GedenkminuteChemie-Explosion bei Currenta in Leverkusen ist noch nicht aufgearbeitet

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Eine riesige Rauchwolke zieht nach der Explosion in der Bürriger Sondermüll-Verbrennung über Leverkusen.

Am Donnerstag jährt sich das größte Chemie-Unglück nach dem Krieg zum zweiten Mal. Chempark-Betreiber Currenta wird um 9.37 Uhr eine Gedenkminute abhalten.

Um 9.37 Uhr soll überall bei Currenta der sieben Toten und 31 Verletzten vom 27. Juli 2021 gedacht werden.

Es gibt offizielle Gedenkorte. Und eine inoffiziellen. An dem kommt vorbei, wer vom Parkplatz des Bürriger Entsorgungszentrums in Richtung Pforte geht. Er liegt neben einer Treppe in der Böschung. Eine Menge Grablichter stehen da im Schotter, Blumen, ein betender Engel.

Das ist viel weniger repräsentativ als der Gedenkort, den Currenta vor der Leitstelle der Sondermüll-Verbrennung hat bauen lassen. Eine kreisrunde Anlage mit Stelen, auf denen die Namen der sieben Opfer vermerkt sind. Wer dort steht, schaut auf die Batterie der Öfen – den eigentlichen Ausgangspunkt der Katastrophe sieht er nicht: das Tanklager im Norden der Verbrennungsanlage.  

Der inoffizielle Gedenkort zwischen Parkplatz und Pforte in Bürrig

Der inoffizielle Gedenkort zwischen Parkplatz und Pforte in Bürrig

Das ist aber auch gar nicht nötig. Zwei Jahre nach der Katastrophe vom 27. Juli 2021 ist die Sache in keiner Hinsicht aufgearbeitet oder verarbeitet. Deshalb hat die Currenta-Geschäftsführung eine Gedenkminute angeordnet. Am Donnerstag um 9.37 Uhr soll der sieben Toten und 31 Verletzten gedacht werden.

Die juristische Aufarbeitung läuft immer noch ausschließlich hinter den verschlossenen Türen bei der Kölner Staatsanwaltschaft, eine Anklage ist dabei noch nicht herausgekommen. In der Behörde arbeitet man auch zwei Jahre nach der Explosion an der Aufklärung. Die ist offenbar komplex. Sieben Menschen kamen am 27. Juli 2021 zu Tode, darunter eigene Mitarbeiter, auch von einer Fremdfirma, 31 Personen wurden verletzt.

Die Zeugen sind gehört – das reicht aber nicht

Ermittelt wird nach wie vor wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung und des fahrlässigen Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion gegen vier Personen. Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer schreibt auf Anfrage des „Leverkusener Anzeiger“: „Die Ermittlungen in dem Verfahren dauern weiter an. Zwar sind die Zeugenvernehmungen weitgehend abgeschlossen. Die sehr komplexen Auswertungen technischer Unterlagen durch Sachverständige sowie interner und externer E-Mailkommunikation werden aber noch geraume Zeit in Anspruch nehmen. Auf diese Erkenntnisquellen sind wir zur weiteren tatsächlichen und rechtlichen Bewertung des Sachverhalts zwingend angewiesen. Wann die Ermittlungen zu einem Ende kommen werden, kann ich derzeit nicht prognostizieren.“

In die Ermittlungen sollen Spezialisten eingebunden sein, die in der Lage sind, Firmenstrukturen und die Hierarchie-Ebenen in großen Firmen zu durchschauen und die Prozesse zu bewerten. Wer in der Firma erlässt Vorgaben? Wie ist die Unternehmenskultur, wie wird mit Regeln umgegangen? Das sind mögliche Fragen, die in einer späteren Verhandlung behandelt werden könnten – wenn die Staatsanwaltschaft Anklage erhebt. Die Verjährungsfrist bei fahrlässiger Tötung läuft fünf Jahre.

Manche wollten offenbar nur noch weg

Die Belegschaft, die die vier inzwischen wieder in Betrieb genommenen Verbrennungsöfen unter Feuer hält, verlor nicht nur durch das Unglück selbst Mitarbeiter. Auch im Nachgang soll es Mitarbeiter gegeben haben, die die Arbeit in der Anlage nicht mehr machen wollten. Auch nach zwei Jahren noch fehlt dort Personal – dem Vernehmen nach.

Dass die Explosion und der nachfolgende Großbrand in der Belegschaft noch lange nicht verarbeitet ist, liegt längst nicht nur an besonderen Schicksalen wie dem von Thomas Hermann, der an jenem Dienstag seinen besten Freund verloren hat. Auch ein Mann wie Piotr Stafeij knabbert an dem Unglück, obwohl er damals noch gar nicht in Bürrig gearbeitet hat, sondern in Dormagen. Aber: Stafeij ist Nachfolger des Leiters der Anlage. Der ist bei der Explosion ums Leben gekommen. Ob man sich auf einen Posten bewerben soll, der aus dem tragischst denkbaren Grund frei geworden ist? Stafeij hat lange mit sich gerungen, sagt er.   

Unterdessen hat es die Kombination aus wissenschaftlicher Begutachtung durch das Team um den Sicherheitsexperten Christian Jochum und einer unbegrenzt geltenden Betriebsgenehmigung Currenta ermöglicht, die havarierte Anlage beinahe wieder im normalen Maß laufen zu lassen. Beide Drehrohröfen sind wieder am Netz, ebenso die Klärschlammverbrennung.

Alles läuft wieder – nur nicht gleichzeitig

Dass beide Öfen nicht gleichzeitig laufen, hat nichts mit Sicherheitsbedenken zu tun, sondern mit dem eingeschränkten Aufkommen an Chemiemüll. Das liegt zwar auch daran, dass in Bürrig zwar immer mehr verbrannt werden kann – aber noch nicht alles, was vor der Katastrophe angeliefert wurde.

Doch das ist nicht der einzige Grund: Dass die Kapazität der Anlage von rund 200.000 Tonnen pro Jahr bei weitem nicht ausgereizt wird, hat auch mit strukturellen Veränderungen im Geschäft mit Chemiemüll zu tun. „Das Abfall-Geschäft ändert sich derzeit stark“, hat Currentas Technischer Geschäftsführer Hans Gennen dem „Leverkusener Anzeiger“ vor gut zwei Monaten gesagt. Mancher Stoff werde womöglich für immer ausfallen, weil es sich bei den gestiegenen Energiekosten in Deutschland und Europa nicht mehr lohnt, ihn hier herzustellen.   

Alles in allem nähert sich der Chempark-Betreiber aber Schritt für Schritt dem Normalbetrieb. Das ist umso einfacher, als es aller Wahrscheinlichkeit auch ohne ein neues Tanklager gehen wird. Das hätte an anderer Stelle des Entsorgungszentrums errichtet werden und langwierig genehmigt werden müssen. Diese Hürde kann Currenta wohl umgehen.

Es ist dieses scheibchenweise Herantasten an die Situation vor der Explosion, die von manchen Nachbarn argwöhnisch betrachtet wird. Die Grundsatzfrage, ob so ein Störfallbetrieb in die Nähe vieler Wohnhäuser gehört, ist längst in den Hintergrund getreten. Das stößt auch der „Coordination gegen Bayer-Gefahren“ auf. Die organisierten Konzernkritiker bemängeln: „Die Zeichen stehen auf ‚Business as usual’. Die Currenta tut alles dafür, um aus der Entsorgung wieder ein lukratives Geschäftsfeld machen zu können, und die Bezirksregierung unterstützt dieses Anliegen tatkräftig.“ 

Am Donnerstag veranstaltet die „Coordination“ eine Kundgebung vor dem Rathaus in Wiesdorf. Auch eine Ausstellung zum Thema wird zu sehen sein. Dieses Gedenken an die Katastrophe vor zwei Jahren beginnt um 15 Uhr. Es wird länger dauern als eine Minute. 

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