Geburtstag einer ÜberlebendenRösrath schenkt Philomena Franz eine Tagung zum 100.

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Als erster Antiziganismus-Beauftragter, den eine Bundesregierung berief, sprach Mehmet Gürcan Daimagüler.

Als erster Antiziganismus-Beauftragter, den eine Bundesregierung berief, sprach Mehmet Gürcan Daimagüler.

Rösrath – Ein aufsehenerregendes Geschenk erhielt Philomena Franz: An ihrem 100. Geburtstag erlebte sie eine ihr gewidmete Tagung in Schloss Eulenbroich. „Ich freue mich wahnsinnig, dass Sie so zahlreich erschienen sind“, sagte sie zum Publikum im voll besetzten Bergischen Saal.

Umfangreiches Programm

Die Beiträge zur Tagung blickten auf die Lebensleistung der Zeitzeugin ebenso wie die Ausgrenzung und Verfolgung von Sinti und Roma. Der Verein Philomena-Franz-Forum stellte das Programm auf die Beine, Persönlichkeiten aus Politik und Wissenschaft sagten zu.

Bergisch Gladbachs Bürgermeister Frank Stein gratulierte Philomena Franz (M.), begleitet von Barbara Brauner, im Namen der Stadt.

Bergisch Gladbachs Bürgermeister Frank Stein gratulierte Philomena Franz (M.), begleitet von Barbara Brauner, im Namen der Stadt.

Zum 100. Geburtstag gratulierte auch Frank Stein (SPD), Bürgermeister der Stadt Bergisch Gladbach, die Philomena Franz im Vorjahr mit der Ehrenbürgerschaft auszeichnete. Mit ihrem Lebensmotto, zu lieben statt zu hassen, sei sie „ein großes Vorbild für viele Menschen“.

Lob für Bergisch Gladbach

Matthias Buth, Vorsitzender des Philomena-Franz-Forums, lobte den Gladbacher Umgang mit der Jubilarin – angesichts der immer noch nicht abgeschlossenen Rösrather Diskussion über eine Ehrung von Franz.

Auch Mehmet Gürcan Daimagüler, Romeo Franz und Matthias Buth (v. l.) überbrachten ihre guten Wünsche an Philomena Franz.

Auch Mehmet Gürcan Daimagüler, Romeo Franz und Matthias Buth (v. l.) überbrachten ihre guten Wünsche an Philomena Franz.

Als Politiker und Neffe der Jubilarin sprach der Europa-Abgeordnete Romeo Franz (Grüne). Er blickte auf die unbeschwerte Jugend seiner Tante und das „jähe Ende“ durch das NS-Regime. Sie habe „am eigenen Leib das Grauen und das Elend erleben müssen“ und doch „die Kraft gefunden“ weiterzuleben.

Beitrag zur Erinnerungskultur

Mit ihrem großen Einsatz, von ihren Erlebnissen zu berichten, habe sie „einen bedeutenden Beitrag für unsere Erinnerungskultur geleistet“. Der Grünen-Politiker wies darauf hin, dass die Bundesregierung erst 1982 offiziell den Völkermord an den Sinti und Roma anerkannt hat.

Auf das Versagen von Politik und Gesellschaft in den Jahrzehnten davor blickte Mehmet Gürcan Daimagüler, Antiziganismus-Beauftragter der Bundesregierung. „Die Gaskammern waren geschlossen, aber die Verfolgung hörte nicht auf“, sagte er zur Situation der Sinti und Roma nach 1945. Er sprach von einer „zweiten Verfolgung“ und forderte eine Wahrheitskommission, um sie zu untersuchen. Die Unterdrückung, der Entzug von Lebenschancen, bis hin zur Ermordung im NS-Regime habe zu Traumata geführt, die über die Generationen weitergegeben würden: „Der Völkermord vererbt sich.“

Romani Rose gratulierte

Laut Grundgesetz sei die Würde des Menschen unantastbar, bei Sinti und Roma werde sie aber „jeden Tag angetastet in kleinen Dosen“. Er forderte auf, dagegen zu kämpfen, um der Jubilarin „in Aufrichtigkeit gratulieren zu können“. Auch Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, wies auf die tief verwurzelte Ablehnung von Sinti und Roma hin. Das zeige eine aktuelle Studie der Universität Leipzig. Durch die Bürgerrechtsbewegung der Minderheit sei seit den 1980er Jahren auf politischer Ebene „viel erreicht“ worden, gesellschaftlich liege aber „noch ein langer Weg vor uns“.

Wissenschaftlicher Vortrag

Aus wissenschaftlicher Sicht sprach Frank Reuter von der Forschungsstelle Antiziganismus der Universität Heidelberg. Er stellte Grundmuster des Antiziganismus fest. Etwa bei Richtern in der Nachkriegszeit, die Sinti und Roma Subjektivität unterstellten, die ihre Aussagen unbrauchbar mache. Mit der Bürgerrechtsbewegung hätten die Betroffenen inzwischen ein „eigenständiges Narrativ“ entwickeln können. Philomena Franz’ Autobiografie „Zwischen Liebe und Hass“ sei dabei ein „Meilenstein“.

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Auch Kulturwissenschaftlerin Deike Wilhelm betonte, dass sich betroffene Autorinnen und Autoren von „verinnerlichten Stereotypen“ inzwischen gelöst und „freigeschrieben“ hätten. Weitere Beiträge der Tagung beschäftigten sich unter anderem mit Sinti und Roma in Literatur, Geschichtswissenschaft und Film.

„Poetisches Nachtgebet“ am Vorabend in St. Servatius

Rösrath. Mit einem „Poetischen Nachtgebet“ in der Kirche St. Servatius begann das Programm zum 100. Geburtstag von Philomena Franz am Vorabend der Tagung. „Was hat Menschen dazu gebracht?“, fragte der katholische Pastor Franz Gerards angesichts des Holocaust.

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Die Gedenkveranstaltung auf dem Rathausplatz in Rösrath.

Der 100. Geburtstag sei „eine Mahnung an uns alle“. An Philomena Franz gewandt sagte er: „Wir müssen alles dafür tun, dass das Unheil und die Greueltaten, die Sie erlebt haben, nicht wieder geschehen.“ Mit Blick auf den „fast gottlosen Ort“ Auschwitz fragte der evangelische Pfarrer Thomas Rusch: „Wo waren die Christen in Auschwitz?“ Und stellte sich selbst die Frage: „Wo wärst du gewesen damals?“

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Zu der Jubilarin sagte er: „Sie leben die Liebe und sind dadurch ein Vorbild für uns geworden.“ Matthias Buth, der das „Nachtgebet“ initiiert hatte, sagte in einer Fürbitte, die Versammelten wollten Gott danken, dass er „unsere Schwester Philomena“ gerettet habe. Er erinnerte auch an die Opfer der NS-Herrschaft in Rösrath, etwa die 112 getöteten Kriegsgefangenen im Lager „Hoffnungsthal“ in der Wahner Heide. Zum Programm gehörten auch Gedichte von Paul Celan und Else Lasker-Schüler, Orgelimprovisationen von Boris Berns, Musik von Sani Franz (Geige), Sascha Köhler (Gitarre) und Ruth Theresa Fiedler (Gesang). (tr)

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