Neuer Ministerpräsident ThüringensWie Thomas Kemmerich die Wahl im Landtag gewann

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Kemmerich nach PK

Thomas Kemmerich (FDP) verlässt die Pressekonferenz nach seiner Wahl zum Ministerpräsident im Erfurter Landtag.

Erfurt – Das sichtbarste Zeichen dafür, das im Landtag von Thüringen etwas Außergewöhnliches und aus Sicht vieler auch Unerhörtes passiert ist, liefert an diesem Mittwochmittag die Vorsitzende der Thüringer Linken. Susanne Hennig läuft mit einem Strauß Blumen auf den neuen Ministerpräsidenten des Freistaates zu. Doch statt eben jenem Thomas Kemmerich den Strauß in die Hand zu drücken, wirft sie ihm das Gebinde mit einer schnellen Bewegung vor die Füße und eilt davon. Es ist eine Geste maximalen Protests.

Der alte Ministerpräsident, der Linke Bodo Ramelow, reagiert dagegen weniger offensiv, sondern fast schon depressiv. Als Landtagspräsidentin Birgit Keller nach dem dritten Wahlgang das Ergebnis verkündet, dem zufolge auf Kemmerich 45, auf Ramelow aber nur 44 Stimmen entfallen, da senkt der 63-Jährige mit versteinerter Miene den Kopf und stützt sich auf dem Rücken des Stuhls ab, der vor ihm steht. Er wirkt im wortwörtlichen Sinne wie ein Geschlagener.

Die Szenen spiegeln, was in den zweieinhalb Stunden zuvor passiert ist. Da hat sich etwas ereignet, was Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) später einen „Tabubruch in der Geschichte der politischen Demokratie der Bundesrepublik“ nennt – und den früheren Bundesinnenminister Gerhart Baum, einen Parteikollegen Kemmerichs, von „einem Hauch Weimar über der Republik“ sprechen lässt. Da hat die Mehrheit der Abgeordneten von CDU und FDP gemeinsam mit der AfD Kemmerich zum Ministerpräsidenten gewählt. Zum ersten Mal haben die Rechtspopulisten über das Oberhaupt eines Bundeslandes mitbestimmt.

AfD als Königsmacher

Die AfD als Königsmacher – und das in jenem Landtag, in dem in Björn Höcke auch noch der Rechteste unter den Rechten als Fraktionschef die Fäden zieht. Es ist sein Coup – und der sorgt im Rest der Republik überwiegend für Entsetzen. „Das ist ein Dammbruch sondergleichen“, sagte Linken-Bundestagsfraktionschef Dietmar Bartsch dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND): „Wer sich mit den Stimmen der Höcke-Partei zum Regierungschef wählen lässt, darf nicht lange Ministerpräsident bleiben.“ Doch auch in der CDU stößt das Vorgehen der Thüringer Christdemokraten, sich indirekt auf einen Gleichschritt mit den Rechtspopulisten einzulassen, auf Kritik.

„Diese Wahl spaltet das Land weiter“, sagte Sachsens Ministerpäsident Michael Kretschmer dem RND. Ohne parlamentarische Mehrheit könne der neue Ministerpräsident keine verantwortliche Regierungsarbeit leisten. Kretschmer stellte auch der Thüringer CDU ein schlechtes Zeugnis aus: „Eigensinn und Unvernunft auf allen Seiten haben zu diesem Ergebnis geführt“, so Kretschmer. Und sogar die CDU-Vorsitzende geht zu den Parteifreunden auf maximale Distanz. Die Fraktion habe „ausdrücklich gegen die Empfehlungen, Forderungen und Bitten der Bundespartei gehandelt“, sagte Annegret Kramp-Karrenbauer.

Viel mehr Kritik geht nicht. Aber was bedeutet das nun für Thüringen – und was für den weiteren Umgang von CDU und FDP mit der AfD? Ist das ein „Dammbruch“, wie manche befürchten? Oder ein Thüringer Sonderfall – der vielleicht sogar noch korrigiert wird?

Zählkandidat von Anfang an

Dabei hatte sich an diesem Vormittag eigentlich alles ganz ruhig angelassen im lichten Saal des Thüringer Landtages. Vor Beginn der Sitzung füllt sich langsam die Lobby. Spitzenpolitiker sieht man kaum. Einer der wenigen, die man sieht, ist Christian Kindervater, Bürgermeister aus Sundhausen und parteiloser Kandidat der AfD – ein Kandidat übri­gens, der an diesem Tag ursprünglich gar nicht hatte erscheinen wollen. Wegen einer Dienstreise. Ein Zählkandidat also, das war von vornherein der Verdacht – der sich später auf spektakuläre Weise bestätigt.

Um 11.01 Uhr erläutert Landtagspräsidentin Keller das Wahlprozedere – und wenig später geht es mit dem ersten Wahlgang auch schon los. Das Drehbuch von Rot-Rot-Grün sieht für diesen Tag vor, eine Minderheitsregierung zu bilden – und den bisherigen Linken-Ministerpräsidenten Bodo Ramelow wiederwählen zu lassen.

Doch Ramelow verpasst die absolute Mehrheit im ersten Wahlgang um drei Stimmen – während AfD-Kandidat Kindervater drei Stimmen mehr bekommt, als seine Fraktion Mitglieder hat. Nach dem zweiten Wahlgang ergibt sich ein ähnliches Bild. Zwar erringt Ramelow diesmal eine Stimme mehr, während Kindervater drei Stimmen weniger erringt, doch es reicht wieder nicht.

Rot-Rot-Grün ahnt, was bevor steht

Wie nach dem ersten beantragte die AfD auch nach dem zweiten Wahlgang eine 30-minütige Pause. Dem schließt sich eine weitere Pause von 20 Minuten an – um die Wahlzettel für den dritten Durchgang zu präparieren. Jetzt kandidiert neben Ramelow und Kindervater nämlich, wie angekündigt, auch Kemmerich.

Genug Zeit also, um in den Pausen auf den Fluren zu reden, wo der Optimismus im rot-rot-grünen Lager hör- und sichtbar schwindet. Der Linke Benjamin Hoff, Leiter der Staatskanzlei, sagt im Hof bei einer Zigarette, die Wahl Kemmerichs sei nun nicht mehr ausgeschlossen. Der SPD-Landesvorsitzende Wolfgang Tiefensee stöhnt, als ahne er, was kommen würde: „Statt Klarheit zu schaffen, machen wir jetzt so einen Scheiß.“

Lähmende Stille im Landtag

Um kurz nach 13 Uhr beginnt der dritte und entscheidende Wahlgang. Als Kemmerich an der Reihe ist, auf dem Weg zur Urne an Ramelow vorbeiläuft und anhält, klicken die Auslöser der Fotografen. Spätestens in diesem Augenblick bahnt sich die Sensation an.

Alles Weitere ist gewissermaßen nur noch Vollzug. Kemmerich nimmt die Wahl an und lässt sich vereidigen. Es folgen der Blumenwurf von Hennig, die Gratulation des CDU-Fraktionsvorsitzenden Mike Mohring und anschließend jene des AfD-Fraktionschefs Björn Höcke, aus dessen Reihen im dritten Wahlgang kein einziger Abgeordneter für Kindervater votiert hatte. Übrigens sieht man Mohring, dessen CDU keinen eigenen Kandidaten aufgeboten hatte, während der gesamten Zeit ziemlich lässig in seinem Sessel sitzen. Das Besondere an alldem ist, wie beinahe wortlos es vonstattengeht. Es herrscht überwiegend Stille – lähmende Stille.

Die Emotionen entladen sich erst, als die Parlamentarier wieder in die Lobby strömen. Man sieht viele entsetzte Gesichter. Und man sieht Tränen der Wut. Bald marschieren vor der Tür Demonstranten mit Parolen auf wie: „Nazis raus.“ Die bisherige grüne Umweltministerin Anja Siegesmund sagt bloß: „Ich bin schockiert.“ Linken-Chefin Hennig sagt, sie steuere auf Neuwahlen zu.

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Denn tatsächlich gibt es jetzt zwar einen Ministerpräsidenten, doch eine Regierung gibt es ebenso wenig wie Parteien, die die Regierung tragen. Ein Koalitionsvertrag existiert damit ebenfalls nicht – anders als es bei der anvisierten rot-rot-grünen Koalition unter Ramelows Führung der Fall gewesen wäre.

Von Kemmerich selbst ist anfangs nichts zu sehen. Ramelow ist von einem Augenblick auf den anderen wie vom Erdboden verschluckt. Er hat bis auf Weiteres alle Termine abgesagt. Mohring sagt in die Kameras: „Jetzt müssen wir verantwortlich mit dieser Wahl umgehen.“ Was das bedeutet, weiß niemand.

Kramp-Karrenbauer schlägt Neuwahl vor

Vielleicht heißt es das, was auch seine Parteivorsitzende Kramp-Karrenbauer am Nachmittag erklärt: Man müsse darüber reden, „ob neue Wahlen nicht der sauberste Weg aus dieser Situation sind“.

Das klingt vorsichtig. Die Frage wird sein, wie sehr das Konrad-Adenauer-Haus in Berlin den Druck in den nächsten Tagen erhöht.

Der Tag endet damit, dass Kemmerich vor dem Landtag beteuert: „Es geht um Thüringen“ – und unter Gelächter CDU, SPD und Grüne einlädt, in eine gemeinsame Regierung einzutreten, was SPD und Grüne erklärtermaßen nicht wollen. Schließlich beantragt er die Verschiebung der Sitzung. Dem wird stattgegeben, mit den Stimmen von CDU, FDP – und der AfD.

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