Viktoria-KinoEismann aus Leidenschaft

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Helmut Hüttig arbeitet seit 1979 im Viktoria-Kino. (Bild: Christopher Arlinghaus)

Helmut Hüttig arbeitet seit 1979 im Viktoria-Kino. (Bild: Christopher Arlinghaus)

Bergisch Gladbach – „Eis bitte jemand?“ Seit Jahrzehnten ist diese Frage im Bergisch Gladbacher Viktoria-Kino zu hören. Jedes Mal nach der Werbung, bevor der Hauptfilm beginnt, ruft der Eisverkäufer sie in den Saal. Den Namen des Mannes dahinter kennen die wenigsten, obwohl er in Bergisch Gladbach mindestens genauso bekannt ist wie Heidi Klum. „Das ist doch der Eisverkäufer im Viktoria-Kino“, wird er meistens beschrieben. Mit bürgerlichem Namen heißt er Helmut Hüttig. Der 61-Jährige stammt aus Overath-Untereschbach. Dort wuchs er auf und ging zur Schule. Das Kino war immer seine große Leidenschaft. Zu jedem neuen Film fuhr er ins damalige „Filmtheater Bensberg“. Eines Tages fragte ihn die Kassiererin, ob er nicht vor dem Film Karten abreißen wolle. Klar wollte er – den folgenden Film konnte er dafür umsonst sehen.

Nach der Schule leistete Hüttig seinen Wehrdienst in der Hermann-Löns-Kaserne in Bergisch Gladbach und hatte verschiedene Jobs. Nebenbei arbeitete er immer im Kino. Zunächst weiter in Bensberg, ab 1969 in Bergisch Gladbach. Im Jahr 1979 hängte er seinen Job als Gärtner bei Stadt an den Nagel und arbeitete in Vollzeit im Viktoria-Kino. Die passende Wohnung hatte er schnell gefunden: im alten „Waatsack“, schräg über dem Kino. „Da bin ich immer pünktlich auf der Arbeit“, sagte er. Ein eigenes Telefon hat Hüttig nicht. „Wer mich erreichen will, ruft im Kino an.“

Die tägliche Arbeit beginnt für den 61-Jährigen immer um 14 Uhr. Er verkauft Karten, Getränke, Leckereien und plaudert gern mit Besuchern. Zwischendurch geht er in einen kleinen Raum im ersten Stock und startet den Filmprojektor. Nach der Abendvorstellung, die um 20.15 Uhr beginnt, ist für Hüttig Dienstschluss.

Legendär ist er als Eisverkäufer. Dabei schwört er auf die Wirkung seines etablierten Spruchs: „Eis bitte jemand?“ Das machte ihn so bekannt, dass er damit 1993 auf der Abiturfeier des Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium auftrat. Der Saal des Bergischen Löwen war damals prall gefüllt. Der Vorhang ging zu, das Licht aus. Nur ein Spotlight strahlte in Richtung Bühne. Plötzlich stand Hüttig im gleißenden Licht und rief: „Eis bitte jemand?“ Der Saal tobte.

Weitere Bekanntheit erlangte Hüttig im April 2000, wenn auch unfreiwillig. Bei einem Überfall auf das Kino wurde er angeschossen. An einem Sonntagabend stand plötzlich ein Mann mit Motorradhelm im Foyer des Kinos. Wortlos zog der Mann eine Pistole. Eine Weile standen die beiden sich stumm gegenüber. „Gib das Geld“, sagte der Mann endlich. „Geld ist weg“, entgegnete Hüttig, wohl wissend, dass die Geldkassette mit den Tageseinnahmen nur zwei Meter neben der Kasse lag. Um nachzuschauen, ging der Mann um die Theke herum auf Hüttig zu. Plötzlich bemerkte Hüttig ein Zwicken im Bein. Der Räuber sah die Geldkassette, nahm sie und stürmte davon. Hüttig stand noch verdattert im Vorraum, als er eine dicke Blutspur an seinen Füßen entdeckte. Der Täter hatte ihm durch beide Beine geschossen. In Windeseile rief er einen Krankenwagen, dann informierte er seinen Chef, anschließend die Polizei. Ein Jahr später wurde der Täter in Österreich gefasst, nachdem er einen Menschen erschossen hatte. Hüttig reiste zum Prozess und sagte gegen ihn aus.

Nach wenigen Tagen im Krankenhaus stand er wieder im Kino hinterm Tresen. Plötzlich war er Stadtgespräch, viele Kinobesucher kamen und fragten, wie es war. Hüttig ist ein unaufgeregter Mann. „Wenn man mit Geld arbeitet, muss man mit einem Überfall rechnen“, sagte er. Wichtig sei gewesen, ruhig zu bleiben. In manchem Actionfilm hätte der Bedrohte die Schrotflinte unter der Ladentheke hervorgezogen und den Räuber blitzschnell niedergestreckt. Für Hüttig haben solche Szenen nichts mit der Realität zu tun. Er ist absoluter Filmfan, hat in seinem Leben „so 5000 bis 6000“ Werke gesehen. Aber sich in der Traumwelt der Filme zu verlieren, kommt für ihn nicht in Frage. „Für das richtige Leben kann man da kaum etwas lernen. Filme sind einfach Unterhaltung.“

Und seine Realität ist nun einmal das Viktoria-Kino in Bergisch Gladbach. Wenn er in der Stadt unterwegs ist, wird er immer wieder nach den neuesten Filmen gefragt. „Ich erzähle dann immer kurz, worum es geht.“ Zweimal pro Woche fährt Hüttig nach Untereschbach und besucht seine Mutter. Laster hat er nicht: zwei Tassen Kaffee am Tag, kein Alkohol, keine Zigaretten. Einzig am Samstag verlässt er die beschauliche Welt des Kinos. Dann ist sein freier Tag, Hüttig geht in der Sportbar nebenan Fußball schauen und drückt seinem Lieblingsclub, dem 1. FC Köln, die Daumen.

Im Augenblick läuft es nicht so gut. Aber Hüttig ist sich sicher, dass es besser wird. „Ich lebe ein normales Leben und arbeite gerne im Kino“, sagt er über sich. Wie lange er das noch macht? „Ich bin jetzt 61 Jahre, könnte mir das aber auch über das Rentenalter hinaus vorstellen.“ Es passt eben gut. Die Liebe zu Filmen, Kinoluft und die Wohnung darüber.

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