Thomas Kutschaty im Interview„Die SPD ist wie der Otto-Katalog von früher“

Lesezeit 5 Minuten
5F9A66003C94875D

Thomas Kutschaty

  • Thomas Kutschaty, Fraktionschef der SPD im NRW-Landtag, analysiert die Fehler seiner Partei – und wirbt für eine Minderheitsregierung in Hessen.

Herr Kutschaty, fliegt die Groko in Berlin bei einem SPD-Desaster auseinander?

Ich setze mir keine Schmerzgrenze. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die SPD den Ministerpräsidenten stellen kann. Wir werden in Zukunft wahrscheinlich vermehrt Dreierbündnisse bilden müssen. Da muss auch die SPD neu denken. Wichtig ist, dass die CDU in der Regierung abgelöst wird. Auch die Minderheitsregierung ist eine Option für die Zukunft. Wir haben in NRW damit gute Erfahrungen gemacht.

Ist auch Rot-Rot-Grün denkbar?

Das muss man immer im Einzelfall bewerten.

Welche Zukunft hat die Groko?

So wie es jetzt funktioniert, kann es nicht weitergehen. Die SPD hat sich vorgenommen, im kommenden Jahr bei einem Bundesparteitag Bilanz zu ziehen. Wenn wir bis dahin keine sichtbaren Erfolge für die SPD verbuchen können, bin ich skeptisch, ob die Basis einer Weiterführung zustimmt. Viele frühere Groko-Befürworter haben ihre Meinung mittlerweile geändert.

Wie zufrieden sind Sie mit dem Neustart der NRW-SPD?

Wir arbeiten unter erschwerten bundespolitischen Bedingungen. Das macht sich auch in den Umfragewerten bemerkbar. Wir haben aber bereits wichtige Themen angestoßen: zum Beispiel im Bereich der Wohnungsbaupolitik und auch beim Umbau des Sozialstaats.

Aber Sie sind offenbar nicht immer mit Parteichef Sebastian Hartmann einer Meinung.

So unterschiedlich wie behauptet sind die Positionen gar nicht. Bei der Beurteilung der Groko haben wir vielleicht eine unterschiedliche Wortwahl, mehr nicht.

Was läuft schief in der SPD?

Wir haben nicht genug herausgearbeitet, wofür wir Sozialdemokraten stehen. Wir drucken 180 Seiten dicke Wahlprogramme, aber nicht einmal unsere Mitglieder an den Infoständen können in drei Sätzen erklären, warum man die SPD wählen soll. Wir sind wie der Otto-Katalog von früher – bieten von allem etwas an, aber der Kern wird nicht klar erkennbar. Im Augenblick haben dafür die Grünen den Lauf. Das wird nicht ewig halten – aber sie stehen eben sehr klar für ein Thema, was gerade offenbar en vogue ist: den Braunkohleausstieg.

Die Grünen haben eine charismatische Spitze. Fehlt Ihnen das?

Programm und Person sind beide ganz entscheidend, klar. Aber ich nenne Ihnen auch mal ein Beispiel, um zu zeigen, was unser Problem ist: Vor der letzten Bundestagswahl haben wir auf dem Parteitag darüber gestritten, ob wir die Einführung der Vermögenssteuer ins Wahlprogramm aufnehmen, damit millionenschwere Leute stärker besteuert werden. Wir hatten nicht den Mut, uns da klar zu positionieren. Dabei frage ich mich: Welche unserer Wähler hätten wir denn mit dieser Forderung vergrault? Stattdessen haben wir eine Arbeitsgruppe gegründet – die bis heute nicht getagt hat, soweit ich weiß. Wir brauchen uns nicht zu wundern, dass heutzutage niemand mehr weiß, wofür die SPD steht.

Thomas Kutschaty

Der 50 Jahre alte Jurist aus Essen war von 2010 bis 2017 Justizminister in Nordrhein-Westfalen. In diesem Jahr wurde er nach einer Kampfabstimmung überraschend zum Fraktionschef der SPD im Landtag gewählt.

Hat man sich zurückgehalten, weil der SPD-Kanzler Gerhard Schröden Spitzensteuersatz in seiner Amtszeit gesenkt hat?

Wir sind damals – zu Zeiten Schröders und des damaligen britischen Präsidenten Tony Blair – einem Zeitgeist der 2000er Jahre hinterhergejagt. Man dachte, der Markt regelt alles. Auch die SPD hat sich daran beteiligt, kommunale Gesellschaften zu privatisieren. Heute wissen wir, dass das falsch war, und die Kommunen versuchen, ihre Kanalsysteme wieder zurückzukaufen. Wir waren mit dabei, wir müssen uns Fehler eingestehen. Heute sehen aber viele Menschen ein, dass wir einen handlungsfähigen Staat mit starken, gerechten Sicherungssystemen brauchen.

Wo sehen Sie Handlungsbedarf?

Trotz guter Beschäftigungszahlen ist die Situation auf dem Arbeitsmarkt alles andere als rosig. Fahrradkuriere bekommen fünf Euro für einen Auftrag, für den sie anderthalb Stunden benötigen. In Krankenhäusern muss das Reinigungspersonal 200 m² Patientenzimmer pro Stunde putzen – inklusive Sanitärbereich! Früher waren es 90 m². Die Krankenhäuser beschäftigen die Leute schon nur noch auf 80-Prozent-Basis, weil die Angestellten nach der Arbeit so fertig sind, dass sie 100 Prozent schlicht nicht schaffen. In dieser Arbeitsmarktsituation brauchen die Menschen eine starke Sozialdemokratie. Es gibt keine andere Partei – auch nicht die Grünen – die sich da vernünftig drum kümmert.

Aber am Ende hilft der SPD also nur ein Linksruck....

Ich würde eher von einer zeitgemäßen Sozialpolitik sprechen. Aber wenn Sie es einen Linksruck nennen möchten, wehre ich mich nicht dagegen. Ich glaube nur, dass dieses Links-Rechts-Denken verbraucht ist. Es geht um moderne Politik. Wir müssen in Zeiten der Digitalisierung viele neue Antworten finden. Wenn die App zum Arbeitgeber wird, stellt uns das vor neue Herausforderungen, die wir gesetzlich regeln müssen.

Wie geht denn die modernere Sozialpolitik der SPD?

Wir arbeiten an Konzepten, die Hartz IV ersetzen können. Wir brauchen eine vernünftige soziale Absicherung und eine längere Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I. Das ist ein Thema für die Bundesebene, aber wir haben in NRW immer auch den Anspruch, Impulsgeber für die bundesweite Debatte zu sein. Ich kann einem 49-Jährigen, der 30 Jahre gearbeitet hat, nicht erzählen, dass er nach einem Jahr Arbeitslosigkeit das gleiche bekommt wie ein 25-Jähriger, der noch nie gearbeitet hat. Auch bei der Berechnung der Bedarfsgemeinschaft sind Reformen notwendig. Die Schonvermögensgrenze von 5200 Euro sollte angehoben werden. Wenn Sie mit Mitte 50 arbeitslos werden, dann müssen sie all ihr Geld bis auf 5200 Euro aufbrauchen, bevor Sie staatliche Unterstützung bekommen. Das darf nicht sein.

Das Gespräch führten Eliana Berger, Carsten Fiedler, Gerhard Voogt und Wolfgang Wagner

KStA abonnieren