Drei Viertel gerodetAuf Vancouver Island tobt ein Kampf um den uralten Regenwald

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Auf Vancouver Island prallen Umweltschützer, indigene Völker und Industrie im Kampf um einen uralten Regenwald aufeinander.

Vancouver – Die Flechte, mit der Umweltaktivisten wie Joshua Wright die Abholzung eines Stücks Regenwald verhindern wollen, macht für das ungeübte Auge nicht viel her: ein grünes Geflecht auf der Rinde eines gigantischen Baumes, eingebettet in Moos. Der 19-jährige Wright hat es beim Wandern auf Vancouver Island entdeckt. Hier, wo die Bäume mehr als 40, 50, 60 Meter hoch wachsen, plant eine lokale Holzfirma in einem bislang unberührten Waldstück Rodungen.

„Das hier ist eine extrem seltene Flechte. Sie wurde in British Columbia erst an 53 Stellen nachgewiesen, und viele von ihnen wurden bereits abgeholzt“, sagt Wright. „Aber dieses Areal hier wurde noch nicht von der Provinzregierung zur Rodung freigegeben. Wir können versuchen zu verhindern, dass es dazu kommt.“

Parallelen zur Besetzung des Hambacher Forsts

Die Flechte, bekannt als „oldgrowth specklebelly lichen“, ist in diesem Kontext mehr als eine schützenswerte Art: Sie ist Symbol und Mittel einer Protestbewegung, die das industrielle Abholzen hunderte Jahre alter Bäume auf Vancouver Island stoppen will. Die Proteste, die im August 2020 mit Blockaden in den Wäldern um die Wasserscheide Fairy Creek begannen, gelten als größter Akt zivilen Ungehorsams in der kanadischen Geschichte. Für deutsche Beobachter wecken sie Erinnerungen an die Besetzung des Hambacher Forsts.

Auch auf Vancouver Island geht es um Klima- und Artenschutz in Zeiten der Erderwärmung, auch hier kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen von Polizei und Aktivisten. Doch die Konfliktlinien sind komplizierter. Denn auf der Insel stehen sich nicht nur Umweltschützer und Industrie gegenüber. Es geht dort auch um die Rechte Kanadas indigener Bevölkerung auf ihrem Territorium.

Der Biologe: „Wir hatten früher keine Ahnung, wie bedeutend diese Bäume sind“

Vancouver Island ist eine Insel von der Größe Belgiens an der kanadischen Pazifikküste. Wenn der Botaniker Trevor Goward über ihre Wälder spricht, bezeichnet er sie gern als „antik“. Die Bäume, die hier wachsen, sind teils mehrere tausend Jahre alt, das Ökosystem, das sie umgibt, noch viel älter. Ihre Wipfel sieht nur, wer den Kopf tief in den Nacken legt. Das Unterholz wächst hier dicht und hoch. Bei den Wäldern um Fairy Creek handelt es sich um gemäßigte Küstenregenwälder: feuchte, dichte, artenreiche Systeme mit Nadelbäumen darin, deren Stämme einen Durchmesser von mehreren Metern erreichen.

„Als wir diese Bäume in den 50er-Jahren gerodet haben, hatten wir keine Ahnung, wie bedeutend sie sind“, sagt Trevor Goward. „Aber heute wissen wir das. Und doch hat sich nichts geändert.“ Die Wälder sind durch Rodungen geschrumpft, durchzogen von kahlen Stellen, ersetzt durch eine lichtere, junge Bepflanzung. Der Umweltorganisation Canopy zufolge wurden bislang drei Viertel der sogenannten produktiven alten Regenwälder auf Vancouver Island gerodet. Ein Bericht dreier Ökologen kam 2020 zu dem Ergebnis, dass nur noch drei Prozent aller Wälder in der Provinz British Columbia die uralten Baumriesen beherbergen, für die die Region bekannt ist.

Die Protestbewegung: „Wir haben eine gesamte Generation radikalisiert“

Proteste gegen das Abholzen der Regen- und Altwälder sind nicht neu in British Columbia. In den 90er-Jahren wurden beim sogenannten War in the Woods („Krieg im Wald“) mehr als 800 Demonstrierende verhaftet. Doch als Joshua Wright, ein Teenager aus dem US-Bundesstaat Washington State, im Sommer 2020 auf Satellitenbildern eine neue Forststraße entdeckte, trat er damit eine Protestbewegung los, die diese Zahlen noch übertreffen würde.

Die Forststraße befand sich in der Nähe der bislang unberührten Wasserscheide von Fairy Creek, einer Landschaft, die „nach hundert Jahren industrieller Holzwirtschaft extrem selten“ geworden ist, sagt Wright. „Ich habe alle Umweltschützer kontaktiert, die ich kannte.“ Aktivistinnen und Aktivisten errichteten daraufhin Protestcamps in den Wäldern, blockierten die Arbeit der verantwortlichen Forstfirma Teal Jones. Diese wiederum erwirkte eine einstweilige Verfügung. Bei den darauffolgenden Polizeieinsätzen wurden fast 1200 Menschen verhaftet.

Seit Juni gibt es keine Blockaden mehr nahe Fairy Creek. Stattdessen organisieren Mitglieder der Bewegung Demonstrationen in den Städten, sie blockieren Autobahnen oder dokumentieren wie Joshua seltene Spezies in den Wäldern. „Wir befinden uns derzeit definitiv in einer Erholungsphase“, sagt Wright. „Aber die Rodungen werden fortgesetzt, also werden wir auch unsere Proteste fortsetzen. Wir haben eine ganze Generation radikalisiert, die bereit ist, aufzustehen und für den Erhalt des Ökosystems zu kämpfen.“

Die First Nations: „Wir versuchen, eine Balance herzustellen“

Doch die indigenen Völker, die schon tausende Jahre vor der Ankunft europäischer Schiffe auf Vancouver Island lebten, haben die Proteste auf ihrem Land mehrfach scharf kritisiert. „Die Demonstranten sind ohne Erlaubnis in unser traditionelles Territorium eingedrungen“, sagt Chief Councilor Brian Tate, gewähltes Oberhaupt der Ditidaht First Nation im Südosten von Vancouver Island. „Sie haben uns nie nach unserer Position gefragt.“

Die Forstwirtschaft ist für First Nations wie die Ditidaht eine zentrale Einnahmequelle: Ihr traditionelles Territorium liegt in einem entlegenen Teil von Vancouver Island, etwa eineinhalb Stunden südlich der Stadt Port Alberni. „Wir waren immer eine sehr isolierte Gemeinschaft“, sagt Tate. „Es gibt hier wenig Jobmöglichkeiten.“ Die Ditidaht haben eine eigene Wirtschaftsförderungsgesellschaft mit zwölf Angestellten, sie betreiben einen Campingplatz und ein Motel, eine Tankstelle mit angeschlossenem Geschäft und eben: Forstwirtschaft.

Aktuell erarbeitet der Stamm einen Bewirtschaftungsplan für das eigene Territorium. „Wir versuchen, eine Balance zwischen Wirtschaft, Kultur und Natur herzustellen. Es geht uns nicht darum, alles abzuernten“, sagt Tate. „Tiere und Altwald werden auf unserem Territorium geschützt sein.“ Den Ditidaht sei wichtig, dass „nichts auf unserem Territorium ohne unser Wissen und unsere Zustimmung geschieht“.

Darauf haben die indigenen Völker in British Columbia ein Recht, nicht nur moralisch, sondern ganz offiziell: Denn anders als im Rest Kanadas schloss die britische Krone hier im 18. und 19. Jahrhundert nahezu keine Verträge mit First Nations. Die Siedler erwarben also nie offiziell Land – und die First Nations traten es nie offiziell ab.

In einem wegweisenden Urteil entschied der kanadische Supreme Court 1997, dass die indigenen Stämme nach wie vor einen Rechtsanspruch auf ihr traditionelles Territorium haben. Bei Projekten auf Land, das sich heute im Besitz des Staates befindet, muss die Regierung die betroffenen First Nations konsultieren und gegebenenfalls entschädigen. Außerdem werden derzeit zahlreiche Verträge zwischen beiden Seiten ausgehandelt.

Die Forstindustrie: „Ohne Zugang zu den hochwertigen Stämmen ist unser Geschäft unwirtschaftlich“

Auch Forstfirmen und First Nations arbeiten zuletzt immer enger zusammen: Sie gründen Joint Ventures, teilen sich Einnahmen oder schließen Absichtserklärungen zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Die Pacheedaht First Nation, auf deren Territorium sich ein Großteil der Fairy-Creek-Proteste abspielte, arbeitet beispielsweise seit mehr als 15 Jahren mit der Forstfirma Teal Jones zusammen.

Die Verarbeitung der Altbäume ist lukrativ für die lokale Forstwirtschaft, die in den vergangenen Jahren stark unter Borkenkäferplagen, Waldbränden und Handelsstreitigkeiten mit den USA gelitten hat. „Wenn wir altes Holz ernten, tun wir das, weil wir damit einen sehr hochwertigen Stamm erhalten, den wir dann zu Gitarrenköpfen, Möbeln und hochwertigem Schnittholz für den nationalen und internationalen Markt verarbeiten“, sagt Conrad Browne, Direktor für indigene Angelegenheiten bei Teal Jones. „Ohne Zugang zu diesen hochwertigen Stämmen wäre es sehr unwirtschaftlich, die jüngeren Stämme zu ernten.“ Die Firma betont, dass bereits zahlreiche Altbäume geschützt und damit von Rodungen ausgenommen seien.

Wie komplex der Spagat zwischen dem Schutz der Wälder, indigenen Rechten und Wirtschaft in der Praxis ist, zeigt das Handeln der Provinzregierung. Vergangenes Jahr kündigte sie an, Rodungen auf 2,6 Millionen Hektar akut bedrohtem Altwald aussetzen zu wollen – sofern die mehr als 200 betroffenen First Nations dem zustimmten. Einige Völker lehnten den Vorschlag ab, andere erbaten sich mehr Zeit für die Entscheidung. Bislang wurden die Rodungen so auf lediglich 1,7 Millionen Hektar Fläche ausgesetzt.

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Für Umweltschützer und indigene Gruppen steht fest, dass die Regierung mehr Geld in die Hand nehmen muss. Die „Union of British Columbia Indian Chiefs“, ein Zusammenschluss der indigenen Völker in der Region, fordert „umfassende und dringende finanzielle Unterstützung für First Nations“, damit Rodungsaufschübe umgesetzt werden könnten. „Die First Nations haben nicht wirklich eine Wahl, wenn die Option ist, entweder zu roden oder gar keine Einnahmen zu haben“, sagt auch Joshua Wright.

Die Provinz stellt bereits Gelder für Wirtschaft, Gemeinden und First Nations bereit. Eine langfristige Strategie steht jedoch noch aus. Das Ringen um die Altwälder läuft also weiter – auch in dem Waldstück mit der seltenen Flechte. Auf Anfrage der kanadischen Tageszeitung „The Globe and Mail“ teilt die Forstfirma Teal Jones mit, das Unternehmen werde nach bedrohten Arten suchen, bevor es einen Abholzungsplan bei der Provinz einreiche. Beim Forstministerium heißt es, die Flechte stehe nicht auf der Liste akut bedrohter Arten.

Für den Botaniker Trevor Goward sind das nur Details. „Es geht hier nicht um eine bestimmte Flechte, oder einen bestimmten Baum“, sagt er. Der Mann, der Pflanzen erforscht, blickt allein auf den tausende Jahre alten Wald. „Er wird nie, nie wieder in seiner jetzigen Form nachwachsen, wenn wir ihn fällen.“  

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