leihmutterschaftsagentur ihren Sitz hatte, auf die Welt bringen. Der Krieg veränderte alles. Zweimal musste sie flüchten, erst nach Lwiw, dann nach Uschgorod. Sie musste sie schweren Herzens in Kiew zurücklassen, wie Kristina Beyer bereits im März erzählte. Etwas, das Natalia ganz gut charakterisiert, findet sie. „Sie hat ihren eigenen Kopf.“

450 US-Dollar im Monat und 25 .000 US-Dollar nach der Geburt

Dann, Ende April, kam die Nachricht: Natalia liegt in den Wehen. Im Krankenhaus ging Kristina Beyer direkt mit in den Kreißsaal, Alexander Beyer wartete in einem Krankenhauszimmer. Er habe Angst gehabt, sagt er. Denn als ihre Tochter Lisa 2018 auf die Welt gekommen war, hatte es Probleme gegeben. In einer Notoperation musste Kristina Beyer die Gebärmutter entfernt werden. Dreieinhalb Jahre später nun sollte der Wunsch nach weiteren Kindern in Erfüllung gehen. In diesem ukrainischen Kreißsaal. Durch Natalia, die ihnen gleich zwei Kinder schenken sollte.

Natürlich nicht einfach so. 450 US-Dollar zahlten sie im Monat an die Leihmutter, und außerdem 25.000 Dollar nach der Geburt, sagt Alexander Beyer. Dazu kamen Kosten für die Agentur, medizinische Behandlungen, Reisekosten, Rechtsberatung. Für Natalia ist es eine Menge Geld, sie kann sich dadurch ein besseres Leben ermöglichen. Für Kristina und Alexander Beyer ist es auch viel Geld, doch es war bezahlbar. Dass es das Geschäft mit den Babys in der Ukraine nur wegen dieser finanziellen Ungleichheit gibt, ist ihnen klar. „Wir haben sich damit auseinandergesetzt und sich trotz dessen dafür entschieden“, sagt Kristina Beyer.

Kristine Beyer war bei der Geburt dabei

Bei der Geburt ging alles schnell. Sie half Natalia, während die ihre Babys auf die Welt brachte, sagt Kristina Beyer. Hielt ihre Hand, sprach ihr gut zu. „Als Alinas Kopf herauskam, konnte ich mich nicht zurückhalten und habe kurz geguckt.“ Der Kopf des Babys, das sie nun im Arm hält, „das war ein Bild, das ich nie vergessen werde“, sagt sie. Sie hat der Geburt ihres eigenen Kindes zugesehen. Welche Frau kann das schon sagen? Dass das möglich war, liegt auch daran, dass Natalia ihnen vertraute, sagt Alexander Beyer. „Da haben sich die vielen Besuche ausgezahlt.“

Dann waren sie plötzlich zu fünft. Alexander und Kristina Beyer, Tochter Lisa und die Zwillinge. Sie durften die Neugeborenen direkt mit in ein Krankenhauszimmer nehmen. Es sind nun ihre Kinder. Das sieht auch Natalia so, sagt Kristina Beyer. Wenn sie chatten, nennt sie sie oft „Eltern“, auf Russisch. Aber auch sich selbst gönnte Natalia etwas: „Sie hat sich kurz nach der Geburt direkt die Haare färben lassen und neue Kleider gekauft“, sagt Kristina Beyer. Und später, zurück in der Heimat, begann sie, Fahrstunden zu nehmen, kaufte einen neuen Herd, ein neues Sofa und Fahrräder für ihre Söhne.

Kritik an deutscher Botschaft

Doch mit der Geburt war die Odyssee noch nicht vorbei. Noch waren sie mit den Babys im Kriegsland, ohne Papiere. Was folgte, macht Alexander Beyer immer noch wütend. Die sonst so ruhige Stimme des hochgewachsenen Mannes wird hart. Er spricht über die deutsche Botschaft in der Ukraine. Menschenfeindlich sei das gewesen, sagt er. Das Gegenteil von empathisch. Ob das so war, weil Leihmutterschaften in Deutschland nicht legal sind, weiß er nicht. Es ist eine Vermutung.

Es war auch vor dem Krieg schon ein großer Bürokratieaufwand, Pässe für die Kinder zu bekommen, die Anerkennung der Vaterschaft, später die Adoption durch die Wunschmutter. Als Russland die Ukraine angriff, zog die Botschaft zunächst aus Kiew weg. Es gab Teams, die an der polnisch-ukrainischen Grenze Termine anboten – rund 450 Kilometer entfernt. „Die wollten, dass wir da mit den Neugeborenen und der Leihmutter hinkommen“, sagt Alexander Beyer. Auf keinen Fall machen sie das, ist sein erster Gedanke. Sie fragten, ob nicht ein Team zur slowakischen Grenze kommen könnte. Das ging nicht. Oder ob sie nur mit Natalia, aber ohne Babys anreisen könnten, um so zumindest die Vaterschaft anerkennen zu lassen. Nein, auch das ging nicht. „Die sind uns überhaupt nicht entgegengekommen.“

Dann hieß es plötzlich, die Termine würden wieder in Kiew gemacht. Noch weiter weg von ihnen, noch näher dran am Kriegsgeschehen. Da war für Alexander Beyer klar: Das machen wir nicht. Nie im Leben.

Kurz war Natalia in Deutschland

Er telefonierte herum, rief Juristen an, das Jugendamt in Münster. Am Ende entschlossen sie sich, dass erst mal die Vaterschaftsanerkennung reicht. „Da wusste ich: Ich muss mit Natalia nach Deutschland“, sagt Alexander Beyer. Es ist ein verrückter Plan, das weiß er. Und eine Zumutung für Natalia, die schon so viel für sie gemacht hat, denkt er. Doch sie fragen die Leihmutter trotzdem. Sie kommt mit. In ein Land, in dem sie noch nie zuvor war.

Sie bekommen die Vaterschaftsanerkennung in Dresden, durch eine Notarin. „Es hatte was von einem Roadtrip“, sagt Alexander Beyer. Natalia sei begeistert gewesen von der Natur in der Slowakei. Und in Deutschland mochte sie, dass es keinen Luftalarm gab, sagt er. „Sie hat sich frei gefühlt.“

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Nun ist sie wieder im Kriegsland. Alexander Beyer brachte sie noch bis an die polnisch-ukrainische Grenze, von dort nahm sie einen Zug zurück zu ihrer eigenen Familie in Dnipro. „Der Abschied war seltsam“, sagt Kristina Beyer. Irgendwie unemotional, Natalia möge wohl keine Abschiede. Dabei hätte sie sie gern noch mal in den Arm genommen, ihr gedankt, ihr gesagt, dass sie sie vermissen wird. Jetzt ist Natalia mehr als 2000 Kilometer von ihnen entfernt, weit weg vom sicheren Münster.

„Bei uns ist jetzt endlich alles gut“, sagt Kristina Beyer, mit Alina auf dem Arm wippt sie auf einem Gymnastikball, um sie zu beruhigen. Sie denke über Krippenplätze nach, über den Besuch vom Jugendamt, über Alltagsprobleme. Aber immer auch über Natalia, die nun in der Ukraine wieder auf sich gestellt ist. Was passiert mit ihr, was mit ihrer Familie? Sie fühlen sich irgendwie verantwortlich und gleichzeitig etwas hilflos, sagt Kristina Beyer.

„Wir wünschen uns, dass die Zwillinge sie kennenlernen“

Der Krieg rückt näher an die Leihmutter heran, vor einer Weile gab es einen russischen Raketenangriff auf Dnipro, und Natalias Mann wurde außerdem gemustert. Vielleicht muss er kämpfen. Für Kristina und Alexander Beyer ist das schwierig. „Wir wünschen uns, dass die Zwillinge sie kennenlernen, wenn sie älter sind, wir vielleicht mal mit ihnen zusammen die Ukraine bereisen“, sagt Alexander Beyer. Sie wollen, dass Natalia ein Teil der Familie ist.

Denn irgendwann werden die Kinder Fragen stellen, wissen wollen, wieso sie in einem Kriegsland geboren wurden, was mit der Frau ist, die sie auf die Welt gebracht hat, wie es ihr geht. Vielleicht sogar, ob das Kinderhandel war. Das haben vermutlich auch Kristina und Alexander Beyer im Kopf. Und wollen gute Antworten geben können.

Sie wollen Natalia weiterhin helfen, sagen sie. Soweit sie es können. Sie haben ihr die Flucht nach Deutschland angeboten, erzählten sie schon im März. Doch Natalia wollte nicht. Aber die Reise nach Dresden könnte etwas verändert haben, glaubt Alexander Beyer. Vielleicht kann sie es sich jetzt eher vorstellen. Sie hat für sich und ihre Söhne Reisepässe machen lassen, gleich nach ihrer Rückkehr nach Dnipro. Kristina Beyer sagt: „Ich habe dieses Bild im Kopf, dass Natalia irgendwann vor unserer Tür steht.“ Ein Bild, das vielleicht auch sie ruhiger schlafen lassen würde.

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