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Welt-Aids-TagSeit 35 Jahren pflegt Inge Vermeer HIV-Patienten – mittlerweile in ein aktives Leben

6 min
Inge Vermeer (l.) und Clara Lehmann arbeiten in der Infektionsambulanz der Uniklinik Köln. Vermeer hat zu Beginn ihres Berufslebens viele Aids-Patienten in den Tod begleiten müssen. Heute sagt sie: „An HIV stirbt man in Deutschland nicht.“

Inge Vermeer (l.) und Clara Lehmann arbeiten in der Infektionsambulanz der Uniklinik Köln. Vermeer hat zu Beginn ihres Berufslebens viele Aids-Patienten in den Tod begleiten müssen. Heute sagt sie: „An HIV stirbt man in Deutschland nicht.“

Als Inge Vermeer ins Berufsleben startete, starben HIV-Infizierte oft binnen weniger Monate. Heute, 35 Jahre später, hat die Krankheit ihren Schrecken verloren – was zu einem Anstieg der Ansteckungen führt.

Der Mann auf dem Bett trägt einen gestreiften Schlafanzug und hat keine Haare mehr. Er wirkt auf dem weißen Leintuch wie ein zu kleiner Vogel auf einer zu großen Eisscholle. Neben dem Kissen liegt eine Packung Zigaretten, dahinter steht ein voller Aschenbecher. All das beachtet der Mann nicht. Er hat den Blick nach oben gewendet. Zu den Beuteln am Infusionsständer. Andächtig, bittend vielleicht.

Inge Vermeer sitzt im Frühstücksraum der Infektionsambulanz der Uniklinik Köln. 1500 HIV-Patienten werden hier jedes Quartal betreut. Das hellgraue Haar hat sie locker am Hinterkopf zusammengesteckt. Sie lächelt bescheiden, fast so, als wäre es ihr unangenehm, dass jemand sich für ihren Lebensweg interessiert. Wenn man die 60-Jährige fragt, warum sie Krankenpflegerin geworden ist, dann holt sie ein Buch heraus und zeigt Bilder. Zum Beispiel von Jürgen.

Ihn hat sie Anfang der 90er Jahre gepflegt. Das war damals in Berlin, die HIV-Epidemie wütete durch die Welt wie ein Tsunami. Aus Bayern flohen Menschen in die wiedervereinigte Stadt, weil sie Angst vor Zwangsmaßnahmen und einer Art Internierung in Heimen hatten, wie sie der damalige CSU-Bundestagsabgeordnete Horst Seehofer forderte. Die meisten waren einsam, „die Angehörigen haben sich ja oft abgewendet“, sagt Vermeer.

Auf der HIV-Station kehrte die Leidenschaft für den Beruf zurück

Jürgen kotzte, Jürgen hatte Durchfall, Jürgens Gesicht war übersät von schwarzen Flecken. Kaposi-Sarkom. Jürgen starb. Alle starben sie damals. Aber trotzdem sind Jürgen und all die anderen Menschen, denen Inge Vermeer damals half, der Grund, warum sie diesen Beruf liebt. „Ich hatte schon überlegt aufzuhören.“ Dann wurde Vermeer auf der HIV-Station eingesetzt. Und plötzlich kehrte die Leidenschaft für die Pflege zurück. „Niemand wusste, was genau zu tun ist und dadurch gab es Raum, die Dinge selbst zu gestalten. Ärzte und Pfleger arbeiteten plötzlich auf Augenhöhe.“ Berührungsängste hatte sie keine. Dass Vermeer ihr Leben lang Menschen mit HIV pflegen würde, das war seitdem eine abgemachte Sache.

Ein HIV-Schnelltest kann Klarheit bringen und helfen, die Ausbreitung zu stoppen. Geschätzt rund 2.300 Menschen in Deutschland haben sich im vergangenen Jahr neu mit HIV infiziert, teilte das Robert Koch-Institut (RKI) in einer neuen Schätzung mit.

Ein HIV-Schnelltest kann Klarheit bringen und helfen, die Ausbreitung zu stoppen. Geschätzt rund 2.300 Menschen in Deutschland haben sich im vergangenen Jahr neu mit HIV infiziert, teilte das Robert Koch-Institut (RKI) in einer neuen Schätzung mit.

Als Vermeer 1992 an die Uniklinik Köln wechselte, starben Menschen mit HIV im ehemaligen Tuberkulose-Trakt. „Seuchenhaus“ nannte man das. Am Rand der Gesellschaft in gewisser Weise, aber irgendwie auch auf einer Insel des Vertrauens und der Menschlichkeit. Hetero- und Homosexuelle, Männer, Frauen, Arme, Reiche. Ein Besuch der Station macht jedes Klischee zunichte. Da trifft man Anwälte genauso wie Menschen, die kaum lesen können. „Die Patienten kamen schon immer aus allen sozialen Schichten“, sagt Vermeer. Die Krankheit habe sie alle gleich gemacht. „Am Ende steht da jeder in seinem Flügelhemd.“

Als die Kraft der Medizin manche Patienten Ende der 90er noch komplett überrumpelte

Vielleicht hätte Vermeer die ständige Gegenwart des Todes nicht 35 Jahre ausgehalten, wenn die Forschung nicht plötzlich für einen kompletten Paradigmenwechsel gesorgt hätte. Nach einer Pause kehrte sie 1997 zurück auf Station. „Und plötzlich überlebten die Patienten.“ Vermeer strahlt, wenn sie von Menschen erzählt, die die Kraft der Medizin damals zunächst noch komplett überrumpelt hat. „Da gab es Menschen, die hatten abgeschlossen, Haus und Hof verkauft. Sie kamen zu uns in elendigem Zustand. Und dann wurden sie wieder gesund.“

Heilung ist ein großes Wort. Bislang ist eine vollständige Heilung nach einer HIV-Infektion zwar außergewöhnlich selten, doch es gibt beeindruckende Erfolge, die Anlass zur Hoffnung geben. So konnten weltweit bereits einige Patienten durch eine stammzellbasierte Krebstherapie das Virus dauerhaft aus ihrem Körper eliminieren – ein medizinischer Durchbruch, der lange als nahezu unmöglich galt. Darüber hinaus gibt es einzelne dokumentierte Fälle sogenannter funktioneller Heilungen, bei denen Betroffene ohne permanente Medikation langfristig gesund bleiben und das Virus unter Kontrolle halten.

Kerzen bilden eine rote Schleife. Dies ist ein Symbol für den Kampf gegen Aids. Der Welt-Aids-Tag ist am 1. Dezember. (Archivbild)

Kerzen bilden eine rote Schleife. Dies ist ein Symbol für den Kampf gegen Aids. Der Welt-Aids-Tag ist am 1. Dezember. (Archivbild)

Diese Entwicklungen zeigen: Die Forschung bewegt sich in großen Schritten voran, und vieles, was früher undenkbar war, rückt zunehmend in den Bereich des Möglichen. „Wir haben einen Patienten, der seit mehr als sieben Jahren ohne Therapie auskommt, weil sein Immunsystem gelernt hat, HIV zu kontrollieren“, sagt Clara Lehmann, Professorin für Infektiologie an der Uniklinik Köln und Leiterin der Infektionsambulanz.

Aber neben der Suche nach Wegen zur Heilung geht es ja in erster Linie um Lebensqualität. Seit es Mitte der 90er Jahre durch eine Kombinationstherapie gelang, die Viruslast im Körper unter die Nachweisgrenze zu drücken, leben Menschen mit HIV zwar engmaschig betreut, aber weitgehend unbeeinträchtigt. Sind sie antiretroviral therapiert, können sie auch niemanden mehr anstecken. Erfreuliche Sicherheit: „An HIV stirbt man in Deutschland nicht.“

Manchmal weiß nicht einmal die Familie Bescheid

Die gute Nachricht zerrt auch eine schlechte hinter sich her. Aids hat seinen Schrecken verloren, „niemand spricht mehr davon, kaum jemand lässt sich testen, auch die Ärzte bieten den Test zu selten an“, sagt Clara Lehmann. „Ich höre immer wieder beispielsweise von Gynäkologen, dass sie sich scheuten, einen Test anzubieten, weil sie fürchteten, die Patientinnen könnten damit den Vorwurf verbinden, sexuell promisk zu leben.“ Und die Betroffenen selbst fürchteten sich vor einer Stigmatisierung. Denn HIV schleppe weiterhin sein Schmuddel-Image mit sich herum. „Wir haben Patienten, die das nicht mal den engsten Familienmitgliedern erzählen und sich dann hier mit psychosomatischen Symptomen rumschlagen, weil sie so extrem unter Druck stehen“, sagt Lehmann.

Die Folge der Scham: Die Zahl der Infektionen steigt wieder. Laut einer umfassenden Auswertung des Robert-Koch-Instituts haben sich 2024 geschätzt 2300 Personen mit HIV angesteckt, das sind 200 mehr als im Jahr zuvor. „Dieser Anstieg zeigt, dass es weiterer An­stren­gungen bedarf, vor allem, um die ziel­gruppen­spezifischen Testangebote und den Zugang zu Therapie und Prophy­laxe in der Fläche zu verbessern“, betonen die RKI-Forschenden im Epidemio­logischen Bulletin. Angestiegen sind der Auswertung nach die Neuinfektionen bei Homosexuellen ebenso wie bei Heterosexuellen sowie Drogenabhängigen.

Weltweit fehlt häufig das Geld für die Prävention

Über die eigene Infektion Bescheid zu wissen, ist wichtig, um durch Therapien Spätfolgen der Krankheit abzumildern. Aber auch die Prävention spielt laut Lehmann eine immer größere Rolle. Seit 2019 übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen für Risikogruppen die Präexpositions-Prophylaxe, mit der eine Ansteckung ausgeschlossen werden kann. Das Medikament ist auch wichtig für den weltweiten Kampf gegen das Virus. So profitieren davon auch viele afrikanische Staaten.

„Seit sich die Entwicklungsbehörde USAID nach Mittelkürzungen durch die Regierung Trump aber aus vielen dieser Programme zurückzieht, fehlt häufig das Geld für die Bereitstellung der antiretroviralen Medikamente, Präventionsprogramme, sowie Maßnahmen zur Verhinderung der Mutter-Kind-Übertragung – was direkt zu einem Anstieg von Sterblichkeit und Neuinfektionen führt“, sagt Lehmann und befürchtet, dass die HIV-Epidemie, aber auch Infektionen wie Tuberkulose in ärmeren Regionen der Welt in der Folge wieder Fahrt aufnehmen könnte. Modellierungsstudien schätzen übereinstimmend, dass ein Stopp der Unterstützung durch USAID in den kommenden fünf Jahren zu vier bis zehn Millionen neuen HIV-Infektionen führen könnte.

Inge Vermeers Berufsleben gleicht trotzdem einer Gipfelbesteigung. Raus aus dem finsteren Tal, nach beschwerlichem Anstieg scheint heute überwiegend die Sonne. Zum Beispiel dann, wenn sie an einen ihrer Lieblingspatienten denkt, der tauchte vor etwa zehn Jahren an der Uniklinik auf. „Ein sehr netter Mann mit Ehefrau, anständig, fast schon biederer Lebensentwurf. Und dann ereilt ihn im Rahmen einer Krebsdiagnose die Botschaft, dass er auch HIV-positiv ist.“

Die Beziehung gerät in eine schwierige Phase, schließlich steht die Frage im Raum, wie es zu einer Ansteckung kommen konnte, denn die Ehefrau ist negativ. „Wir mussten ihn hier auch menschlich auffangen, ebenso wie die Frau. Beide hangelten sich durch depressive Phasen“, sagt Vermeer. Aber manch steiniger Weg endet an einem wunderschönen Ort. „Heute ist das ein gestandener Mann, die Beziehung intakt“, sagt Vermeer. Und bald erwartet man auch wieder seine Weihnachtsbriefe. Die schreibt er jedes Jahr für all jene, die an den Feiertagen Dienst schieben müssen. Um Danke zu sagen.