Ministerin Giffey„Lockdown muss für Kinder so schnell wie möglich vorbei sein“

Lesezeit 8 Minuten
Franziska Giffey Getty Images

Franziska Giffey

  • Franziska Giffey ist seit März 2018 Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
  • Die SPD-Politikerin will Nachfolgerin des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller in Berlin werden.
  • Im Interview äußert sich Giffey zu Corona, der Lagen an den Schulen und in den Familien sowie zu ihrem Doktortitel.

Frau Ministerin Giffey, wie wichtig ist Ihnen persönlich das Weihnachtfest?

Mir ist Weihnachten wichtig, weil das eine Zeit ist, in der man auch mal zur Ruhe kommen kann. Und in der man das vergangene Jahr reflektiert und sich auf das neue einstellen kann.

Die persönliche Frage, wie jemand Weihnachten feiert, ist so politisch wie nie. Gehen Sie das Fest im kleinen Kreis an – oder können Sie sich den Wünschen der Familie schwer entziehen?

Ich feiere im kleinen Kreis Weihnachten. Anders geht es diesmal nicht. Ich werde mehr telefonieren und mehr Weihnachtskarten schreiben als sonst. Ich hätte gern ein paar Freunde getroffen, für die ich im Alltag leider nicht so viel Zeit habe. Darauf werde ich verzichten.

Wer ist im Zweifel stärker in der Verantwortung die Reißleine zu ziehen und die Familienfeier zu Weihnachten abzusagen: die Großeltern, die selbst in größerer Gefahr sind zu erkranken, oder die mittlere und jüngere Generation?

Wenn Oma und Opa kommen wollen, ist das mit den beschlossenen Regeln auch möglich. Schwierig wird es, wenn dann noch der Onkel und die Tante dabei sein wollen. Wer der erste ist, der nein sagt, kann zum Buh-Mann bei den Verwandten werden. Er tut aber das Richtige. Helfen kann auch, in den Tagen vor Weihnachten zu Hause zu bleiben und Kontakte zu vermeiden. Da sind vor allem die Jüngeren gefordert.

Das könnte Sie auch interessieren:

Hätte der harte Lockdown nicht früher kommen müssen?

Das sagt sich im Nachhinein leicht. In den letzten Wochen ist alles unternommen worden, um das Infektionsgeschehen einzudämmen und den Lockdown zu vermeiden. Auch Politiker können nicht in die Zukunft schauen und müssen jede Entscheidung gut abwägen, wenn Freiheiten eingeschränkt werden.

Sind zu viele Menschen zu spät ins Homeoffice gewechselt – und haben damit die Notwendigkeit ausgelöst, Schulen und Kitas zu schließen?

Ich will erst einmal festhalten, dass viele Kitas weiterhin im eingeschränkten Regelbetrieb geöffnet sind. In vielen Schulen ist lediglich die Präsenzpflicht ausgesetzt. Ich habe immer gesagt, die Schließung von Kitas und Schulen ist das letzte Mittel. Aber wir müssen auch deutlich sehen, dass die Maßnahmen der letzten Wochen nicht gereicht haben. Ich halte aber auch nichts von Schuldzuweisungen oder davon, die Generationen gegeneinander auszuspielen. Deshalb fand ich es immer falsch, auf junge Menschen mit dem Finger zu zeigen und zu sagen: Seht her, die haben zu viel gefeiert. Die Grenze verläuft doch nicht zwischen Jung und Alt, sondern zwischen vernünftig und unvernünftig. Und das geht über alle Generationen.

Hätte die Politik Homeoffice in der Pandemie, wo es möglich ist, anordnen müssen?

Anordnen wollen wir das von politischer Seite nicht. Aber ich appelliere eindringlich an Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, in Zeiten hoher Infektionszahlen Homeoffice möglich zu machen, wo immer es geht.

Kitas und Schulen wurden zuletzt, trotz steigender Infektionszahlen im Land, lange offengehalten. Sollen sie auch zuerst wieder geöffnet werden: noch vor Geschäften im Einzelhandel?

Aus meiner Sicht: Ja. Kitas und Schulen wurden zu Recht als Letzte eingeschränkt. Und als Bundesfamilienministerin werde ich weiter darauf dringen, dass sie auch als erste wieder für den Normalbetrieb geöffnet werden, sobald es die Infektionslage zulässt. Dabei geht es einerseits darum, Eltern zu helfen, Beruf und Familie miteinander vereinbaren zu können. Es geht aber auch um das Recht der Kinder, ein gutes Bildungsangebot zu bekommen und mit ihren Freunden spielen zu können.

Werden sich, gerade in den großen Städten, Integrationsprobleme verschärfen, wenn die Schließung von Kitas und Schulen zu lange dauert?

Eine zu lange Schließung von Kitas und Grundschulen bedeutet generell härtere Auswirkungen für Kinder, die in sozialen Brennpunkten leben. Kinder aus Familien, in denen kaum Deutsch gesprochen wird oder wo es zuhause keine guten Lernbedingungen gibt, sind mehr auf die Förderung in Kita und Schule angewiesen. Aber auch jenseits von Integrationsfragen gilt: Familien, die ohnehin wenig Geld und knappen Wohnraum haben, leiden unter den Schließungen besonders.

Der Bund gibt viel Geld, um digitalen Unterricht an den Schulen zu erleichtern.

Mit dem Digitalpakt ist ein riesiges Modernisierungsprogramm für die Schulen beschlossen. Das Geld muss von den Ländern aber auch entsprechend abgerufen und ausgegeben werden. Was aber häufig nicht gesehen wird: Auch in finanzschwachen Familien gibt es meistens Smartphones und Internet. Was aber oft fehlt, sind arbeitsfähige Computer und Drucker. Und noch viel wichtiger: Oft fehlt jemand, der zu Hause bei den Aufgaben helfen kann – oder ein Zimmer, in dem das Kind konzentriert lernen kann. Auch deshalb muss der Lockdown für die Kinder so schnell wie möglich vorbei sein.

„Corona hat Berlin härter getroffen als andere“

Sie wollen Regierende Bürgermeisterin von Berlin werden. Was wollen Sie anders machen als Amtsinhaber Michael Müller?

Es gibt einfach andere und neue Themen, die anstehen. Corona hat alles verändert, die Nachwirkungen der Krise werden Berlin noch lange beschäftigen. Nehmen Sie die Wirtschaft, da hat Berlin einen jahrelangen Boom erlebt. Aber Corona hat uns härter getroffen als andere, weil es weniger Industriearbeitsplätze gibt, dafür aber viele Dienstleistungsbetriebe und eine sehr große Kultur-, Veranstaltungs- und Tourismusbranche. Der Berliner Wirtschaft und allen, die sich hier in der Stadt eine Existenz aufgebaut haben und jetzt stark betroffen sind, wieder auf die Beine zu helfen, ist für mich eine zentrale Herausforderung.

Welche Themen haben Sie noch auf dem Zettel?

Eine große Aufgabe wird der Kampf gegen die Obdachlosigkeit sein. Eine lebenswerte Stadt ist für mich auch eine, die sich gut um die Schwächsten kümmert. Ich habe mir fest vorgenommen, alles dafür zu tun, den Menschen eine Perspektive jenseits der Straße zu eröffnen. Oder wenigstens ihre Not zu lindern. Dafür müssen wir auch neue Konzepte überlegen. Bezahlbares Wohnen, eine moderne Infrastruktur und ein öffentlicher Nahverkehr für die verschiedenen Mobilitätsbedürfnisse oder soziale und innere Sicherheit bleiben wichtig. Jede Berlinerin und jeder Berliner soll sich sicher fühlen können. Dafür will ich arbeiten.

Was ist mit Bildung?

Auch ganz oben auf der Liste. Die Digitalisierung der Berliner Schulen muss weiter vorangebracht werden. Es gibt zwar schon Vorzeigeschulen, die ohne Kreide auskommen und das IT-gestützte Lernen gut umsetzen, aber in der Breite müssen wir eine Schippe drauflegen. Das gilt auch in anderen Bereichen. Aus meiner Sicht braucht auch die Berliner Verwaltung dringend einen Digitalisierungsschub.

Ihre Kandidatur wird von der Debatte über die erneute Prüfung ihrer Dissertation überschattet. Bereuen sie manchmal, dass sie diese Arbeit geschrieben haben?

Nein. Das ist meine Arbeit, mit der ich mich fünf Jahre meines Lebens beschäftigt und bei der ich sehr viel gelernt habe. Strukturiert vorzugehen, große Texte zu erfassen und daraus die wesentlichen Schlüsse zu ziehen, mich auf Dinge zu konzentrieren und sie zuende zu bringen – das kann mir keiner nehmen.

Den Titel allerdings schon.

Ich habe erklärt, den Titel jetzt und auch künftig nicht mehr zu führen, unabhängig vom Ausgang des Verfahrens. Es ist schon ein einmaliger Vorgang, dass eine Arbeit insgesamt drei Mal geprüft wird. Ich habe 2010 ein Promotionsverfahren durchlaufen und eine sehr gute Bewertung bekommen. Zehn Jahre später gibt es eine Prüfung durch ein von der Freien Universität Berlin eingesetztes Gremium, die fast ein Jahr lang dauert und am Ende bekomme ich in einem Verwaltungsakt bestätigt, dass an der Eigenständigkeit der wissenschaftlichen Arbeit grundsätzlich kein Zweifel besteht.

Sie haben wegen wissenschaftlicher Mängel eine Rüge bekommen.

Ja, und das habe ich akzeptiert. Aber ich habe auch schwarz auf weiß die Bestätigung, dass der Titel nicht aberkannt wird.

Die Freie Universität hat entschieden, das Verfahren neu aufzurollen – mit dem Hinweis auf Gutachten, nach denen eine Rüge bestenfalls in einem minderschweren Fall möglich sei.

Ich hatte nicht damit gerechnet, dass über ein Jahr nach der bereits getroffenen Entscheidung eine erneute Prüfung vorgenommen wird.

„Gefahr von familiärer Gewalt nimmt zu“

Bei der ersten Prüfung haben sie Ihren Rücktritt als Familienministerin angekündigt für den Fall, dass Ihnen Ihr Doktortitel aberkannt wird. Gilt das jetzt nicht mehr?

Alles was ich jetzt dazu zu sagen habe, habe ich erklärt. Aber unabhängig davon gilt: Meine SPD und die Berlinerinnen und Berliner können sich auf mich verlassen – egal was passiert. Ich bin Landesvorsitzende der Berliner SPD und meine Partei hat mich als Spitzenkandidatin für die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus nominiert. Die Wählerinnen und Wähler können am Wahltag entscheiden, ob sie das wollen. Wer Giffey will, muss SPD wählen.

Sie bleiben also auf jeden Fall bis zum Ende der Legislaturperiode Familienministerin?

Was ich jetzt dazu zu sagen habe, habe ich erklärt.

Würden Großstädte wie Berlin nicht kräftig davon profitieren, wenn das Böllerverkaufsverbot nicht nur zu diesem Silvester, sondern in Zukunft für immer gelten würde?

Gerade in Großstädten würden bestimmt viele Menschen, die unter der Böllerei leiden, ein dauerhaftes Verkaufsverbot befürworten. Viele andere finden es aber auch traurig, wenn das alles ausfällt. Das Silvester der Pandemie zur Blaupause für alle Zeiten zu machen, wäre sicher auch nicht gut. Es kommt immer darauf an, ein gutes Maß zu finden. Vor allem brauchen wir gerade auch in diesem Jahr einen umsichtigen und rücksichtsvollen Umgang damit.

Ein bedrückendes Thema müssen wir zum Schluss noch ansprechen: Fürchten Sie, dass es gerade in der angespannten Situation des Corona-Jahres die familiäre Gewalt an den Weihnachtstagen zunimmt?

Die familiäre Gewalt nimmt jedes Jahr an Feiertagen wie Ostern oder Weihnachten zu. In diesem Corona-Jahr ist die Gefahr besonders groß. Die Nerven sind eh schon angespannt, dazu vielleicht Frust, es gibt eine Menge Einschränkungen. Dann noch Existenzsorgen - viele wissen nicht, wie es bei ihnen im nächsten Jahr weitergeht. Da kann sich manches entladen. Wir haben unser Hilfetelefon gegen Gewalt seit Anfang der Pandemie personell und finanziell verstärkt. Und mein Rat ist: Rufen Sie an, wenn es Probleme gibt. Lassen Sie sich helfen.

KStA abonnieren