Hagen – Tiefendorf wäre der richtige Ort für ein Luxushotel. Bester Blick über sanfte Hügel, wenig Bebauung, Landschaftsschutzgebiet rundherum, eine Sonne, die untergehend einen rosa Himmel zaubert, das Neun-Loch-Grün des Märkischen Golfclubs in unmittelbarer Nähe. Die Autobahnen A 1, A 45 und A 46 sind nicht weit. Eine Sache allerdings müsste das Hotel eigentlich geschickt verbrämen: In Tiefendorf liegt kein Breitbandkabel. Gäste, die auf stabilen Internetzugriff angewiesen sind, würden frustriert. Es sei denn, sie hätten eine digitale Diät gebucht.
In Tiefendorf sorgen allein und knisternd Kupferkabel aus der Nachkriegszeit für telekommunikativen Anschluss. Was man in fernen Zipfeln des Landes erwarten würde, findet sich auch noch mitten im Ruhrgebiet. Oben auf den Hagener Hügeln und unten im Gewerbegebiet Lennetal. Digitale Diaspora. Die gibt es häufiger, als einem Industrieland recht sein kann - weil der bundesdeutsche Breitbandausbau "schlecht geplant" ist. Das hat der Bundesrechnungshof dem zuständigen Bundesminister Alexander Dobrindt vor wenigen Tagen erneut attestiert.
Störung des Familienfriedens
Dass - wie versprochen - bis 2018 flächendeckend schnelles Internet verfügbar sein wird, gilt als eher unwahrscheinlich. Wie man im Rheinland, aber eben auch am Hagener Beispiel sehen kann. Familie Depping hat sich daran gewöhnt, dass der Pizzaservice nicht kommt, weil der Hagener Stadtteil Tiefendorf zu weit draußen liegt. Aber die Sache mit dem fehlenden Internetanschluss stört den Familienfrieden merklich. "Um Kontakt zur Welt zu haben, müssen wir alle mit teuren LTE-Smartphones in der Luft herumwedeln." Kein Glasfaserkabel garantiert die Verbindung zum Internet, man muss auf gute Funkbedingungen hoffen und mobil ins Internet gehen. Wenn es regnet oder stürmt, gleicht Tiefendorf einer einsamen Insel. Kein Signal. Nirgends. Whats App, Facebook, die Verbindung zum Lehrer oder der Online-Hausaufgabengruppe - all das ist für die beiden Kinder im Teenager-Alter Glückssache.
"Die fühlen sich abgehängt und würden lieber heute als morgen woanders hinziehen", sagt ihr Vater Dirk Depping. Selbst die Tatsache, dass die beiden schon mit 16 Jahren den Führerschein machen und niedrigmotorisierte Fortbewegungsmittel nutzen dürfen, reduziert ihren Frust nur marginal. Bei Computerspielen hängen sie hintendran - und beim Mitbieten bei Ebay auch: Ihre Klicks brauchen länger als die anderer im Netz. Dirk Depping selbst - er führt ein Software-Unternehmen, das sich auf Energieversorger spezialisiert hat - nahm lange demütig zur Kenntnis, dass bei den umfangreichen Datensätzen zur allmonatlichen Steuerabrechnung das ganze fragile Funk-System zusammenbrach; und kutschierte die Daten-CD selbst zum Steuerberater. Inzwischen hat er seinen Firmensitz verlegt - nach Dortmund. Denn nicht nur in seinem Privathaus oben auf den Hügeln, sondern auch unten in Lennetal, einem Hagener Gewerbegebiet, fehlte der Anschluss an die digitale Welt weitgehend. Hagen, eigentlich mittendrin im NRW-Leben, steht nicht nur in der Statistik der am höchsten verschuldeten Kommunen ganz oben.
Kein Geld für Breitband
Hagen gehört auch zu den Städten mit großen Schwächen in Sachen Breitband. Die Stadt hat kein Geld für die Breitbandförderung, und wenn Netzanbieter kein Interesse an der Glasfaserverlegung in bestimmten Vierteln haben, liegt die digitale Zukunft erst mal brach. Eine vierstellige Zahl von Gewerbegebieten im Lande harrt noch des Anschlusses an die Netzwelt. Selbst die Erfüllung der Zusage von mageren 50 Mbit erscheint ihnen als ein Traum. Wirklich zukunftsträchtig wären weit höhere Werte. Seit Jahren improvisieren die Unternehmen im Gewerbegebiet Lennetal mit Datenübertragungskonstruktionen aus dem großen Bereich der technischen Fantasie, weil die Telekom ihre Breitbandaktivitäten anderswo lukrativer findet als dort - und weil die Stadt kein Geld dazugeben kann, was die Dinge voranbrächte. Michael Ellinghaus von der "Hagenagentur" (Wirtschaftsförderungsgesellschaft) seufzt tief und lange. Seit langem bekümmert ihn die Lage im Gewerbegebiet, seit dem Jahr 2012 nervt ihn die Tiefendorfer Bürgerinitiative - zu der auch Unternehmer Depping gehört - mit der Forderung nach dem Breitbandausbau.
Deppings Mitstreiter Dirk Scharff hat namens der "Aktion Breitband für Tiefendorf" schon zwei Petitionen an den Landtag geschickt - und erwirkt, dass im September 2014 Tiefendorf ins Breitband-Förderprogramm für den ländlichen Raum aufgenommen wurde. "Aber passiert ist immer noch nichts." Denn selbst dieses Förderprogramm deckt nicht alle Kosten für den Anschluss Tiefendorfs ab, die Stadt müsste auch noch in Berlin um Zuschüsse bitten - die gibt es für besonders bedürftige Kommunen. Allerdings gehört Hagen auch in diesem Jahr nicht zu den Kommunen, die sich das Geldgeschenk in der Hauptstadt abholen durften.
Man ahnt, wie Scharff das nach seinen jahrelangen Bemühungen kommentiert. Dem Mann will nicht in den Kopf, dass es nicht schneller vorangeht, seine langen Ausführungen voller Unzufriedenheit könnte man zusammenfassen mit: Für Tiefendorf interessiert sich niemand, viele Verantwortliche in der Politik, aber auch bei der Telekom sind unfähig. Und: In der Schweiz klappt die Versorgung doch auch bis in letzte Tal. "Ein Breitbandanschluss gehört zur Grundversorgung für alle", findet er.
Wieso kann er die Tagesschau verfolgen, nicht aber auf das Internetangebot des Senders zurückgreifen, obwohl er Rundfunkgebühren zahlt? Und: Wenn er schon in einem Ort wohnt, an dem die Tageszeitung erst nachmittags mit der Post kommt, wieso braucht er dann Engelsgeduld, wenn er deren Online-Angebot lesen möchte? "Filme, die man streamen will, ruckeln. Und dann alle Unregelmäßigkeiten, die meine berufliche PC-Arbeit beeinträchtigen. Ich bezahle bei der Telekom für eine Leistung, die ich nur in Bruchteilen auch tatsächlich erhalte."
Hybrid-Lösung mit Schwächen
Scharff hat unter seinem Dach einen LTE-Router mit einer SIM-Karte angebracht, der über zwei Antennen verbunden ist mit einem Richtfunkmast. Die vielfach für abgelegene Gegenden propagierte Hybrid-Lösung - kombinierte Datenübertragung via Funk und DSL - lehnt er ab. Als im Nachbardorf in den Kirchturm ein LTE-Sendemast eingebaut werden sollte, drohte er der Pastorin "mit Lichterketten und Demonstrationen", der Mast "hätte doch den nahe gelegenen Kindergarten verstrahlt". Zumindest dieses Projekt ist vom Tisch. Doch Scharff muss sich weiter ärgern: "Mein LTE-Volumen ist seit gestern verbraucht. Derzeit beträgt die Downloadgeschwindigkeit im Durchschnitt nur noch 40,5 Kilobyte, also weniger als mit ISDN-Zugang. Ein Zukauf von weiteren 30 Gigabyte für 15 Euro ist nicht sinnvoll, da dieses Volumen am Monatsersten verfällt und nicht mit den nächsten Monat übernommen werden kann." Wirtschaftsförderer Ellinghausen blickt unterdessen lieber ins Tal. Hagen und Gütersloh sind zwei Städte, in denen ein Rezept ausprobiert werden soll, das vielen ähnlichen Orten helfen könnte.
Die 250 bis 300 Firmen im Gewerbegebiet Lennetal könnten eine Genossenschaft gründen und dann mit den Einlagen (und Krediten) selbst den Ausbau des Glasfasernetzes finanzieren. Am Ende wäre die Genossenschaft Eigentümer eines Breitbandnetzes, das wesentlich leistungsfähiger ist als das in Rede stehende mit 50 MB. Federführend bei den Pilotprojekten ist der Rheinisch-Westfälische Genossenschaftsverband - dessen Sprecher zeigte sich optimistisch. Statt auf einen Schlag Tausende Euro für eine individuelle Lösung an die Telekom zahlen zu müssen, könnten beim Hagener Modell die Nutzer den Internet-Anschluss schlichtweg von der Genossenschaft mieten. In einem halben Jahr, so die günstigste Variante, könnte die Genossenschaft "stehen" und wäre schon in dieser Aufbauphase in der Lage, ihr Breitbandprojekt mit Ausschreibungen vorzubereiten.
Im schlechteren Fall geht es der Idee wie vielen Genossenschaftsplänen: Zwei Drittel der Ansätze scheitern am Ende doch. Wie einfach liest sich dagegen eine aktuelle Pressemitteilung des Dobrindt-Ministeriums: "Das Bundesförderprogramm für den Breitbandausbau mit einem Budget von 2,7 Milliarden Euro zielt darauf ab, alle weißen Flecken auf Deutschlands Landkarte abzudecken. Der Fördersatz beträgt 50 bis 70 Prozent der zuwendungsfähigen Kosten. Eine Kombination mit anderen Förderprogrammen der Bundesländer ist möglich. Dadurch können weitere 40 Prozent an Förderung hinzukommen. Der Eigenanteil der Kommune liegt bei zehn Prozent." Wie es geht, wenn selbst die zehn Prozent nicht in der Kommunalkasse liegen, kann man in Hagen studieren.
www.bmvi.de/breitband
www.breitbandausschreibungen.de