Autorin über Langzeitarbeitslose„Es ist nicht Aufgabe der Armen, sich zu erklären“

Lesezeit 4 Minuten
Anna Mayr arbeitet als Journalistin in Berlin, aufgewachsen ist sie im Ruhrgebiet.

Anna Mayr arbeitet als Journalistin in Berlin, aufgewachsen ist sie im Ruhrgebiet.

Die 27-jährige Journalistin Anna Mayr wuchs als Kind von Langzeitarbeitslosen im Ruhrgebiet auf. Mit ihrem Buch „Die Elenden“ (Hansa Verlag, 20 Euro) will sie Vorurteile über arme Familien widerlegen. Frau Mayr, was steckt hinter dem Buchtitel „Die Elenden“?

Das Wort „Elend“ benutzen wir im Alltag fast nie, dabei ist es stark: Es enthält nämlich nicht die Konnotation von Schuld. Stattdessen spiegelt es eine Not wieder, ein Alleingelassen-Werden. „Die Elenden“ ist außerdem eine Referenz auf den bekannten Roman von Victor Hugo, Les Misérables. Denn das, was ich beschreibe, ist ein Produkt aus jahrhundertealten Ideologien.

Es geht auch um den Blick der Gesellschaft auf die Arbeitslosen. „Je weiter sich die Schere zwischen Arm und Reich öffnet, desto zootieriger werden die Armen“, schreiben Sie.

Je weiter sich Arbeitende und Arbeitslose voneinander entfernen, desto interessanter scheint das Leben der sogenannten „Unterschicht“, weil man es ansieht wie einen Horrorfilm. Das finde ich traurig. Deshalb halte ich auch nichts davon, zu viel über Einzelfälle zu sprechen. Die Geschichten über einzelne arme Menschen zwingen den Rest der Gesellschaft zu nichts – und es ist nicht die Aufgabe der Armen, zu erklären, wie und warum es ihnen schlecht geht. Das muss man ihnen einfach glauben.

Woran merken Sie, dass sie anders aufgewachsen sind als Freunde und Kollegen?

Mir fallen oft Unterschiede in sozialen Codes auf. Ein Beispiel: In der Mittelschicht gibt es Abstufungen darüber, mit welchen Personen man sich wo trifft. Wen man nach Hause einlädt, mit wem man auswärts essen geht und was das jeweils bedeutet. Für mich waren diese Codes nie selbstverständlich, ich musste sie lernen. Was ist für welche Beziehung angemessen? Arme Familien treffen sich immer Zuhause. Da sagt keiner: Du kannst nicht mit deinen vier Kindern vorbeikommen. Allein die Idee, dass es zu viele Menschen in einem Raum geben kann, ist eine privilegierte Idee.

Sie schreiben: „Wer keine Arbeit hat und kein Geld, der weiß irgendwann nicht mehr, wie man sich etwas wünscht, wie man etwas will.“ Wie können Kinder aus armen Familien eigene Wünsche entwickeln?

Ich will da nicht zu viele Hoffnungen machen. Ich glaube nicht, dass Kinder, die ihr Leben lang das Signal bekommen, dass sie nichts verdient haben, jemals in diese Welt treten und sagen: Ich habe alles verdient. Da kann man den Kindern noch so viele Bücher vorlesen und sie noch so früh in die Kita stecken. Wenn sie Zuhause immer wieder merken, dass sie doch kein Teil dieser Gesellschaft sind. Man muss die Familien also aus der Armut holen, das ist der einzige Weg.

Was ist mit der Schule?

Schule ist wichtig und wenn empathische Lehrer da sind, ist das toll. Aber wenn wir Kindern nicht einfach mehr Geld geben, können wir es vergessen. Das ist meine eine Forderung: Man darf Menschen und Kinder nicht verarmen lassen und sich dann wundern, dass sie Symptome der Verarmung zeigen.

Das könnte Sie auch interessieren:

Was läuft in bildungsbürgerlichen Familien anders?

Dort wachsen Kinder im Bewusstsein auf, dass die Welt ihnen gehört. Sie kennen Kollegen der Eltern, sie kennen die Arbeitswelt, die sozialen Codes. Reiche Menschen glauben oft, dass Bildung für ihre Kinder am wichtigsten ist und deshalb auch für arme Kinder die Rettung sein könnte – dass es also reicht, einfach sehr viele Bücher zu lesen, damit es einem gut geht. Aber der tatsächliche Vorteil, den Kinder reicher Eltern haben, sind ihre Eltern und deren Reichtum. Deren privilegierter Blick auf die Welt.

Es ärgert sie, dass Kinder von Arbeitslosen „angepasst, gefördert und gefordert“ werden. Was ist daran schlecht?

Unsere Gesellschaft hatte sich darauf geeinigt, dass alle Menschen gleich sind. Aber wenn Kinder aus armen Familien mit 16 Jahren in eine Ausbildung gezwungen werden, die sie nicht machen wollen, oder wenn sie gar nicht erst die Chance haben, ihr Talent zu entdecken, weil sie größere Sorgen haben als Schule – dann geben wir als Gesellschaft unser Grundideal der Gleichheit und des fairen Wettbewerbs auf. Außerdem verlieren wir marktwirtschaftliche Potenziale; eventuell wächst gerade irgendwo in einer armen Familie ein Kind heran, das ein Krebsmedikament erfinden könnte. Aber es bekommt keine Ressourcen, die eigenen Talente zu entwickeln und landet am Ende in einem Niedriglohnjob, während ein weniger begabtes Kind aus einer Akademiker-Familie Medizin studieren geht. So kommen wir nicht weiter.

KStA abonnieren