„Bluff und Nebelkerze“So glaubwürdig ist der russische Rückzug

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Russischer Panzer Trostyanets

Zivilisten beobachten einen beschädigten, russischen Panzer nach Kämpfen bei Trostianets.

Kiew/Moskau – Russland hat am Dienstag nach den Verhandlungen in Istanbul einen Teil-Rückzug der Truppen angekündigt. Rund um die ukrainische Hauptstadt Kiew wolle man die militärischen Aktivitäten stark reduzieren, hieß es aus Moskau. Was steckt dahinter? Ist dies wirklich der Schritt in Richtung Waffenruhe und Frieden oder eine taktische Finte der Invasoren? Die Ukraine, die USA und einige Experten sind skeptisch. Eine Einschätzung.

Russische Truppen in der Ukraine – Neuausrichtung statt Rückzug?

Bereits kurz nach der Ankündigung des russischen Teil-Rückzugs in der Region Kiew kursierten in Netzwerken wie Telegram und Twitter Videos und Bilder von vermeintlich fliehenden russischen Truppen. So wurde etwa ein Videoclip, der den Abzug von russischen Radpanzern zeigen soll, vielfach geteilt.

Doch was wird aus den Truppen, die Russland nicht mehr in der Region Kiew braucht? Carlo Masala, Politikwissenschaftler und Militärexperte, zeigt sich skeptisch gegenüber der russischen Ankündigung.

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Carlo Masala Portrait 2

Politikwissenschaftler und Militärexperte Carlo Masala (Archivbild)

„Wir wissen ganz einfach nicht, ob die russische Föderation auf Zeit spielt, ob sie versucht, ihre Territorial-Gewinne im Osten und im Süden der Ukraine auszubauen“, sagte er im ZDF „heute journal“ am Dienstagabend. Masala machte deutlich: „Das ist letzten Endes das Eingeständnis einer militärischen Niederlage. Man kann Kiew nicht umzingeln, man kann die Stadt nicht einnehmen. Man zieht sich dort zurück, aber wird wird die Truppen wohl woanders einsetzen“. Er warnte davor, zu optimistisch angesichts der russischen Ankündigung zu sein: „Das ist kein Entgegenkommen, das ist eine nette Formulierung dafür, dass Russland dort eine militärische Niederlage erlitten hat.“ Masala ist sich sicher: „Die Truppen werden nicht aus der Ukraine verschwinden, sie werden irgendwo anders zum Kämpfen geschickt.“

Selenskyj und Biden vorsichtig nach russischer Ankündigung

Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach zwar von „positiven Signalen“ bei den Verhandlungen in der Ukraine, zeigte sich aber misstrauisch gegenüber der Ankündigung Moskaus. In einer Videobotschaft in der Nacht zu Mittwoch machte er deutlich: „Diese Signale übertönen nicht die Explosionen russischer Geschosse“, sagte er. „Die Verteidigung der Ukraine ist unsere Aufgabe Nummer eins, alles andere wird davon abgeleitet“, betonte der ukrainische Präsident.

Auch US-Präsident Joe Biden hat auf die russische Ankündigung, die Kampfhandlungen im Norden der Ukraine deutlich zu drosseln, zurückhaltend reagiert. Er wolle die Aussagen nicht bewerten, bis er „die Handlungen“ der russischen Streitkräfte sehen werde, sagte Biden am Dienstag im Weißen Haus. „Wir werden sehen, ob sie das umsetzen, was sie vorschlagen“, sagte er.

Botschafter Melnyk warnt vor „Täuschungsmanöver“

Weniger zögerliche Worte fand der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk: „Wir glauben, diese 'versöhnliche' Rhetorik aus Moskau ist nichts anderes als Bluff und Nebelkerzen, um einerseits von der militärischen Blamage des Kreml in der Ukraine abzulenken“, sagte Melnyk den Zeitungen der Funke-Mediengruppe (Mittwochsausgaben). Er bezeichnete die Ankündigung als „Täuschungsmanöver“.

Ukraine Panzer

Ein ukrainischer Panzer nach Kämpfen um die Stadt Trostianets

„Andererseits geht es heute Putin auch darum, den Westen - auch Deutschland - in die Irre zu führen“, sagte er weiter. Es gehe darum, Friedenswillen vorzutäuschen und dem Westen vorzugaukeln, dass die Ukraine sich auch ohne Unterstützung verteidigen könne. „Diese Zeit wird Russland nutzen, um seine Kräfte umzugruppieren, neue wehrpflichtige Soldaten zu schicken und logistischen Nachschub zu sichern.“ Melnyk forderte, den „Geldstrom, der rund eine Milliarde Euro pro Tage in die Putinsche Kriegskasse spült“, trockenzulegen.

Der Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, forderte im Sender Bild Live den Abzug aller russischen Truppen als Basis für die weiteren Gespräche mit Russland. „Wir können über Normalisierung sprechen, wenn jeder russische Soldat aus unserem Land raus ist“, sagte Klitschko dem TV-Sender. Der Ex-Boxweltmeister erklärte außerdem, dass die ukrainischen Soldaten „eine gute Antwort“ auf die russischen Angriffe gegeben hätten und „den Mythos um die stärkste Armee der Welt vollkommen ruiniert“ hätten.

Am Mittwochmorgen, ein Tag nach der Ankündigung des russischen Teil-Abzugs, ist weit entfernt von einer Waffenruhe. So berichtet der „Economist“-Korrespondent Oliver Carroll etwa von Sirenen-Alarm vor russischen Luftangriffen in Lwiw, nahe der polnischen Grenze. Er twitterte: „Glaubt nicht dem Hype der Deeskalation“.

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Militärexperte Masala erwartet, dass es erst zu einer Einigung oder Waffenstillstand kommen könnte, wenn die Territorial-Fragen geklärt sind. „Die vermeintlichen Durchbrüche bei den Verhandlungen sind nur in den leichten Fragen geschehen, die harten Nüsse kommen erst, wenn man über die Territorialfragen spricht.“ Dabei geht es um die Gebiete Luhansk und Donezk, die Krim und die Landbrücke. Russland erhebt einen Anspruch auf die Gebiete und wird sich wohl kaum von diesem militärischen Minimalziel abbringen lassen. So lang werden die Kämpfe weitergehen. (mit dpa/apf)

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