Russland und Nawalny„Die Lage ist explosiv – da kann man nicht einfach zugucken“

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Matthias Platzeck

Matthias Platzeck (67), ehemaliger SPD-Vorsitzender und früherer Ministerpräsident von Brandenburg, macht sich seit 2014 als Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums stark für eine Verständigung mit Russland. In seinem Buch „Wir brauchen eine neue Ostpolitik - Russland als Partner„, fordert er ein Umdenken der Berliner Politik gegenüber Moskau und mehr Verständnis für den Kreml. 

Herr Platzeck, was sagen Sie zur Verhaftung des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny? Die Art und Weise des Umgangs mit ihm ist weit von dem entfernt, was wir im Westen unter Rechtsstaatlichkeit verstehen.

Den russischen Kollegen sage ich immer, in einer schwierigen gesellschaftlichen Situation braucht es vor allem Mut zur Zivilgesellschaft, keine Angst vor ihr. Die Verhaftung von Nawalny zeugt auch von einer gewissen Ratlosigkeit. Ich hoffe sehr, dass die Administration zu einer vernünftigen Auflösung der Situation in der Lage ist.

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In Ihrem Buch fordern Sie, dass Deutschland Russland als Partner anerkennen muss. Warum ist das nötig?

Ich denke, die Grundsatzfrage ist, ob wir einander brauchen. Brauchen sich Deutschland und Russland, brauchen sich die Europäische Union und Russland ? Das wird in Deutschland derzeit unterschiedlich beantwortet. Die einen sagen, die Wirtschaftskraft der Russen ist nicht besonders groß, da besteht kein dringender Handlungsbedarf. Die anderen sagen, die Russen sollen sich erstmal ändern und so werden, wie wir uns das vorstellen. Ich halte all diese Herangehensweisen für wenig hilfreich. Die wirklich großen Fragen, vor denen wir stehen, werden wir ohne Russland nicht lösen können.

Welche Fragen sind das?

Klimawandel, Terrorabwehr, Flüchtlingsbewegung, Sicherheit im Nahen und Mittleren Osten, Abrüstung - all diese Probleme sind ohne Russland kaum zu bewältigen. Das sieht übrigens auch Bundeskanzlerin Angela Merkel so, zumindest habe ich sie so bei ihrem letzten Moskaubesuch verstanden.

Wie soll denn eine neue Annäherung, wie Sie sie fordern, erfolgen?

Wir haben jetzt sechs Jahre Sanktionen hinter uns. Und nun wird es Zeit, einmal zu bilanzieren, was hat das eigentlich gebracht? Wenn man die Sache nüchtern konstatiert, muss man sagen: die politischen Verhältnisse sind schlechter geworden und nicht besser. Hier stehen wir heute vor einem Scherbenhaufen. Die militärische Eskalationsgefahr ist massiv gestiegen. Und im wirtschaftlichen Bereich haben beide Seiten erheblich Schaden genommen. Hinzu kommt: Die Stimmung in Russland selbst ist eher antiwestlicher und nationalistischer geworden. Da bleibt jetzt die Frage: Machen wir die nächsten zehn Jahre so weiter oder ändern wir etwas.

Wie könnte denn eine Veränderung aussehen?

Zuerst steht für mich die Frage: Wie sieht die Welt in 15 oder 20 Jahren aus. Es wird sich ein Pol um China bilden - unter anderem mit Vietnam, Korea und Japan. Das wird eine wirtschaftliche Weltmacht sein. Das Tempo dort ist immens, die Gesellschaften sind hungrig und innovativ… Ein zweiter Pol werden die USA sein, wohl mit Kanada und Mexiko. Dort werden nach wie vor viele Finanzströme der Welt zusammenlaufen, hinzu kommt weiterhin eine große militärische Schlagkraft. Die offene Frage ist: wird es einen dritten Pol geben und wer bildet ihn. Wenn das die EU sein soll, dann braucht sie aus meiner Sicht Russland. Dort liegen beispielsweise viele der Rohstoffe, die ein solcher Pol für seine Wettbewerbsfähigkeit benötigt. Damit meine ich nicht nur Öl und Gas, sondern vor allem seltene Erden, seltene Metalle und vieles mehr, was man für eine moderne Volkswirtschaft braucht, wenn wir den Klimawandel aufhalten, Digitalisierung vorantreiben, eine Wasserstoffwirtschaft und die Mobilitätswende schaffen wollen.

Das heißt, es geht aus deutscher und europäischer Sicht vor allem um wirtschaftliche Interessen.

Das ist ein wichtiger Punkt, aber nicht der einzige. Russland ist und bleibt die zweitgrößte Atommacht der Welt. Wir sind direkte Nachbarn. Geografie lässt sich nicht verändern. Sollte es jemals zu unfriedlichen Auseinandersetzungen kommen, dann finden die hier statt. Zwischen uns und Russland liegt kein Ozean. Und schon das allein ist Grund genug, uns zu kümmern, dass das Verhältnis wieder besser wird.

Wie könnte man das denn angehen?

Da braucht es eine Menge kleiner Schritte, am Ende aber einen großen Wurf. Ich denke da auch an Willy Brandt und Egon Bahr. Sie haben seinerzeit mit ihrer neuen Ostpolitik vorexerziert, wie man aus einer festgefahrenen Situation herauskommt. Dazu gehört, die Probleme zu trennen – in solche, die lösbar sind und solche, die derzeit unlösbar sind. So könnte man zum Beispiel das Problem der Annexion der Krim temporär zur Seite stellen, ohne den Zustand anzuerkennen. Mit Sicherheit ergeben sich dann bessere Chancen, das Problem der Ost-Ukraine anzugehen, wo immer noch Menschen sterben. Ich denke, wenn man das trennt, würde man mit den Russen in der Ost-Ukraine viel schneller vorankommen. In der Folge könnte man die Sanktionen schrittweise zurückfahren und ein neues Grundvertrauen herstellen.

Und das ist dann der große Wurf?

Das ist ein Schritt in diese Richtung, aber der zentrale Punkt ist die Arbeit an einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur mit Russland auf Augenhöhe. Den Wunsch dazu hat Wladimir Putin schon vor 20 Jahren geäußert in seiner Rede vor dem deutschen Bundestag, die er auf deutsch gehalten hat. Er hat damals von allen Fraktionen stehende Ovationen bekommen, danach wanderte das Projekt in die Schublade. Für diesen Weg braucht man einen langen Atem und so etwas wie eine zweite Helsinki-Konferenz, auf der ein neuer Rahmen abgesteckt wird.

Was passiert, wenn das nicht geschieht?

Dann treiben wir Russland immer mehr in die Gegnerschaft und in Richtung China. Und wenn dann in Amerika mal wieder der falsche Präsident gewählt wird - so etwas kann ja vorkommen - , dann könnten wir Europäer plötzlich sehr allein auf dieser Welt dastehen.

Stichwort „Wandel durch Annäherung„ - Sie nehmen in Ihrem Buch auch Anleihe bei den SPD-Urgesteinen Willy Brandt und Egon Bahr. Die damaligen Probleme liegen zum Teil über 50 Jahre zurück, kann man das noch auf die heutige Zeit ableiten?

Geschichte wiederholt sich nicht, überhaupt keine Frage. Aber ich finde, man muss aus ihr lernen. Wir fordern heute von den Russen, dass sie sich erstmal in unsere Richtung wandeln, und dann wären wir bereit zur Annäherung. Willy Brandt und Egon Bahr haben das damals genau umgekehrt gesehen und unter dem Slogan „Wandel durch Annäherung„ mit einem Leonid Breschnew verhandelt, der das Wort Menschenrechte bestimmt nicht einmal buchstabieren konnte. Brandt und Bahr standen fest auf dem Boden unserer Werte, aber es gab für sie etwas, was noch darüber stand: Der Erhalt des Friedens! Diesem Herangehen und Denken fühle auch ich mich verpflichtet.

Sitzen wir denn auf einem Pulverfass?

Wir hatten früher im Kalten Krieg sehr klare Trennlinien. Heute ist die Lage viel unübersichtlicher. Fast alle Abrüstungsverträge, die vor 30 oder 40 Jahren abgeschlossen worden sind, liegen auf Kündigung oder sind schon hinfällig. Wir haben längst eine neue Phase des Wettrüstens erreicht. Die Lage ist explosiv, und ich finde, da kann man nicht einfach zugucken.

Aus Ihrer Sicht ist Wladimir Putin ein Garant für Stabilität. Heißt das, wenn er eines Tages abtritt, droht das Chaos?

Zunächst einmal: man kann immer nur mit den Mädchen tanzen, die im Saal sind. Vor einiger Zeit hat mir ein russischer Meinungsforscher gesagt, dass Putin wahrscheinlich liberaler als viele seiner Landsleute ist. Das heißt, die im Westen gehegte Hoffnung, wenn der abtritt, dann könnte sich alles ganz schnell zum guten ändern, diese Hoffnung könnte sich auch als ein großer Trugschluss erweisen. Viele Politiker in Russland sind durchaus nationalistisch eingestellt. Putin hat in den letzten Jahrzehnten eine gewissen Klarheit ausgestrahlt, was er für sein Land will. Deswegen sage ich, lasst uns die Chance, die wir mit ihm haben, nutzen, um doch noch ein paar Schritte voranzukommen.

Kritische Rezensenten Ihres Buches werfen Ihnen vor, Sie würden für die Ukraine oder andere osteuropäische Länder nicht die gleiche Empathie entwickeln wie für Russland.

Ich kenne alle unsere Nachbarländer sehr gut. Ich bin aber Vorsitzender des deutsch-russischen Forums. Meine Hauptaufgabe ist es daher, mich mit unseren Mitgliedern und Unterstützern für die Verbesserung der deutsch-russischen Beziehungen insbesondere im Bereich der Zivilgesellschaft einzusetzen. Eine russlandkritische Sicht kann man in Deutschland an jedem Zeitungskiosk bis zur Sättigungsgrenze finden. Ich denke, man muss sich gedanklich immer wieder auch auf die andere Seite des Tisches begeben und fragen: Warum ist das so? Warum denkt der andere so? Und das versuche ich. Stichwort Nord Stream 2: Mecklenburg-Vorpommerns

Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) steht mächtig unter Beschuss, weil sie mit Hilfe einer Stiftung die Ostseepipeline des russischen Gazprom-Konzerns zu Ende bauen lassen will. Was halten Sie davon?

Im Sommer 2020 gab es in Deutschland einen Aufschrei, als drei US-Senatoren mit einem Brief einen unsäglichen Druck aufgebaut und deutsche und europäische Firmen erpressen wollten, damit sie nicht mehr an diesem Projekt mitarbeiten. Mecklenburg-Vorpommern hat darauf hin mit dieser Stiftung, deren Hauptaufgabe übrigens Projekte im Umwelt- und Klimaschutz sind, eine sehr verhaltene und elegante Antwort gefunden.

Das Gespräch führte Jan Emendörfer

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