Interview zum Pflegetag„Hauptsache, Du kannst eine Bettpfanne leeren, mehr musst Du nicht können“

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Eine Pflegerin hält die Hand einer Bewohnerin in einem Seniorenzentrum.

Eine Pflegerin hält die Hand einer Bewohnerin in einem Seniorenzentrum.

Christine Vogler, Präsidentin des Deutschen Pflegerates, kritisiert eine altbackene Vorstellung über Pflege in Deutschland: – und eine Verschwendung von Kompetent, Zeit und Geld.

Fachkräftemangel, Entlohung, Bürokratieabbau, Pflegeberuf - das sollen unter anderem die Themen beim Pflegetag am kommenden Donnerstag und Freitag in Berlin sein, bei dem auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sprechen wird. Die Präsidentin des Deutschen Pflegerates, Christine Vogler, formuliert im Interview die Forderungen der Pflegekräfte. Der Pflegerat ist die Dachorganisation wichtiger Pflegeverbände.

Frau Vogler, die Klinikreform von Gesundheitsminister Lauterbach wird überwiegend gelobt. Sie sprechen von einer vergebenen Chance. Warum?

Christine Vogler: Wir hatten die Hoffnung, dass endlich die beruflich Pflegenden den Stellenwert bekommen, der für eine gute Versorgung von Patientinnen und Patienten nötig ist. Doch leider zementiert die Politik nach wie vor die Strukturen des Gesundheitswesens und die ärztlich dominierte Arbeits-, Befehls- und Verantwortungshierarchien des 19. Jahrhunderts. Die Pflege ist eine eigenständige Profession und sollte kein Anhängsel der Medizin mehr sein.

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Wie stellt sich die Lage für Ihren Berufszweig heute dar?

Es gibt in Deutschland eine sehr altbackene Vorstellung von Pflege. Pflegefachpersonen wollen die pflegerische Versorgung selbständig ausführen. Das dürfen wir heute nicht. Ein Beispiel: Eine qualifizierte Pflegefachperson betreut eine Diabetikerin und versorgt deren Wunden. Sie weiß genau, welches Wundmaterial notwendig ist, wenn sich der Zustand ändert. Aber selbst dafür muss immer eine Ärztin oder ein Arzt hinzugezogen werden, weil nur diese eine Verordnung ausstellen dürfen. Wann ein Arzt tatsächlich nötig ist, weiß die Pflegefachperson, schließlich misst sie zum Beispiel die Blutzuckerwerte. Und denken Sie ans Impfen.

Was meinen Sie?

Apothekerinnen und Apotheker sowie Tierärztinnen und Tierärzte durften zum Beispiel unter Corona impfen. Pflegefachpersonen aber nicht. Und das, obwohl 400.000 Pflegende in der ambulanten Versorgung unterwegs sind. Was wir hier an Kompetenz, Zeit und Geld verschwenden, ist völlig verrückt.

Kollidiert Ihre Forderung nach mehr Verantwortung und Kompetenzen nicht mit der schon bestehenden Arbeitsüberlastung und dem Personalmangel?

Es wird immer behauptet, wir wollten ärztliche Aufgaben übernehmen. Darum geht es überhaupt nicht. Die Ärzte sollen weiterhin das tun, wozu sie ausgebildet sind. Aber diese Arztzentriertheit muss aufhören. Pflege ist etwas anderes als Medizin. Wir wollen für den Bereich der Pflege Handlungsautonomie bekommen. Wir fordern, auf Augenhöhe mit den Ärztinnen und Ärzten arbeiten zu können. Am Anfang der Debatte über die Krankenhausreform gab es in dieser Hinsicht gute Ansätze.

Welche?

Es war geplant, dass Krankenhäuser auf der untersten Stufe - sogenannte Level 1i-Häuser, die überwiegend pflegerische Aufgaben übernehmen sollen, von Pflegefachpersonen geleitet werden. Doch inzwischen ist davon nichts mehr zu hören. Erneut werden wir nicht als kompetente Berufsgruppe behandelt.

Noch einmal: Wie verträgt sich das Mehr an Verantwortung mit dem Personalmangel?

Mehr Verantwortung heißt nicht mehr Arbeit. Es bedeutet, seine Arbeit selbstständig und souverän ausüben zu können und einen Berufsstolz entwickeln zu können. Das meint mehr Verantwortung. Der Personalmangel hat viel mit der mangelnden Souveränität des Berufs zu tun. Die Kolleginnen und Kollegen frustriert das, wir haben zum Beispiel eine sehr hohe Teilzeitquote. Ändert sich für den Pflegeberuf nichts, wird es Deutschland auch nicht gelingen, in nennenswerten Umfang Pflegende aus dem Ausland zu gewinnen. Wir erleben regelmäßig, dass ausländische Kolleginnen und Kollegen extrem unzufrieden sind über die Arbeitsbedingungen. Sie sind es nicht gewohnt, so unselbständig arbeiten zu müssen. Viele ziehen enttäuscht in andere Länder weiter oder gehen zurück in die Heimat.

Ändert sich für den Pflegeberuf nichts, wird es Deutschland auch nicht gelingen, in nennenswerten Umfang Pflegende aus dem Ausland zu gewinnen.
Christine Vogler

Was muss sich konkret ändern?

Nötig sind eine Reihe von Gesetzesänderungen, um die Heilkunde auf die Pflegefachpersonen zu übertragen. Zudem brauchen wir bundeseinheitlich festgelegte Bildungsstrukturen für Ausbildung und Studiengänge. Wie bei den Ärztinnen und Ärzten muss es auch im Pflegeberuf umfangreiche Möglichkeiten zur Weiter- und Fortbildung geben, aber auch die Verpflichtung dazu. Heute gibt es derartige Verpflichtungen nicht. Das durch die fehlende umfassende Autonomie gesetzte Signal ist doch: Hauptsache, Du kannst eine Bettpfanne leeren, mehr musst Du nicht können.

Zurück zur Krankenhausreform. Das Ziel ist mehr Zentralisierung und damit eine Reduzierung der Klinikzahl. Gehen Sie hier mit?

Wir haben zu viele Krankenhäuser. In Deutschland stehen 4,8 Pflegende im Krankenhaus pro 1000 Patientinnen und Patienten zur Verfügung. In Norwegen sind es 8,3 in Großbritannien 7,6, in Dänemark 6,4 und in Frankreich 5,3. Damit ist Deutschland das Schlusslicht bei der Personalbesetzung vergleichbarer Länder. Das ist eine auf Dauer unzumutbare Belastung. Je größer das Haus ist, desto mehr Möglichkeiten gibt es, Synergien zu nutzen und das Personal effizient einzusetzen. Dann ist es einfacher, vernünftige Arbeitszeitmodelle zu schaffen und Karrieremöglichkeiten zu eröffnen. Die von Lauterbach angestrebte Zentralisierung und Spezialisierung geht insgesamt in die richtige Richtung. Aber wenn der Pflegeberuf nicht endlich ernst genommen wird, wird bald niemand mehr da sein, der die Patientinnen und Patienten gesund pflegt. (RND)

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