Transnistrien in Putins Visier?„Wenn Odessa fällt, sind wir als Nächstes dran“

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Zerstörung in Odessa: Ein Mann beseitigt Trümmer, nachdem ein russisches Geschoss ein Einkaufszentrum getroffen hat.

Zerstörung in Odessa: Ein Mann beseitigt Trümmer, nachdem ein russisches Geschoss ein Einkaufszentrum getroffen hat.

Berlin – An der Ausfallstraße Drumul Viilor in Moldaus Hauptstadt Chisinău steht ein moderner lilafarbener Doppelstock-Bus. Gleich wird Galina Nikolajena mit ihrer Tochter Natalia einsteigen und abfahren. Nach Stuttgart.

In der Gruppe nennen sie Galina liebevoll Babuschka (Oma). Sie ist mit 81 Jahren die Älteste. „Ich wurde am 18. Juni 1941 geboren, drei Tage vor Hitlers Überfall auf die Sowjetunion“, berichtet Babuschka. Sie hat als Kind den Zweiten Weltkrieg überlebt, und jetzt flüchtet sie vor den Russen, mit denen die Ukrainer damals gemeinsam in der Roten Armee gegen die Deutschen gekämpft haben.

Galina und ihre Tochter kommen aus der Region Odessa und sind zwei Tage zuvor dort von der Berliner Hilfsorganisation „Be an Angel“ („Sei ein Engel“) evakuiert worden. „Die Bombenangriffe, es war schrecklich“, sagt die Babuschka, die sich nie hätten träumen lassen, dass sie noch einmal mit nur zwei Handtaschen ihr Zuhause würde verlassen müssen, um nach Deutschland zu fliehen.

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„Wir sind der einzige deutsche Hilfsverein, der hier aktiv ist“

„Viele Menschen, denen wir helfen, waren noch nie im Ausland, sind noch nie mit einem Flugzeug geflogen“, sagt Andreas Tölke, während er die Taschen von Babuschka in den Gepäckraum des Busses hievt.

Tölke (61) ist eigentlich Journalist, hat unter anderem für die „Welt am Sonntag“ über Architektur und Kunst geschrieben. Im Zuge der Flüchtlingskrise 2015 stieg er aus, gründete den Verein „Be an Angel“ und engagierte sich fortan in der Flüchtlingshilfe.

Seitdem hat er in Berlin rund 400 Menschen in seiner Wohnung Zuflucht gewährt, die Asyl suchten. Und jetzt ist er seit ein paar Wochen in Moldau im Einsatz. „Wir sind der einzige deutsche Hilfsverein, der hier aktiv ist“, erklärt Tölke.

Moldau hat 458.000 ukrainische Flüchtlinge aufgenommen

Die kleine Republik Moldau hat nach jüngsten Angaben der Grenzschutzpolizei seit Kriegsbeginn in der Ukraine 458.000 ukrainische Flüchtlinge aufgenommen. Das ist, gemessen an der eigenen Bevölkerungszahl von rund 2,5 Millionen, der größte Anteil unter allen Ländern, die helfen. Etwa 90.000 Geflüchtete sind bislang in Moldau geblieben und zum größten Teil von Familien aufgenommen worden. „Die Menschen haben den Ukrainern ihre Häuser und Herzen geöffnet“, sagte UN-Generalsekretär Antonio Guterres, als er in der vergangenen Woche Chisinău besuchte. „Moldau kann als Beispiel für Solidarität gelten.“

Das Land zwischen den Flüssen Pruth und Dnister hatte 2021 mit 3,6 Prozent eine niedrige Arbeitslosenquote, aber als ärmstes Land Europas auch sehr niedrige Löhne. Das durchschnittliche Monatseinkommen liegt bei 600 Euro, und durch den Krieg explodieren jetzt auch in Moldau die Preise für Treibstoffe und Lebensmittel.

Bei Öl und Gas ist das Land zu 100 Prozent auf Importe aus Russland abhängig, was Moskau die Regierung auch immer wieder spüren lässt. Viele Lebensmittel und auch Baustoffe kamen bislang aus der Ukraine. Ein Sack Zement ist inzwischen drei Mal so teuer wie vor dem Krieg.

700 Millionen Euro Finanzhilfen zugesagt

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hatte nach einem Besuch in Moldau für Anfang April eine internationale Unterstützer-Konferenz nach Berlin einberufen, in deren Folge dem Land rund 700 Millionen Euro an Finanzhilfen zugesagt wurden und das Versprechen, 12.000 ukrainische Flüchtlinge direkt auszufliegen. Deutschland verpflichtete sich, davon 2500 Menschen aufzunehmen.

Außenministerin Annalena Baerbock (r.) und Nicu Popescu, Außenminister von Moldau, beim Gipfeltreffen der Außenminister der G7.

Außenministerin Annalena Baerbock (r.) und Nicu Popescu, Außenminister von Moldau, beim Gipfeltreffen der Außenminister der G7.

Für Tölke ist das ein Tropfen auf dem heißen Stein. Er hat bislang mit „Be an Angel“ 76 Busse mit über 5000 Geflüchteten von Moldau aus auf die Reise geschickt. Gemanagt mit einem Dutzend Ehrenamtlern in Berlin und Chisinău, alles finanziert über Spenden.

Tölke kritisiert das internationale Flüchtlingshilfswerk UNHCR, als „Bulldozer, der im Weg steht, bevor ein Flugzeug starten kann“. „Wir müssen eine fünf Seiten lange Anamnese für Kranke oder Behinderte vorlegen und die wird dann von UNHCR-Ärzten nochmals geprüft“, berichtet Tölke. Zu viel Bürokratie, unnötige Verzögerungen. Im ersten UNHCR-Flieger, der abging, seien noch 40 Plätze freigewesen.

„Die Kollegen haben gearbeitet bis zum Umfallen“

Rosian Vasiloi (49) steht in seinem Büro vor einer großen Karte. Der Chef der moldauischen Grenzpolizei sichert mit 3400 Mitarbeitern knapp 1500 Kilometer Grenze ab, davon 768 Kilometer zur Ukraine.“ Als der Krieg begann, haben wir an manchen Tagen 12.000 Flüchtlinge in 24 Stunden überprüft“, erklärt Vasiloi anhand der vielen Grenzpunkte auf der Karte. „Wir haben das Personal verdreifacht, die Kollegen haben gearbeitet bis zum Umfallen.“

Nicht nur wegen der Registrierung der Flüchtlinge, sondern auch um Waffen- und Drogenschmuggler herauszufischen, die die Situation gnadenlos ausgenutzt hätten. Eine Kalaschnikow könne man in der Ukraine für 200 Euro kaufen und in Westeuropa für 1000 Euro verkaufen, sagt Vasiloi.

Bevor der Vater dreier Kinder zum Grenzschutz kam, war er Experte für Verteidigungspolitik. Er sagt: „Für mich kam dieser Krieg nicht überraschend, es war nur eine Frage der Zeit.“ Viel hänge jetzt davon, wie solidarisch sich Europa weiterhin mit der Ukraine zeige. Das sei auch wichtig in Bezug auf den Transnistrien-Konflikt.

Unabhängigkeit seit 1991

Als 1991 die UdSSR aufgelöst wurde, erhielt neben großen Republiken wie der Ukraine oder Kasachstan auch die damalige kleine moldawische Sowjetrepublik ihre Unabhängigkeit. Wenig später spaltete sich in einem blutigen Bürgerkrieg die östliche Region Transnistrien von Moldau ab und verkündete ihre Autonomie.

Die selbsternannte prorussische Transnistrische Republik mit offiziell 450.000 Einwohnern ist international von niemandem anerkannt, wird aber massiv von Russland unterstützt, inklusive „Friedenstruppe“, die 1992 einrückte und das Territorium nie wieder verließ.

Etwa 2000 Soldaten hält Russland dort unter Waffen, es gibt einen Militärstützpunkt und in dem Dorf Cobasna ein Munitionsdepot mit 20.000 Tonnen Sprengstoff noch aus Sowjetzeiten. Das defecto-Regime unter Transnistriens Präsident Wadim Krasnoselski verkündete Ende April die Terrorwarnstufe „Rot“, weil es Anschläge auf das Munitionsdepot, den Hauptsitz der Staatsicherheit und auf zwei Sendemasten gegeben hatte.

Russland und die Ukraine bezichtigten sich gegenseitig der Verantwortung

Russland und die Ukraine bezichtigten sich gegenseitig der Verantwortung für die Anschläge. Es waren zwar keine Menschen zu Schaden gekommen waren, aber ukrainische Militärs waren besorgt, dass Russland die Provokationen zum Anlass nehmen könnte, um loszuschlagen.

Seit Ausbruch des Krieges in der Ukraine fürchten die Menschen in Moldau, dass die Russen den Südring vom Donbass über Mariupol, Cherson und Odessa bis hin nach Transnistrien schließen wollen, um die Ukraine vom Schwarzen und vom Asowschen Meer abzuschneiden.

Beschossene Radioantenne in Moldau (Archivbild)

Beschossene Radioantenne in Moldau (Archivbild)

Von der Südspitze Transnistriens bis nach Odessa sind es nur noch 40 Kilometer. Schon vor etwa zwei Wochen hatte der russische Generalmajor Rustam Minnekajew von der geplanten Süderoberung der Ukraine gesprochen und es als Vorteil bezeichnet, dass die Russen Zugang zur „Republik“ Transnistrien hätten.

In der Nähe von Transnistriens Hauptstadt Tiraspol befindet sich ein Flughafen, der als Truppenlandeplatz dienen könnte, um von dort aus größere russische Einheiten an die nur wenige Kilometer entfernte ukrainische Grenze in Marsch zu setzen.

Über Jahrhunderte immer wieder Spielball von Großmächten

Im Falle eines solche Szenarios fürchten die Moldauer, dass sie gleich mit überrollt werden. Die Sorge ist nicht aus der Luft gegriffen, denn nach der Logik von Kreml-Chef Wladimir Putin muss eigentlich alles zurück ins russische Imperium, was einmal Sowjetunion war. Ohnehin war das ehemalige Fürstentum Moldau über Jahrhunderte immer wieder Spielball von Großmächten.

Vom Osmanischen Reich 1812 als Generalgouvernement Bessarabien an das russische Kaiserreich abgetreten, wurde das mehrheitlich von Rumänen bewohnte Land 1918 kurz unabhängig, war dann zwischen den beiden Weltkriegen rumänische Provinz und wurde nach 1945 der Sowjetunion einverleibt.

Heutzutage sprechen die meisten Menschen in Moldau Rumänisch und Russisch, ältere Straßenschildern sind auch noch in beiden Sprachen ausgezeichnet. Allerdings ist Rumänisch seit 1994 Amtssprache und auch im Alltag dominierend.

In Transnistrien herrscht Russisch im täglichen Leben vor, und in der Hauptstadt Tiraspol ist alte Sowjetsymbolik wie beispielsweise eine überdimensionale Lenin-Statue präsent.

„Keinerlei Interesse an einer Einverleibung durch Russland“

Lilian Carp, Chef des Sicherheitsausschusses im moldauischen Parlament, meint, für einen ethnischen Konflikt, wie ihn Russland gern darstellen möchten, gebe es in Transnistrien keinen Grund. Die Bevölkerung setze sich zu 40 Prozent aus Moldauern, zu 27 Prozent aus Russen und zu 33 Prozent aus Ukrainern und anderen Ethnien zusammen. „Es gibt viele gemischte Ehen, die Menschen verstehen sich untereinander sehr gut und haben keinerlei Interesse an einem Krieg oder einer Einverleibung durch Russland“, ist Carp überzeugt.

Das gleiche gelte auch für die wirtschaftliche Elite, die durch die beiden Oligarchen Victor Gusan und Ilja Kasmaly angeführt wird. Sie gründeten 1993 den Sheriff-Konzern, der von der Wirtschaft über die Medien bis hin zur Politik alles beherrscht. Sogar im Fußball sorgen sie für Schlagzeilen, so im Herbst vergangenen Jahres, als der Club Sheriff Tiraspol in der Champions League sensationell Real Madrid mit 2:1 bezwang. Geld schießt eben auch Tore.

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„Die Geschäftsleute haben kein Interesse an einem Konflikt, weil das ihr Business stört“, sagt Lilian Carp. Er bezeichnet die Lage als „kritisch, aber stabil“. Das könne sich aber jederzeit ändern.

Um den 9. Mai herum, als Russland den Tag des Sieges im Zweiten Weltkrieg feierte, kursierten auch in Moldau Gerüchte, dass Männer über 18 das Land nicht mehr verlassen dürfen, weil die allgemeine Mobilmachung bevorstehe. „Jeden Morgen wachen wir auf und schauen auf die Nachrichten, ob Odessa schon gefallen ist“, berichtet Natalia, die für eine Nichtregierungsorganisation (NGO) in Chisinău arbeitet. „Wenn das passiert, dann sind wir als Nächstes dran“, fürchtet sie.

Moldau könnte sich kaum wehren

Tatsächlich hätte Moldau mit seinen geschätzten 20.000 Mann unter Waffen einem russischen Angriff wohl wenig entgegenzusetzen.

Auf transnistrischer Seite geht man von 5000 bis 7000 bewaffneten Kräften inklusive Polizei und Sicherheitsdienst aus, die im Ernstfall an der Seite der Russen stehen könnten. Aber in letzter Zeit setzen sich verstärkt junge Leute nach Moldau ab, um einer eventuellen Einberufung zu entgehen.

Moldaus Präsidentin Maia Sandu versucht immer wieder zu beruhigen und spricht sich für eine friedliche Lösung des Konflikts aus. Sandus Partei PAS (Aktion und Solidarität) besitzt seit der Wahl 2021 im Parlament mit seinen 101 Sitzen die Mehrheit, stellt die Ministerpräsidentin sowie das gesamte Kabinett und fährt einen klar prowestlichen Kurs.

„So eine vertrauenswürdige Regierung wie jetzt, hatten wir noch nie“

Anfang März reichte das Land offiziell einen Antrag auf EU-Beitritt ein. Politische Beobachter aus dem Westen werten das auch als Hilferuf, um sich vor einem eventuellen Einmarsch russischer Truppen zu schützen.

Bei den letzten Wahlen kamen die prorussischen Kommunisten und Sozialisten um Ex-Präsident Igor Dodon zwar nur auf 27 Prozent, aber die überall im Land empfangbaren russischen Staatsmedien arbeiten unermüdlich. Bei einer Umfrage zum Krieg in der Ukraine sagten 25 Prozent der Moldauer, dass Putin dafür verantwortlich ist. 19 Prozent meinten, dass US-Präsident Joe Biden schuld sei. Und 13 Prozent sahen die Verantwortung bei der Ukraine.

Die NGO-Mitarbeiterin Natalia sagt mit Blick auf die EU: „So eine vertrauenswürdige Regierung wie jetzt, hatten wir noch nie. Wenn uns jetzt der Schritt nach Europa nicht gelingt, dann wird es nie mehr klappen.“

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