Wahl in FrankreichFünf Gründe, warum Marine Le Pen gerade punktet

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Marine Le Pen

Rechtspopulistin Marine Le Pen in der Menschenmenge

Paris – „Et hätt noch emmer joot jejange“: So lautet eine rheinische Parole, die man alle Jahre wieder im Karneval hört, wenn die Kölschgläser kreisen. Es ist noch immer gut gegangen: In Frankreich, vor den Stichwahlen am Sonntag, klammert sich derzeit die gesamte Elite des Landes aus Politik, Kultur und Wirtschaft an die gleiche fröhliche Philosophie. Bislang, das ist wahr, konnte ein Triumph von Rechtspopulisten in Paris noch immer verhindert werden. Stets genügte dazu spätestens bei der Stichwahl eine parteiübergreifende Notbremse: die Addition von Stimmen linker, liberaler und konservativer französischer Demokraten.

Im Jahr 2002 schützte dieses Zusammenrücken Jacques Chirac vor dem Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen, dem Vater der heutigen Kandidatin. Im Jahr 2017 gewann auf die gleiche Art Emmanuel Macron die Stichwahl gegen Le Pens Tochter Marine. Und so könnte es auch am 24. April 2022 wieder sein.

Bliebe es bei den Umfragen vom Beginn der Woche, etwa den „Poll of Polls“ von „Politico“, könnte Macron auf einen Vorsprung vor Le Pen von zehn Punkten hoffen: 55 zu 45 Prozent. Andere Umfragen sehen einen Abstand von nur wenigen Punkten. Doch alle Momentaufnahmen dieser Art könnten am Sonntag zerbröseln. Denn vieles deutet darauf hin, dass die rettenden Mechanismen ermüden – und diesmal die Gefahr eines rechtspopulistischen Überraschungssiegs größer ist denn je.

Arrogante Kampfansage des Establishments

Viele Europäerinnen und Europäer sagen zwar: So dumm werden die Französinnen und Franzosen nicht sein. Ausgerechnet in einem Moment, in dem im Osten des Kontinents gerade der größte Landkrieg seit 1945 tobt, werden sie doch wohl nicht der EU, die jetzt zusammenrücken muss wie noch nie, einen solchen Hieb verpassen.

In Wahrheit aber hat man diese Melodie schon zu oft gehört: So dumm werden die Britinnen und Briten nicht sein, dass sie für den Austritt aus der EU stimmen. So dumm werden die Amerikanerinnen und Amerikaner nicht sein, dass sie Donald Trump ins Weiße Haus wählen.

Die wahre Dummheit liegt in dem Singsang, wonach am Ende wie immer alles gutgehen werde. Solche Beschwichtigungen sind nicht nur einfältig, sie sind gefährlich. Erstens kann dies lähmende Effekte auf die politische Mitte haben. Und zweitens kann es am rechten Rand als arrogante Kampfansage eines Establishments verstanden werden, das sich selbst für unbesiegbar erklärt.

Mahnende Beispiele: Brexit und Trump

Das Brexitvotum vom Juni 2016 bleibt ein mahnendes Beispiel dafür, wie die politische Mitte eines Landes sich mitunter selbst überschätzt. Viele Britinnen und Briten aus jüngeren Altersgruppen, die mit breiter Mehrheit für die EU-Mitgliedschaft waren und sind, sahen damals ein proeuropäisches Votum als derartig selbstverständlich an, dass sie an der Abstimmung gar nicht erst teilnahmen.

Auch in den USA lagen Meinungsforscherinnen und -forscher sowie Expertinnen und Experten aller Art im Jahr 2016 massenhaft daneben. Die Trump-Anhängerinnen und -Anhänger fühlten durch nichts so sehr beflügelt wie dadurch, dass etablierte Medien und Demoskopinnen und Demoskopen ihren Sieg monatelang als Ding der Unmöglichkeit hinstellten.

Kurz vor der Wahl und kurz nach der Wahl deuteten tatsächlich alle seriösen Umfragen auf eine Mehrheit für Hillary Clinton. Am Wahltag selbst allerdings zeigte eine mal eben zur Mehrheit gewordene Minderheit der plötzlich zur Minderheit gewordenen Mehrheit, was eine Harke ist. Das Ergebnis: Hillary Clinton, getragen von den ökonomischen und kulturellen Eliten des Landes, regierungserfahren und weltgewandt als frühere Außenministerin, verlor die Wahl an einen charakterlosen Nichtskönner.

Schon dieser historische Vorlauf verbietet eine Geringschätzung der Macht und der Möglichkeiten Marine Le Pens am 24. April. Hinzu kommen diverse aktuelle Entwicklungen und Konstellationen, die ebenfalls daran zweifeln lassen, ob der Mechanismus gegen rechts tatsächlich noch funktioniert.

Zusammenfassend lassen sich fünf Gründe nennen, warum Le Pen diesmal stärker ist denn je.

1. Le Pen ist salonfähig geworden

Noch im Jahr 2017 forderte Le Pen, Frankreich solle die EU verlassen und auch Schluss machen mit der Gemeinschaftswährung Euro. Diese Forderungen erschienen einem großen Teil der Französinnen und Franzosen als zu radikal. Sie kamen im aktuellen Le-Pen-Wahlkampf nicht mehr vor. Damit steigerte die Kandidatin ihre Salonfähigkeit.

Drei weitere Faktoren lassen die 53-jährige Le Pen heute in einem viel weicheren Licht als damals erscheinen.

Le Pen sorgte für die Umbenennung ihrer Partei von „Front National“ zu „Rassemblement National“ und verordnete ihrer Bewegung ein neues, normaleres Auftreten. Zumindest nach außen hin erscheinen seither Le Pen und ihre Partei deutlich offener für Französinnen und Franzosen, die bisher nie rechtspopulistisch gewählt hatten.

Le Pen stritt sich im Laufe der letzten Jahre öffentlich immer wieder mit ihrem Vater und machte deutlich, dass sie sich dessen offenen Rassismus und Antisemitismus nicht zu eigen macht. 2015 ließ sie ihren Vater aus der Partei ausschließen.

Im Wahlkampf 2022 wurde Le Pen, was radikale Sprüche angeht, immer wieder von dem rechtsradikalen Publizisten und Provokateur Éric Zemmour übertroffen, der nichtfranzösische Vornamen verbieten will und Migrantinnen und Migranten pauschal als Diebe bezeichnet. Im Vergleich zu Zemmour hielt Le Pen den Ball relativ flach. Damit geriet sie zumindest von der optischen Wirkung her in eine vermittelnde, relativierende Position – ein willkommener Beitrag zu Le Pens neuem Image einer gemäßigten Rechten.

2. Le Pens Thema Kaufkraft hat Zugkraft

Wie ein Laserstrahl konzentrierte sich Le Pen in den letzten Tagen und Wochen ihres Wahlkampfs auf das Thema Inflation. Indem sie auf die gesunkene – und absehbar weiter sinkende – Kaufkraft der Französinnen und Franzosen hinwies, zielte sie auf die Achillesferse Macrons.

Zwar behielt Le Pen ihre Kritik an Zuwanderung, Ausländerkriminalität und Islamismus im Repertoire. Sie bewies dies in der Fernsehdebatte in der Nacht zum Donnerstag, als sie erneut ein Kopftuchverbot forderte.

Das thematische Ausgreifen ins Ökonomische aber scheint Le Pen jetzt neue Anhängerinnen und Anhänger zuzutreiben. Tag für Tag spricht sie über teure Lebensmittel, das teure Benzin und das Heizen, das bald unbezahlbar werde.

Der gelernte Bankier Macron kann zwar für die Inflation viele faktenreiche und fundierte Erklärungen bieten. Er verweist auf weltweite Knappheitseffekte nach der Corona-Krise und auf die Auswirkungen von Russlands Krieg in der Ukraine. Vom Sound her aber befindet sich Le Pen stets näher an den Bürgerinnen und Bürgern. Sie arbeitet mit populistischen Verheißungen, bei denen Macron nicht mithalten kann: Die Mehrwertsteuer auf Benzin, Gas und Strom will Le Pen radikal senken, von 20 auf 5,5 Prozent, die Mehrwertsteuer auf Nahrungsmittel des Grundbedarfs soll sogar komplett gestrichen werden. Zudem solle für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unter 30 Jahren die Einkommensteuer wegfallen.

Wie sie dies alles finanzieren will? Le Pen nennt einen Punkt, der zwar nach Ansicht von Fachleuten niemals ausreichen würde – ihr aber stets Beifall bringt: Streichung von Sozialleistungen für Migrantinnen und Migranten. An solchen Stellen springt der populistische Funke oft doppelt über. Le Pen achte weniger aufs Faktische als auf emotionale Zustimmung, sagte Hélène Miard-Delacroix, Historikerin an der Pariser Universität Sorbonne, am Mittwochabend auf Phoenix. „Es reicht ihr, wenn die Leute sagen: Es muss nicht unbedingt stimmen, aber so empfinde ich das auch.“

3. Frankreichs Linke ist konfus

Macron setzt am 24. April auch auf die Anhänger der Linkspartei, die im ersten Wahlgang für ihren Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Mélenchon gestimmt haben. Schon 2017 kam es zu einer Hilfeleistung dieser Art.

Heute wie damals ruft Mélenchon seine Anhänger dazu auf, „keine Stimme für Le Pen“ abzugeben. Eine Internetumfrage unter Anhängern der Linkspartei, organisiert von der Partei selbst, ergab jedoch soeben ein verblüffend konfuses Bild.

Nur 33,4 Prozent der Linken-Anhänger wollen am 24. April für Macron stimmen.

37,65 Prozent wollen lieber eine ungültige Stimme abgeben, als für Macron zu stimmen.

28,96 Prozent geben an, nicht zur Wahl gehen zu wollen.

Wie viele Linken-Anhängerinnen und -Anhänger bereits entschlossen sind, Le Pen zu wählen, blieb in dieser Umfrage offen, da die Linkspartei danach gar nicht gefragt hatte. Dennoch gelten die von der Partei veröffentlichten Zahlen als desaströses Signal für Macron. Eine weitere Umfrage, veröffentlicht von der Zeitung „Les Echos“ gab den Anteil der zu erwartenden Le-Pen-Wählerinnen und -Wähler unter den Anhängern der Linken mit 28 Prozent an.

Wählerinnen und Wähler der Linkspartei stoßen sich seit Langem an Macrons Forderung, das Renteneintrittsalter von 62 auf 65 anzuheben. Auch Macrons klares Bekenntnis zur Nato ist bei den Linken unpopulär. In beiden Punkten könnte Le Pen helfen: Sie will das Renteneintrittsalter sogar senken und Frankreich aus der militärischen Integration der Nato herausholen.

4. Viele junge Leute gehen nicht wählen

Viele junge Leute in Frankreich gehen gar nicht erst zur Wahl. Und jene, die sich beteiligen, tendieren oft nach ganz links oder ganz rechts.

Im ersten Wahlgang am 10. April dieses Jahres blieben 40 Prozent der unter 35-jährigen Französinnen und Franzosen der Wahl fern. Unter den Jungen, die teilnahmen, kam vor zwei Wochen mit 34,8 Prozent der Linke Mélenchon auf Platz eins, gefolgt von Macron (24,3) und Le Pen (18).

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Wie nun aber das Duell Macron gegen Le Pen unter den Jungen ausgeht, wenn der eigentliche Favorit nicht mehr zur Verfügung steht, ist unklar. Eine aufsehenerregende YouGov-Umfrage ergab jüngst eine 56-Prozent-Mehrheit für Le Pen unter französischen Erstwählern. In Paris rebellierten dieser Tage Studierende gegen die Wahl zwischen „Pest und Cholera“, wie sie es auf Plakaten formulierten: Der eine plane Einschnitte in den Sozialstaat, die andere fremdenfeindliche Projekte.

5. Ist es nicht mal Zeit für eine Frau?

Die Fernsehdebatte am Mittwochabend hat gezeigt: Im Lauf der letzten fünf Jahre haben sich Macron und Le Pen in gewisser Hinsicht angenähert. Macron ist etwas normaler geworden, er hat ein paar Gänge runtergeschaltet und tritt nicht mehr auf wie der allwissende und alles überstrahlende Neuling. Aber auch Le Pen ist normaler geworden. Sie wirkte jetzt kompetenter und entspannter als in der Fernsehdebatte vor fünf Jahren.

In Wahlkampfvideos zeigt sich Le Pen neuerdings freundlicher und herzlicher denn je. Immer wieder sieht man, wie sie nach Art einer fürsorglichen Landesmutter Kinder in den Arm nimmt und ihnen über den Rücken streicht. Dass die alleinerziehende Mutter, die drei Kinder aus erster Ehe hat, ihre menschliche Seite zeigt, ist neu – und gehört zu den schlechten Nachrichten für Macron.

Unterschwellig ist hier längst ein neues Vorbild für viele Französinnen herangereift: Le Pen, die streitbare, aber durchsetzungsstarke Frau, die sich erst als Rechtsanwältin durchgebissen hat und nun auch in der Politik, immer tough nach außen, aber mit einem Herz für Kinder. 2017 kam Le Pen vor allem bei Krankenschwestern und Kassiererinnen gut an, inzwischen sind unter ihren Anhängerinnen auch viele Akademikerinnen. Vor fünf Jahren wählten weitaus mehr Männer als Frauen Le Pen, diesmal dürfte sich die Geschlechterlücke schließen, glauben vier Politologen, die einen entsprechenden Gastaufsatz in der „Washington Post“ veröffentlicht haben. Damals hätten viele Frauen aus Angst vor Risiken davor zurückgeschreckt, bei Le Pen das Kreuzchen zu machen. Diese Angst habe Le Pen den Frauen inzwischen genommen.

Damit dringt bei vielen Wählerinnen in Frankreich eine für Macron sehr ungünstige Fragestellung in den Hinterkopf ein: Ist es nicht endlich mal Zeit, dass eine Frau in den Élyseé-Palast einzieht?

Ohne viele Worte zu machen, wirft Le Pen mit ihren neuen Plakaten genau diese Frage nicht nur auf, sondern beantwortet sie auch gleich: „Femme d‘état“ steht da. Staatsfrau. Nichts sonst, keine weiteren Botschaften. Es ist der Schluss- und Höhepunkt eines seit Jahren laufenden Projekts namens Entdiabolisierung. Erfolg oder Misserfolg der Kampagne werden am Sonntagabend zu sehen sein.

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