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„So löscht Israel uns aus“Wie Siedler im Westjordanland Palästinenser drangsalieren

8 min
Kurz vor dem Schuss: Ein Siedler zieht seine Waffe - und feuert auf den Mann, der ihn mit dem Handy filmt, den Friedensaktivisten Awdah al-Hathaleen.

Kurz vor dem Schuss: Ein Siedler zieht seine Waffe - und feuert auf den Mann, der ihn mit dem Handy filmt, den Friedensaktivisten Awdah al-Hathaleen.

Ein Schuss – und ein Friedensaktivist stirbt: Der Tod von Awdah al-Hathaleen zeigt, wie die Siedler-Gewalt gegen Palästinenser im Westjordanland eskaliert.

Der palästinensische Friedensaktivist Awdah al-Hathaleen (31) filmt den Schuss, der sein Leben auslöschen wird. Ein israelischer Siedler namens Yinon Levi hat die Kugel abgefeuert, und bei dem 32-Jährigen handelt es sich um keinen Unbekannten: Die EU hat ihn wegen „schwerer und weitverbreiteter Menschenrechtsverletzungen“ an Palästinensern auf die Sanktionsliste gesetzt. Trotz der Tat ist Levi heute ein freier Mann. Das zeigt die Machtverhältnisse im besetzten Westjordanland – wo jüdische Siedler unter dem Schutz der ultranationalistischen israelischen Regierung immer offener Palästinenser erniedrigen, berauben, vertreiben oder sogar töten.

Im Dorf Um al-Kheir in den südlichen Hebron-Bergen haben die Bewohner einen Kreis aus Steinen um die Stelle gelegt, wo Al-Hathaleen vor den Augen seines dreijährigen Sohnes verblutet ist. Die dunklen Flecken sind auf dem Betonboden neben dem Spielplatz des Gemeindezentrums noch gut zu erkennen. In den Achtzigerjahren haben israelische Siedler am Rand des Beduinendorfes die Siedlung Carmel errichtet, die sich ausbreitet: Kürzlich hat eine Gruppe um Levi außerhalb zwei Wohncontainer aufgestellt, sie stehen nur wenige Meter vom Gemeindezentrum von Um al-Kheir entfernt. Über ihnen weht die israelische Flagge.

Steine gegen Bulldozer im Westjordanland

Bei den Arbeiten an diesem neuen Außenposten dringt Ende Juli einer von Levis Bulldozern auf privates palästinensisches Land vor. Die Maschine walzt Olivenbäume und Zäune nieder. Das Geschehen wird von mehreren Handykameras festgehalten, Al-Hathaleen filmt aus rund 30 Metern Entfernung. Junge Palästinenser stellen sich dem Bulldozer in den Weg und bewerfen ihn mit Steinen. Levi geht dazwischen, es kommt zum Gerangel. Der Israeli zieht seine Pistole und wedelt mit der Waffe. Dann gibt er einen Schuss ab. Das Videobild von Al-Hathaleens Handy wackelt und bricht ab, als er nach dem Treffer kollabiert.

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Der dreifache Familienvater ist durch jene Gewalt gestorben, die er sein Leben lang stoppen wollte. Er engagierte sich in der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem und unterstützte die Dreharbeiten für den Dokumentarfilm „No Other Land“. Der Film erzählt die Geschichte des Widerstands gegen die Gewalt israelischer Siedler und wurde in diesem Jahr mit einem Oscar prämiert. Der palästinensische Co-Regisseur Basel Adra schrieb nach dem Tod Al-Hathaleens auf der Plattform X: „So löscht Israel uns aus – ein Leben nach dem anderen.“

Hunde auf Schäfer gehetzt

Die EU begründet ihre Sanktionen gegen Levi unter anderem damit, dass er Häuser von Palästinensern gestürmt habe. Er habe zudem Hunde auf palästinensische Schäfer gehetzt, während er seine Tiere auf deren Weiden habe grasen lassen. Nach der Tötung von Al-Hathaleen kommt Levi kurz in Polizeigewahrsam, bevor er freigelassen wird – die israelischen Behörden akzeptieren seine Behauptung, er habe in Notwehr gehandelt. Levi ist Anfang August wieder auf der Baustelle.

„Ziel der Siedler ist es, alle Palästinenser zu vertreiben und sich deren Land zu nehmen“, sagt Eid Suleyman (42). Er ist ebenfalls Friedensaktivist aus Um al-Kheir und wurde Zeuge des Todes seines Cousins Al-Hathaleen. Diesem Ziel diene auch der Außenposten, dem bald Zäune und Barrikaden folgen würden, die die Bewegungsfreiheit der Palästinenser weiter einschränkten.

„Keine Zukunft in Palästina“

Schon jetzt ist Um al-Kheir nur noch über eine Straße erreichbar, die wenige Meter nach dem Dorf am Tor der Siedlung endet – dahinter parken Levis Bulldozer.

An der Zufahrtsstraße hing an der Mauer von Carmel bis vor Kurzem ein Plakat mit der Aufschrift „Keine Zukunft in Palästina“, daneben ein Foto von fliehenden Menschen. Das Vorgehen der Siedler sei immer gleich, sagt Suleyman: „Sie reißen sich Land unter den Nagel, und die Regierung legalisiert das kurz danach.“

Der Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober vor zwei Jahren und der folgende Krieg im Gazastreifen haben auch die Lage im Westjordanland verschärft. Während die Soldaten aus dem Westjordanland in den Gazakrieg gezogen sind, hätten Siedler deren Rolle übernommen, sagt Suleyman. Die Regierung habe viele von ihnen mit Waffen und Uniformen ausgerüstet: „Gestern waren sie noch Kriminelle, heute sind sie das Gesetz.“

Verstoß gegen internationales Recht

In der Koalition von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu werden die Siedler besonders von den rechtsextremen Ministern Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir unterstützt. Beide fordern offen die Annexion des Westjordanlandes und treiben den Bau von Siedlungen voran.

Die israelische Regierung rechtfertigt den Siedlungsbau offiziell mit Sicherheitsinteressen und verweist auf die biblische Bedeutung von Judäa und Samaria, wie sie die Region nennt. Kritiker und die meisten Völkerrechtler sehen darin einen Verstoß gegen internationales Recht. Im Nahost-Friedensplan von US-Präsident Donald Trump findet das Westjordanland keine Erwähnung – dabei verschärfen sich dort die Spannungen, die die Region in Unruhe halten.

15.05.2025, Bruchin: Israelische Siedler im Westjordanland

Bruchin: Israelische Siedler im Westjordanland

Auf der Route 60 in Richtung Hebron im Süden des Westjordanlandes kann man beobachten, welche Ausmaße der Siedlungsbau angenommen hat. Wie Festungen erheben sich auf Hügeln neben der Straße die mit Mauern und Wachtürmen gesicherten Anlagen. Häuser von Palästinensern erkennt man am Wassertank auf dem Dach: Wird das Wasser knapp, dreht es Israel nicht den Siedlern, sondern ihnen ab. Sie müssen daher Vorräte halten.

Israel errichtet im Westjordanland außerdem immer mehr Barrieren, mit denen Straßen willkürlich gesperrt werden. Autofahrer müssen weite Umwege in Kauf nehmen. Wenn sie Pech haben, wird ihr Dorf stundenlang ganz von der Außenwelt abgeschnitten. Die Schwenkgitter werden von der Armee ohne Vorwarnung geschlossen, auch Krankenwagen kommen dann nicht mehr durch.

Fast 1000 Barrieren durch Israel

Mehr als 970 Straßenbarrieren in Form von Schwenkgittern oder Erdhügeln zählt das „Institut für Angewandte Forschung – Jerusalem“ (ARIJ) im Westjordanland.

„Allein im vergangenen Monat sind 26 neue dazugekommen“, sagt der Direktor der palästinensischen Organisation, Jad Isaac. Er ist überzeugt, dass die Barrieren nicht der Sicherheit dienen. „Niemand, der Gewalttaten gegen Israel plant, geht durch Checkpoints oder durch die Sperren“, sagt er. „Sie sind dazu da, uns zu erniedrigen, unsere Zeit zu verschwenden und uns in die Depression zu treiben.“

Auch ARIJ-Chef Isaac sagt, langfristiges Ziel der israelischen Regierung sei es, die Palästinenser vollständig aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen zu vertreiben. Die Siedler seien dazu ein Werkzeug. Seit dem 7. Oktober 2023 ist ihre Zahl im Westjordanland und in Ost-Jerusalem nach Isaacs Angaben von 854.000 auf rund eine Million angewachsen – bei etwa 3,5 Millionen Palästinensern in dieser Region. UN-Daten und israelische Statistiken gehen von niedrigeren Siedlerzahlen, aber ebenfalls von deutlichen Zuwächsen aus.

Zunehmende Gewalt der israelischen Siedler

Zugenommen hat auch die Gewalt der Siedler. 2022 verzeichneten die Vereinten Nationen 852 Angriffe, bei denen Menschen zu Schaden kamen und/oder Eigentum beschädigt wurde. 2023 waren es bereits 1291, wobei die Zahl nach dem 7. Oktober steil anstieg, 2023 dann 1449. In diesem Jahr wurden bis Ende August bereits 1069 Angriffe registriert, setzt sich der Trend fort, droht ein neuer Höchststand. Mehr als 550 Familien wurden laut UN vertrieben, unter anderem infolge von Siedlerangriffen oder von israelischen Verboten, ihre Weide- und Anbauflächen zu nutzen.

Geht es nach dem Willen der israelischen Behörden, gehören zu den Vertriebenen bald auch die 350 Bewohner des Dorfes Khan al-Ahmar östlich von Jerusalem. Der Ort mit seinen Hütten aus Wellblech und Sperrholz liegt im sogenannten Siedlungsprojekt E-1, das Tausende Wohneinheiten vorsieht. Das Vorhaben lag jahrzehntelang auf Eis, im August wurde es von der Regierung genehmigt. Smotrich sagte, damit würde „die Idee eines Palästinenserstaates beerdigt“.

Dorf ohne Stromanschluss

Auf einem Hügel nahe Khan al-Ahmar liegt seit den Achtzigerjahren eine Siedlung. Auf zwei weiteren haben Israelis kürzlich Außenposten errichtet.

Videos von Bewohnern wie Eid Jahalin (60) zeigen, wie bewaffnete Siedler immer wieder ins Dorf eindringen. Auf eine Plane an einem Zaun haben sie auf Hebräisch „Rache“ geschmiert. Jahalin sagt, im Gegensatz zu den Siedlern habe sein Dorf keinen Stromanschluss und müsse Elektrizität aus Solarzellen gewinnen. Zehn der 40 Module hätten Siedler kürzlich zerstört – der Rest reiche nicht, um den Bedarf zu decken. In einem der Außenposten dagegen brennen am helllichten Tag Lichterketten.

Den Abzweig nach Khan al-Ahmar haben israelische Behörden mit Betonklötzen gesperrt. Jetzt kommt man nur über eine Geröllpiste in den Ort, auf der auch der Schulbus die Kinder absetzt. Das Dorf beherbergt die einzige Schule der Gegend. Auf einer Wand steht auf Arabisch: „Wir bleiben, solange Thymian und Oliven bestehen.“ Darunter sind rote Blumen gemalt.

Israelische Armee droht mit Abriss

Jahalin erklärt, die Menschen lebten von Viehzucht, trauten sich aber nicht mehr auf die Weiden. Siedler mischten sonst ihre Tiere unter die der Einheimischen. Dann riefen sie die Polizei, bezichtigten die Palästinenser des Diebstahls und rissen sich die ganze Herde unter den Nagel. Die Bewohner würden ihr Vieh nun im Dorf mit gekauftem Futter versorgen. Jahalin hat wegen der Kosten 180 Ziegen und Schafe sowie seine 14 Kamele verkauft. 50 Ziegen stehen noch im Stall, sie fressen getrocknete Datteln.

Khan al-Ahmar ist seit 1952 besiedelt. Am 12. August – wenige Tage vor der Genehmigung des E-1-Siedlungsprojekts – droht die Armee den Bewohnern schriftlich mit einer „Abrissanordnung“ für ihre Häuser. Der Einspruch der Bewohner bleibt erfolglos, daher kann der Abriss jetzt „ohne weitere Mitteilung“ erfolgen.

Dorfbewohner Jahalin sagt, ein Armeevertreter habe ihm mitgeteilt, bis zum 20. November müsse das Dorf geräumt sein. Ansonsten müssten die Bewohner für alle Abrisskosten selbst aufkommen. „Er sagte, wir bekämen dann eine Rechnung für die Bulldozer und für den Einsatz der Soldaten, für ihre Verpflegung und sogar für ihre mobilen Toiletten.“ Die Dorfbewohner wollen ihr Zuhause aber auf keinen Fall verlassen. „Ich weiß nicht, wohin wir gehen sollten“, sagt Jahalin. „Und ich weiß auch nicht, wer uns überhaupt aufnehmen würde.“