Butscha, Salzsäure, SattelschlepperDas war 2022 wichtig in Rhein-Berg – Ein Rückblick

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Teilnerhmer einer Demo mit blau-gelben Schildern und Transparenten.

Stoppt den Krieg in der Ukraine: Demo auf dem Konrad-Adenauer-Platz Anfang März.

Wir schauen zurück: Diese Themen haben den Rheinisch-Bergischen Kreis 2022 geprägt.

Demonstrationen, eine Städtepartnerschaft und viele Hilfsaktionen

Es ist am frühen Morgen von Weiberfastnacht, als der russische Großangriff im seit 2014 geführten Angriffskrieg gegen die Ukraine beginnt – und nicht nur in Rhein-Berg ist vielen nicht mehr zum Feiern zumute. Spontan gehen viele Menschen stattdessen auf die Straße, um gegen den Krieg zu demonstrieren.

Noch am Abend von Weiberfastnacht zieht ein Lichterzug durch Kürten-Bechen. Vielerorts treffen sich die Menschen in den folgenden Tagen, protestieren gegen den russischen Angriffskrieg und für Frieden. Kurz darauf bereits kommen die ersten Geflüchteten in der Region an, teils in Autos, die von Granatsplittern und Kugeln durchsiebt sind.

Im Handumdrehen sind Erstaufnahmeeinrichtungen wie am Schulzentrum Saaler Mühle in Bergisch Gladbach oder später in den Hermann-Löns-Hallen eingerichtet, greifen Kommunen, Hilfsorganisationen wie DRK, ASB und Feuerwehr auf die Erfahrungen von 2015 zurück und helfen schnell – und unkompliziert.

Groß ist dabei die Hilfs- und Spendenbereitschaft der Rhein-Berger für die Geflüchteten aus der Ukraine, aber auch für die Menschen, die in der Ukraine zurückgeblieben sind und dort ausharren. In Bergisch Gladbach entsteht durch die Vermittlung der polnischen Partnerstadt Pszczyna sogar eine neue Städtepartnerschaft: mit Butscha, jener ukrainischen Stadt nordwestlichen von Kiew, aus der Bilder der dort teils auf offener Straße mutmaßlich von russischen Soldaten erschossenen Zivilisten um die Welt gingen – und nach Bergisch Gladbach kommen.

Denn nach Unterzeichnung der Städtepartnerschaft durch Bürgermeister Frank Stein, der mit Feuerwehrchef Jörg Köhler nach Butscha gereist ist, wird beim Gladbacher Stadtfest eine Ausstellung von Pressebildern gezeigt, die die mutmaßlichen Kriegsverbrechen von Butscha ergreifend vor Augen führen.


In Zahlen

3900 Menschen sind seit Mitte Februar vor dem Krieg in der Ukraine in den Rheinisch-Bergischen Kreis geflüchtet.

3200 Geflüchtete aus der Ukraine halten sich aktuell noch im Rheinisch-Bergischen Kreis auf, wie die Kreisverwaltung am Freitag auch Nachfrage mitteilte.


Ebenso wie die Schilderungen von Butschas Vize-Bürgermeisterin Mykhailyna Skoryk-Shkarivska, die mit ihrer Kollegin Alina Saraniuk nach Gladbach gekommen ist und das Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern sucht. Einige gründen unmittelbar nach er Ausstellungseröffnung einen Städtepartnerschaftsverein, der weitere Hilfsaktionen initiiert und mittelfristig auch für den Austausch der Bürger aus beiden Städten sorgen möchte.

Hilfsbereitschaft in Rhein-Berg bleibt hoch

Obwohl nicht nur die steigenden Energiepreise zum Jahresende auch die Menschen in Rhein-Berg arg plagen, bleibt die Hilfs- und Spendenbereitschaft hoch, wie die aktuelle Spendenverdoppelungsaktion der Bethe-Stiftung für die gemeinsame Ukraine-Hilfe der Humanitären Hilfe Overath und des Gladbacher Vereins Hilfe Litauen Belarus zeigt.

Nach wenigen Tage ist bereits die Hälfte der anvisierten 50.000 Euro erreicht. Und auch für die Stiftung von Erich und Roswitha Bethe ist es nicht die erste Unterstützung eines Ukraine-Hilfsprojekts. Auch die neue Städtepartnerstadt ihrer Heimatstadt mit Butscha unterstützen die beiden nach Kräften.


Rhein-Berg: Unternehmen im Griff der Energiekrise

Die Energiekrise hat die Wirtschaft und die Privatleute fest im Griff. Einen riesigen Energiebedarf hat Gladbach Dämmstoffhersteller Saint-Gobain Isover G+H. Das Unternehmen fürchtet bei einer extremen Gasknappheit, die gesamte Produktion herunterfahren zu müssen. Aber es sieht derzeit nicht so aus, als dass der Staat per Notfallplan eingreifen muss. Aber natürlich explodieren die Preise auch bei Isover. Jedes Unternehmen ist betroffen, vom Bäcker bis zum Dämmstoffhersteller.

Deutlich spürbar auch die Inflation und Zinsentwicklung. Die Rheinisch-Bergische Siedlungsgesellschaft erklärt, dass alle Bauprojekte, die sich nicht in der unmittelbaren Umsetzungsphase befinden, gestoppt worden seien. So ist es bei vielen Bauprojekten. Zu groß die Unsicherheit über die Preisentwicklung und die Sorge um Lieferengpässe.

Eine richtige gute wirtschaftliche Nachricht kommt aus Rösrath. Dort geht ein 68.000 Quadratmeter großer Öko-Tech-Campus an den Start. In einer Region, in der um jeden Quadratmeter Gewerbegebiet gerungen wird, eine außergewöhnliche Entwicklung.

Bei Zanders befinden sich alle Projekte noch im Planungsstand. Festgelegt hat man sich für das Zanders-Gelände auf die Schaffung eines Campus für berufsbildende Schulen. Es soll im Bereich der Halle entstehen, wo einst die riesige Papiermaschine 3 stand. Die wurde 2022 weitestgehend abgebaut und die Einzelteile in die Türkei gebracht.

Mit Spannung wird in Gladbach die Entwicklung des Geländes der ehemaligen Papierfabrik Wachendorff beobachtet. Anfang des Jahres soll eine 30-Prozent-Verpflichtung für Sozialwohnungen für das Projekt in einer Sondersitzung festgezurrt werden.


So viel Rhein-Berg war noch nie im Landtag

So viele Abgeordnete wie bei der Landtagswahl 2022 hat Rhein-Berg noch nie ins Düsseldorfer Parlament geschickt. Dabei holen beide rheinisch-bergischen Wahlkreise die CDU-Kandidaten: In Overath, Kürten, Odenthal, Leichlingen, Burscheid und Wermelskirchen errang NRW-Innenminister Herbert Reul aus Leichlingen das Direktmandat, in Bergisch Gladbach/Rösrath war es Martin Lucke aus Bergisch Gladbach.

Über die Liste ihrer Partei gelingt SPD-Politikerin Tülay Durdu, die sich im Wahlkreis Bergisch Gladbach/Rösrath um das Direktmandat beworben hat, der Sprung in den Landtag. Ebenso gelingt dies Carlo Clemens (AfD) im zweiten rheinisch-bergischen Wahlkreis (restliches Kreisgebiet) über die Liste seiner Partei. Auch in der neuen, nun schwarz-grünen Landesregierung ist Herbert Reul Innenminister geblieben. Der vormalige EU-Politiker war 2017 von Armin Laschet ins Düsseldorfer Kabinett berufen worden.


Sturm, ein Schuss und Salzsäure

Ein aggressives Salzsäuregemisch legt am 22. September eine von Deutschlands meistbefahrenen Verkehrsadern bei Rösrath lahm: Aus einem spanischen Tanklastzug auf dem Rastplatz Königsforst-West an der A3 läuft eine hochätzende Flüssigkeit aus, die selbst Gerät der Feuerwehr zersetzt.

Fast zwei Tage ist die A3 komplett gesperrt, bis die Feuerwehr die Gefahr gebannt hat. Der Einsatz verläuft erfolgreich, niemand wird verletzt, nur kontaminiertes Wasser und Ausrüstung lagern anschließend noch wochenlang auf der Raststätte, ohne dass etwas passiert. Erst nach mehrfachen Anfragen wird klar, wer für die Entsorgung zuständig ist.

Der Blaulichteinsatz an der A3 ist nicht der einzige spektakuläre in Rhein-Berg gewesen. Bereits am 17. Januar löst eine brennende Halle mit Oldtimern an der Odenthaler Straße in Gladbach einen Großeinsatz der Feuerwehr aus. Per Warn-App wird die Bevölkerung aufgerufen, Fenster und Türen geschlossen zu halten. Brandursache war laut Polizei ein Kurzschluss.

Orkantief Zeynep entwurzelt am 19. Februar zahlreiche Bäume, die bei Immekeppel und in Hand Häuser und Autos unter sich begraben. Feuerwehr und THW sind mit mehr als 700 Kräften im Einsatz, verletzt wird glücklicherweise niemand.

Ebenso ist es beim Brand einer Schulküche am Rösrather Freiherr-vom-Stein-Schulzentrum, den am 14. März 28 Feuerwehrleute rasch gelöscht haben.

Sattelzug fährt sich fest

Für großes Rätselraten und eine aufwendige Bergung sorgt ein Sattelzug, der sich Mitte Juli in einem Steilhang der rekultivierten Erddeponie Lüderich auf einem Wanderweg festfährt. Wie er dahingekommen ist, lässt sich nicht klären? Der Fahrer ist verschwunden. Wochenlang ist unklar, wie der glücklicherweise unbeladene Lkw aus dem Hang geholt wird und wer dafür sorgen muss.

Ende Juli birgt ihn schließlich Daniel Lenz, der mit seinem Spezialunternehmen sonst unter anderem bei Crashs auf dem Nürburgring im Einsatz ist.

Während mutmaßliche Diebstähle von Holz, einzelner Bäume wie bei Herkenrath und sogar kompletter Wälder wie bei Wermelskirchen die Polizei auf den Plan rufen, halten mehrerer Waldbrände am 19. Juli bei Eulenthal die Overather Feuerwehr sowie am 7. August bei Dürscheid die Kürtener Feuerwehr in Atem. Im Dürscheider Fall sucht die Polizei Brandstifter, bisher ohne Ergebnis.

Derweil hat der neue Kreisbrandmeister Martin Müller-Saidowski auch mit der Neuaufstellung des Katastrophenschutzes zu tun. Neben einer Verbesserung der Unwettervorsorge und der Warnung der Bevölkerung im Nachgang zur Juli-Starregenflut des Vorjahrs spielt nun auch die Versorgung und der Schutz der Bevölkerung angesichts des Ukraine-Kriegs etwa bei Stromausfällen eine Rolle.

Am 23. August attackiert ein Mann im Gladbacher Langemarckweg erst Nachbarn, dann die Polizei mit Messern. Eine Polizistin gibt einen Schuss auf ihn ab, er wird verletzt. Die Ermittlungen der Kölner Polizei und Staatsanwaltschaft ergeben: Die Beamtin handelte in Notwehr.

Aus bis zuletzt ungeklärter Ursache rast ein 86-Jähriger Odenthaler nach dem Ausparken mit seinem Auto in Gladbach über die Odenthaler Straße und prallt frontal gegen einen Lieferwagen: Der 86-Jährige stirbt, drei weitere Beteiligte werden teils schwer verletzt.

Mit Blutkonserven an Bord überschlägt sich am 17. November ein Lieferant im Einsatzwagen auf der A4 bei Refrath. Mit seiner Fracht wird er in das Bergisch Gladbacher Krankenhaus gebracht, für das die Blutkonserven bestimmt waren.


Gladbacher Ampel geplatzt

Mit einem Paukenschlag zerbricht in Bergisch Gladbach die Kooperation aus Grünen, SPD und FDP. Der liberale Fraktionschef Jörg Krell zieht aus seiner Sicht die Reißleine, als es um die 30-Prozent-Quote für geförderten Wohnungsbau im künftigen Handlungskonzept geht. Krell fürchtet eine Flucht der Investoren aus der Kreisstadt, die Unterschiede zwischen den drei Fraktionen sind am Ende wohl doch zu groß.

Zurück bleiben Grüne und Sozialdemokraten und ein Bürgermeister Frank Stein von der SPD, der seine Kandidatur im Herbst 2020 vom Zustandekommen des Dreierbündnisses abhängig gemacht hatte. Dass es zuvor auch beim Thema Verkehrswende mächtig geknirscht hatte im politischen Gebälk, war den Beobachtern nicht verborgen geblieben. Die Folge des Ausstiegs: Grünen und SPD fehlt nun in Ausschüssen und im Stadtrat ein Partner.

Mit sicheren Mehrheiten ist es vorbei, und wie eine Politik ohne feste Mehrheiten funktionieren könnte, wird sich schon zu Anfang des Jahres mit der Ratsentscheidung zum Handlungskonzept Wohnen zeigen. Notiz am Rande: Ein neues Fraktionsgebilde aus Abtrünnigen kleinerer Fraktionen entsteht im Februar unter dem Namen „Bergische Mitte“. 


Großer Hunger nach Kultur in Rhein-Berg

Viel nachzuholen hatten die Kulturschaffenden nach der Aufhebung zahlreicher Coronna-bedingter Einschränkungen, auch in Rhein-Berg. In der Zeit der Pandemie geschaffene Kunstwerke wurden ausgestellt, verschobene Aufführungen kamen auf die Bühne. Auch das Publikum zeigte Hunger nach Kultur und reagierte teils euphorisch auf die Rückkehr von lange vermissten Programmen.

Ein paar Nachwehen des eingeschränkten Betriebs in den ersten Monaten des Jahres gab es noch. So wurde das Rösrather Kabarettfestival im Oktober nachgeholt, das Medenus-Klavierfestival des Kulturvereins Schloss Eulenbroich folgte im November.

Aber auch eine neue hochkarätige Veranstaltungsreihe ging im Juni an den Start: das Festival „Literatur am Dom“ in Odenthal-Altenberg. Ein kleiner, neu gegründeter Förderverein stellte das viertägige Programm auf die Beine – unterstützt von dem bekannten Literaturkritiker Denis Scheck und der Berliner Literaturagentin Karin Graf. So kamen der Lyriker Jürgen Becker, Bestsellerautor Frank Schätzing, Nobelpreisträgerin Herta Müller und weitere bekannte Autorinnen und Autoren nach Altenberg. Zu erleben war auch eine „Küchenparty“ mit Sternekoch Dieter Müller. Das Altenberger Festival soll im Jahr 2023 eine Neuauflage finden und das Kulturleben auf Dauer bereichern.


Inzidenz-Rekord und Ende des Schreckens

Fast 2000 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen in Rhein-Berg – so hoch wie Mitte März im dritten Corona-Jahr war die Infektionsrate zu keinem Zeitpunkt zuvor. Und doch hat die Pandemie im dritten Jahr hierzulande ihren Schrecken verloren, sind die Corona-Schutzmaßnahmen bis zum Jahresende weitestgehend zurückgenommen.

Anlass dazu bieten die vergleichsweise hohe Impfquote von aktuell 79,59 Prozent (mindestens Erstimpfung) und die Abschwächung des Virus in der Omikron-Variante. Anfang Mai deaktiviert der Kreis den Krisenstab, der mehr als zwei Jahre die Pandemiebekämpfung im Kreis gemanagt hatte. „Die Erforderlichkeit, in Krisenstabsstrukturen das weitere Pandemiegeschehen zu bewältigen, ist derzeit nicht mehr gegeben“, so Krisenstabsleiter Dr. Erik Werdel.

Auch die Impfstellen und das Vorzeigeprojekt des Impf-Drive-Ins der Gladbacher Feuerwehr schließen mangels Nachfrage. Immer noch demonstrieren Menschen unter anderem in Gladbach montags gegen die Corona-Politik. Selbst die einrichtungsbezogene Impfpflicht, durch die im Kreis 17 Ungeimpfte in Pflege- oder medizinischen Berufen ihren Job verloren, fällt zum Jahreswechsel. 275 Rhein-Berger sind seit März 2020 im Zusammenhang mit Corona gestorben.

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