Hunger nach Schönheit

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Auch der viele Wirbel um ihre Model-Show hat Heidi Klum keine bessere Quote verschafft.

Auch der viele Wirbel um ihre Model-Show hat Heidi Klum keine bessere Quote verschafft.

Wie der Schlankheitswahn Schritt für Schritt die Laufstege eroberte.

Köln - „Es ist besser dünn zu sein und tot als fett und lebendig.“ Diese Botschaft verkünden Internet-Seiten, auf denen Mädchen und Frauen anonym der Magersucht und Bulimie ihre Reverenz erweisen. „Superschlank zu sein und nichts zu essen sind Beweise für wahre Willensstärke und Erfolg“, heißt es da. Fixiert auf Kalorien und Kummer-Attacken geht das Model-Casting „Germany's Next Topmodel“ mit Heidi Klum offenbar an dieser Hardcore-Hungerriege vorbei, denn dort verliert keine Einzige ein Wort über die öde TV-Parade, aufgemotzt mit zwei 1000-Euro-Fragen ans Publikum und kühl kalkuliertem Zicken-Alarm.

Als verantwortungsloses Spiel mit den Sehnsüchten und Schönheitsidealen kritisiert hingegen Helen Hertzsch, Vorsitzende des Selbsthilfe-Vereins „Hungrig-Online“ die TV-Serie: „Wir befürchten, dass sich viele Mädchen und Frauen durch den in der Show propagierten Schlankheitswahn anstecken lassen und jetzt erst recht in eine Essstörung rutschen.“ Die angeblich größte Online-Selbsthilfegruppe dieser Art nimmt vor allem Anstoß daran, dass eine Kandidatin bei einer Körpergröße von 176 Zentimetern und mit einem Gewicht von 52 Kilo als zu dick ausscheiden musste, weil der Taillenumfang das Traummaß um zwei Zentimeter überschritten habe. Um den Chor der Kritiker zu dämpfen, stellten sich die Möchtegern-Models im Push-up-Büstenhalter für eine Anzeige in Positur und fragten: „Sind wir zu dünn?“

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Empört über die Fleischbeschau der 16- bis 22-Jährigen bei Pro Sieben hatten sich Politiker, deren Namen jeder kennt, weil sie sich auf jedes populäre Thema stürzen. Die Kommentare der Fachleute wie die des Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Professor Michael Schulte-Markwort fielen eher zurückhaltend aus: Dass Mädchen durch eine Sendung zum Hungern verführt würden, hält er für ziemlich unwahrscheinlich, allenfalls bestätige Heidi Klum das Schönheitsideal. Denn für Essstörungen von der Mager- bis zur Fettsucht gibt es Dutzende von Ursachen: Zu den oft zu spät erkannten Problemen in der Familie (Tod, Trennung, Dauer-Konflikte mit den Eltern, sexueller Missbrauch) können psychische Gründe wie die Angst vor dem Erwachsenwerden oder sozio-kulturelle und eventuell gar genetische Faktoren eine Rolle spielen. Die Britin Sarah McCluskey, spezialisiert auf die Behandlung von Essstörungen, beschreibt die Krankheit als „Patchwork“-Syndrom mit gemeinsamem Nenner: Allen Patientinnen mangelt es an Selbstwertgefühl.

Der Wunsch, als Model Karriere zu machen, ist wohl kaum ein Grund für Magersucht oder Bulimie (Ess-Brech-Sucht), verfolgt man die Lebensläufe der Top-Models in den letzten 15 Jahren. Nicht wenige waren schon magersüchtig, bevor sie mit 13, 14 Jahren entdeckt wurden. Kate Moss, die mit 14 oben ohne für eine US-Jeans-Marke warb, entwickelte sich zum Star einer ganzen Model-Generation. Was haben sich die Hochglanz-Blätter nicht alles einfallen lassen, um Moss und Co zu definieren: Gassenjungen, Chorknaben, Engel und Elfen.

„Diese Bildwelt suggeriert Krankheit, Armut und nervöse Erschöpfung“, kommentierte die US-Historikerin Ann Hollander die Szenen auf den Laufstegen. „Heroin Chic“ wurde zum Schlagwort, bevor Kate Moss zum Drogen-Entzug in die Klinik musste. Die ausgemergelten Gestalten in edlem Stoff dokumentieren einen weiteren Schritt in einer grotesken Entwicklung. Dem Schönheitswahn wird das letzte Gramm femininen Fetts geopfert.

Das Vorspiel dazu begann in den 20er Jahren, als der weibliche Körper dem Käfig des Korsetts entkam, auch wenn Magersucht bereits 1868 in der medizinischen Literatur erwähnt wurde. Die Geschichte des lebensgefährlichen Fastens lässt sich freilich bis zu den Heiligen der frühchristlichen Kirche zurückverfolgen. Zu einem Massenphänomen wurde der Hungerkurs aber erst in den Roaring Twenties, als das Haar zum Bubikopf gekappt wurde und das Hängerchen die Taille umspielte. Die neue Mode fiel zusammen mit der rasanten Entwicklung von Fotografie und Film für jedermann. Und da auf Bildern ohnehin jeder um fünf Kilogramm dicker erscheint, begannen die Maße der Frauen zu schrumpfen.

In den 20er und 30er Jahren präsentierten Filmstars wie Mae West und Jean Harlow zwar noch ungeniert ihre Kurven, aber Marlene Dietrich unterwarf sich bereits einer rigiden Diät und ließ sich Backenzähne ziehen, um mit einem schmaleren Gesicht in die Kameras zu schauen. Und die Herzogin von Windsor avancierte für die Reichen des westlichen Welt zum Idol: Ein Kleiderbügel zur Freude der Pariser Modehäuser. Von ihr stammt auch das Leitmotiv eines Lebens im Scheinwerferlicht, das bis heute nichts von seiner Gültigkeit verloren zu haben scheint: „Eine Frau kann niemals zu reich oder zu dünn sein.“

Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen kurzfristig weibliche Rundungen wieder in Mode mit Marilyn Monroe, Jayne Mansfield und Sophia Loren. Mit ihren Pfunden hätten all diese Schönen heute auf der Leinwand keine Chance, und als Models käme für sie allenfalls X-plus in Frage. In den 60er Jahren machte dann Twiggy als das „bestbezahlte Bügelbrett der Welt“ Karriere. Jackie Kennedy und Audrey Hepburn gaben der Diät-Industrie Auftrieb, Maria Callas ließ sich einen Bandwurm zuführen, um ihr Gewicht um mehr als die Hälfte zu reduzieren.

Als Naomi Wolf vor 15 Jahren mit ihrem Buch „Der Mythos Schönheit“ den Schlankheitswahn der westlichen Wohlstandsgesellschaft aufs Korn nahm, lag das Gewicht der Models bei 25 Prozent unter dem Normalgewicht, inzwischen nähert es sich der 40-Prozent-Marke. Zwar taucht alle Jahre wieder auf irgendeiner Schau in Paris ein normalgewichtiges Mannequin wie einst Sophie Dahl auf - ein Überraschungsgast, mehr nicht.

„Die Realitäten für Frauen waren bis Anfang des vorigen Jahrhunderts hart: Tod im Kindbett, keine politischen und finanziellen Rechte. Aber wenigstens konnten die Frauen selbst die Form ihres Körpers bestimmen“, schreibt die US-Autorin Erica Jong. Als Teenager hatte sie sich fast zu Tode gehungert, bevor sie in der Mitte des Lebens den Schlankheitswahn als Trick der Spezies Mann enttarnte - als Diktat der Frauen hassenden und Knaben liebenden Designer, der Fotografen, der Studio-Leiter und der Fernsehchefs.

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