Menschen mit Wurzeln in OsteuropaWie der Krieg in Deutschland seine Gräben reißt

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Autokroso für Russland (1)

Pro-russisches Autokorso am 3. März in Berlin 

  • Mehr als drei Millionen Menschen in Deutschland haben familiäre Wurzeln in Russland und der Ukraine.
  • Sie sind Ziel russischer Staatspropaganda und deutscher Distanzierungsaufforderungen.

Berlin – Vor dem Eingang zur Lomonossow-Schule in Berlin-Marzahn steht ein Kleinbus der Polizei, darin sitzen drei Beamte. „Wir werden jetzt gut geschützt – hoffentlich“, sagt Alexander Ott, Schulkoordinator der Privatschule, in der Kinder aus rund 20 Nationen auf deutsch und russisch unterrichtet werden. Zweimal seit dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine vor fünf Wochen hat es bereits gebrannt auf dem nagelneuen Schulcampus an der Allee der Kosmonauten in Berlins Osten. Einmal an einem Geräteschuppen, einmal im Eingangsbereich der Turnhalle. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Unbekannt.

Das Schultor ist jetzt verschlossen. „Wir wollen den Krieg draußen halten“, sagt Ott. „Wir wollen ein geschützter Raum sein.“ Er meint damit nicht so sehr die Bedrohung von außen, sondern den inneren Frieden in der Schule. „Viele unserer Kinder haben Verwandte in Russland, andere in der Ukraine. Sie bekommen zu Hause viel mit, auch schreckliche Nachrichten. Wir wollen ihnen vermitteln: Hier bist du sicher, hier bist du unter Freunden. Wenn du traurig bist, trösten wir dich.“

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Privat hat Ott eine klare Meinung über diesen Krieg, mit der er nicht hinter dem Berg hält. „Eine Diktatur hat eine Demokratie überfallen. Es gibt nichts, was diesen Krieg rechtfertigt.“ Aber als Schulkoordinator sagt er solche Sätze nicht. „Sollen wir etwa auf einer Elternversammlung über Putin abstimmen lassen?“, fragt er stattdessen. „Was würde uns das bringen?“

Der Krieg zerreißt den Alltag der Menschen

Im ersten Stock basteln die Kinder der Klasse 3a Friedenstauben für ein Konzert in der Schulaula. Adrett in Schuluniform gekleidet malen sie die Papiervögel aus. „Wir wollen den Frieden fördern, weniger über den Krieg sprechen“, sagt Ott. Rund 3,5 Millionen Menschen in Deutschland haben familiäre Wurzeln in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Oft haben sie Familie und Freunde in beiden Staaten, die jetzt Krieg führen: in der überfallenen Ukraine ebenso wie in Putins Russland. Der Krieg zerreißt ihren Alltag, ihre Familien, ihr Leben in Deutschland. Er zerstört Freundschaften und Gemeinsamkeiten.

Die Publizistin Marina Weisband, geboren 1987 in Kiew, als Siebenjährige mit ihrer Familie nach Deutschland ausgereist, hat kürzlich getwittert: „Zwischen Russen und Ukrainern brennen gerade aufs schmerzhafteste Brücken ab, die einseitig angezündet wurden. Wie es da jemals Vergebung geben kann, ist schwer vorzustellen.“

Ja, es gehe ein Riss durch die Community, durch die Familien, sagt Weisband am Telefon. „Aber dieser Riss ist nicht neu. Er ist bereits nach 2014 aufgebrochen, nach der Besetzung der Krim und dem Krieg im Donbass. Der Riss verläuft zwischen denen, die russisches Staatsfernsehen konsumieren, und jenen, die sich über unabhängige Kanäle informieren. Diese Kluft zwischen diesen beiden Welten hat sich nun zementiert.“

Marina Weisband: „Es ist nicht Putins Krieg“

Mit jedem Tag des Krieges, mit jedem bekannt gewordenen Kriegsverbrechen wird diese Kluft tiefer. Erschossene Zivilistinnen und Zivilisten in Bucha, die Hände auf dem Rücken gefesselt; verdurstete Kinder in den Ruinen von Mariupol. „Es ist nicht Putins Krieg“, sagt Weisband. „Der Zweite Weltkrieg war nicht Hitlers Krieg. Putin fliegt nicht die Bomber, Putin sitzt nicht am Abzug. Es ist nicht Putin, der ukrainische Frauen vergewaltigt, es sind russische Soldaten. Jeder kann wissen, was passiert. Sie tragen alle eine individuelle Schuld. Und auch die Russen als Nation tragen Schuld.“

Weisband dpa

Marina Weisband 

In Wolfsburg sagt die russischstämmige Influencerin Katharina Vosk: „Viele denken jetzt, die Russen sind alle dafür. Dem ist nicht so, natürlich gibt es Leute, die dahinterstehen, aber es sind eben auch sehr viele dagegen. Die, die nur russische Medien beziehen, sind oft der Meinung, dass in der Ukraine kein Krieg sei, sondern nur militärische Stützpunkte betroffen sind. Die Meinung ist immer abhängig davon, welche Medien man guckt.“

Wladimir Putin ist seit 22 Jahren an der Macht, länger als Katharina Vosk auf der Welt. Die 20-Jährige arbeitet in der Verwaltung und betreibt nebenbei seit zehn Monaten einen Tiktok-Kanal mit inzwischen 137.000 Followern. Der sollte eigentlich unpolitisch sein: ein bisschen etwas über ihr Leben, ein bisschen über russisches Essen und russische Kultur. Seit dem 24. Februar aber ist alles politisch, auch in ihren Kommentarspalten.

Influencerin spricht öffentlich kein Russisch mehr

Manchmal sind es Fragen: „Was hältst du von Putin? Was sagst du zum Krieg?“ Dann kommen die Aufforderungen: „Positioniere dich endlich“. Und Beleidigungen: „Hau doch ab“ „Scheiß Russen“. Vosk sagt: „Das kommt jetzt von sehr, sehr vielen Menschen. Und wenn ich den Hass anspreche, bekomme ich wiederum noch mehr Hass ab.“

Vosk ist gegen den Krieg, aber sie ist auch vorsichtig. „Ich passe auf, was ich öffentlich sage. Meine Community weiß, dass ich den Krieg natürlich nicht befürworte. Aber ich habe eben auch die russische Staatsbürgerschaft und möchte in der nächsten Zeit wieder zu meiner Familie nach Russland reisen.“ Vorsichtig ist Vosk nach allen Seiten. Mit ihren Eltern redet sie in der Öffentlichkeit jetzt lieber Deutsch statt Russisch. Und sie hat ihnen geraten, möglichst nicht über Politik zu sprechen. „Man muss keine Zielscheibe werden.“

Rund 200 Straftaten in der Woche, die mit dem Krieg zusammenhängen, würden von der Polizei registriert, sagte der Chef des Bundeskriminalamts, Holger Münch, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Das reiche von Beleidigungen über Bedrohungen bis hin zu körperlichen Übergriffen, die meisten seien „antirussisch motiviert“.

Russlands Propaganda arbeitet auch in Deutschland

„Wir wollen keinesfalls, dass dieser Krieg auf dem Rücken von hier lebenden Menschen mit russischen oder ukrainischen Wurzeln ausgetragen wird“, sagt Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) dem RND: „Aber wir sehen noch nicht, dass es starke Übergriffe etwa auf russische Einrichtungen gibt. Stattdessen spielen hier erneut russische Desinformationskampagnen eine sehr große Rolle – versetzt mit der Behauptung, dass wir besonders russenfeindlich seien. Das sind wir nicht. Wir haben immer gesagt: Wir wissen sehr genau, dass Putin diesen Angriffskrieg gestartet hat und nicht Russen, die in Deutschland leben.“

Auch Alexander Ott hat erlebt, wie die russische Propaganda arbeitet. Nach dem Brandanschlag standen die Kamerateams am Schultor und Ott musste immer wieder erklären, dass die Lomonossow-Schule nicht etwa eine russische Schule sei, sondern eine deutsche Privatschule, in der nach Berliner Lehrplänen unterrichtet wird und die keine Verbindung zum russischen Staat hat.

Das Interesse des russischen Staatsfernsehens weckte sie dennoch. Kürzlich lief dort ein Beitrag, in dem Eltern gezeigt wurden, die nach Schulschluss ihre Kinder abholten – wie jeden Tag. Die russische Übersetzung lautete: „Diese Eltern holen ihre Kinder aus der Schule, weil die deutschen Behörden nicht mehr für ihre Sicherheit garantieren können.“

Russische Botschaft verbreitet absichtlich Falschmeldungen

Bernd Fabritius (CSU), der amtierende Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung, sagt dem RND: „Ich erhalte sehr viele Mails von Russlanddeutschen, die alarmiert sind über Übergriffe auf russischsprachige Menschen. Aber oft beziehen sich diese Mails auf den gleichen angeblichen Vorfall, den die Absender nur in den sozialen Medien mitbekommen haben. Es gibt echte Übergriffe, aber noch viel stärker wird von russischer Seite versucht, Empörung anzufachen. 95 Prozent der Meldungen, die ich erhalten, beziehen sich auf solch orchestrierte Fälle.“

Die russische Botschaft in Berlin veröffentlicht auf ihrer Website eine fortlaufend aktualisierte Liste über „Fälle der Diskriminierung und Verfolgung der russischsprachigen Bevölkerung in Deutschland“. Dort steht unter anderem: „Kinder (sieben Jahre) in einer Schule bei der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde in Alt Jabel malen Bilder, die Russland und seine Führung diskreditieren.“ Das klingt grotesk – und wird noch grotesker nach einem Anruf im Pfarrhaus in Mecklenburg.

Pastor Christoph Tuttas fällt aus allen Wolken. „Wir haben mit den Kindern im Christenlehreunterricht Friedenstauben gemalt, mit russischen und ukrainischen Flaggen“, sagt er. „Ich habe einen Brief an die Botschaft geschrieben, in sehr freundlichem Ton. Ich habe unsere Sehnsucht nach Frieden ausgedrückt und nach Versöhnung der Völker.“

Zwischen Friedenswunsch und Zynismus

In einem ihrer Tiktok-Videos trägt Katharina Vosk ein T-Shirt der Marke „Brat za brata“ (Bruder für Bruder). Firmenchef Kevin Zimmermann, ein Russlanddeutscher, will die Gewinnen aus dem T-Shirt-Verkauf für ukrainische Geflüchtete spenden. Das T-Shirt zeigt zwei Hände, eine mit russischen, eine mit ukrainischen Farben. Sie lassen eine weiße Taube fliegen.

„Ich kann diese Friedenssymbolik nicht ertragen“, sagt Marina Weisband in einem immer emotionaler werdenden Telefonat. „Mir erscheint das Bild zutiefst zynisch. Russen und Ukrainer, die sich die Hände reichen und Frieden schließen. Die Ukraine hat niemanden angegriffen. Für Frieden braucht es nur eines: dass Putins Truppen nicht mehr unsere Städte bombardieren.“ Wenn russischsprachige Menschen in Deutschland für Frieden demonstrieren wollen, sagt sie, „dann müssten sie für ein Energieembargo demonstrieren. Deutschland steht auf der Bremse.“

Eine kleine Gruppe von 120 Demonstranten, Russen und Belarussen, hat in Frankfurt/Main am Wochenende genau das getan. An die Bundesregierung appellierten sie, alles zu tun, um den Krieg in der Ukraine zu beenden und dazu „Putin und Russland härter anzufassen“.

„Der Frieden beginnt mit MIR“

An der Lomonossow-Schule in Marzahn gab es am Sonntag ein Friedenskonzert unter der Schirmherrschaft des Wahlkreisabgeordneten und CDU-Generalsekretärs Mario Czaja. „Der Frieden beginnt mit MIR“, heißt das Motto, wobei „mir“ auf russisch und ukrainisch wiederum Frieden bedeutet.

„Die allermeisten Deutschen aus Russland und Menschen mit russischen Wurzeln, mit denen ich gesprochen habe, sind schockiert darüber, was in der Ukraine passiert“, sagt Czaja dem RND. „Das ist ein schmerzhaftes Erwachen in der Realität.“

Beim Konzert in der Schulaula werden auch die ukrainischen Jugendlichen dabei sein, die als unbegleitete Geflüchtete im Internatsflügel der Schule untergekommen sind. Für sie hat Ott zudem eine Willkommensklasse eingerichtet. Nur an die große Glocke gehängt hat das die Schule nicht.

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