„Zero-Covid ist zero realistisch“Virologe Klaus Stöhr kritisiert Bundesregierung

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„Zero Covid“, die Brecheisen-Methode, um die Ausbreitung des Coronavirus zu stoppen, ist in aller Munde. Virologe und Epidemiologe Klaus Stöhr spricht im Interview über die deutschen Maßnahmen, die Schließung von Schulen und der Inzidenz als Parameter für Entscheidungen. Herr Stöhr, Sie sind ein international anerkannter Pandemieexperte. Trotzdem will die Kanzlerin Sie nicht in ihrem Beraterstab haben. Stattdessen scheinen sich dort immer die gleichen Kollegen von Ihnen mit ihren Einschätzungen zu Corona-Maßnahmen durchzusetzen. Lässt sich die Regierung zu einseitig beraten? Klaus Stöhr: Ich will mir nicht anmaßen, das zu beurteilen. Was ich sagen kann, ist, dass ich bereits einige Regierungen zur Bewältigung von Epidemien und Pandemien beraten habe. Das Beraterteam setzte sich dabei meist interdisziplinär zusammen: Neben Mikrobiologen und Epidemiologen waren unter anderem auch Psychologen, Soziologen und Gesundheitsökonomen vertreten. Im Podcast „Die Wochentester“ ist Stöhr in der aktuellen Folge mit Wolfgang Bosbach und Christian Rach zu Gast. Hören Sie hier rein! Es wurde ergebnisoffen über die Vor- und Nachteile von Maßnahmen diskutiert, und es wurden Alternativen erarbeitet. Meiner Erfahrung nach ist das der beste Weg, um so komplexe Probleme zu lösen und politische Entscheidungen vorzubereiten.

Die Bundesregierung hielt offenbar den Lockdown und eine weitere Verschärfung der Maßnahmen für alternativlos. Es hieß ja immer, die Zahlen müssen runter. Sehen Sie das anders?

Alternativlos ist tatsächlich, jetzt in den Wintermonaten soziale Kontakte zu beschränken und die AHA-Regeln zu beachten, wenn wir das Infektionsgeschehen eindämmen wollen. Was weitere Maßnahmen angeht, stellt sich aber immer die Frage: Wo setze ich am besten an, um die schlimmsten gesundheitlichen Auswirkungen zu bekämpfen? Und welche Zahlen müssen eigentlich runter – die Infektionszahlen allgemein oder die Zahl der schweren Verläufe und Todesfälle?

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Sie sind zum Beispiel gegen die Schließung von Grundschulen und Kindergärten.

Schließungen hier sind das letzte Mittel im absoluten Krisenmodus, den sieht man ja nicht, auch nicht in den Krankenhäusern. Hier werden Maßnahmen nach dem Gießkannenprinzip ergriffen. Auch im Wissen, dass Kinder und Jugendliche zwar am Infektionsgeschehen teilnehmen, ihre Bedeutung als Infektionsquelle für die vulnerablen Gruppen im Vergleich zu Erwachsenen aber sicherlich weit geringer ist.

Es gibt etwa zwölf Millionen Kinder und Jugendliche in Tageseinrichtungen und Schulen und circa 43 Millionen Berufstätige. Pandemien bekämpft man am besten dadurch, dass man sich auf Risikogruppen und Orte mit hohem Infektionsrisiko konzentriert: Das sind neben den Alten- und Pflegeheimen der Familien- und der Freundeskreis, danach die Arbeitsstelle. Wie weiterhin geschlossene Geschäfte, Kitas und Schulen das Dilemma in einigen Altenheimen lösen sollen, ist mir nicht zugänglich.

Wie und wo sollte man denn die Risikogruppen besser schützen?

Mehr als 30 Prozent der Todesfälle treten bei Bewohnern von Alten- und Pflegeheimen auf, die Inzidenz bei den über 80-Jährigen liegt immer noch bei über 200. Hier könnte und müsste man viel mehr unternehmen.

Schon vor Corona gab es einen Mangel an Pflegern. Es handelt sich auch um ein Ressourcenproblem. Wie soll man das so schnell lösen?

Dieses strukturelle Problem ist tatsächlich schon länger bekannt, und eine schnelle Lösung sehe ich hier nicht. Man könnte aber zum Beispiel Personal aus den Gesundheitsämtern für die Schulung und Kontrolle einsetzen oder dazu, Personal aus der Bundeswehr, dem THW oder freiwillige Medizinstudenten einzuarbeiten. Stattdessen werden die Fachkräfte aus den Ämtern zur undifferenzierten Kontaktverfolgung eingesetzt.

Sie sprechen sich dagegen aus, sich bei Corona-Maßnahmen an der Inzidenz in der Gesamtbevölkerung zu orientieren. Bedeuten mehr Infektionen nicht automatisch, dass auch mehr Infektionen in Pflegeheime hineingetragen werden?

Allen ist wohl klar, dass man Inzidenzen beobachten muss. Aber: Als einziger Parameter greift die Gesamtinzidenz zu kurz. Sie berücksichtigt nicht die Risikounterschiede der Altersgruppen zu erkranken oder als Quelle von Infektionen. Darüber hinaus spiegelt sie nicht das Geschehen in den Krankenhäusern und Intensivstationen wider. Auch fehlt die Bewertung des Infektionsgeschehens, die zum Beispiel der R-Wert-Trend ermöglicht.

Wir benötigen eine mehrdimensionale Bewertung des Geschehens, damit Maßnahmen auch zielgerecht eingesetzt werden – also dort, wo sie am meisten bewirken. Aussagen, dass der Tod in den Altenheimen in den Kindergärten anfängt, halte ich nicht nur für polemisch, sondern auch nicht für wissenschaftlich belegt. Infektionsquellen sind das Personal und die Besucher: Hier kann man besser ansetzen.

Im Moment fragen sich viele, wie es in den nächsten Monaten weitergehen soll. Wie könnte für Sie eine Langfriststrategie zum Umgang mit dem Virus aussehen?

Richtig wäre, den bereits lange eingeforderten Stufenplan zu erarbeiten. Dabei werden zuerst Erfolgsparameter (zum Beispiel R-Wert-Trend, risikospezifische Inzidenz, Belegung der Intensivstationen) festgelegt. Bei Erreichen oder Nichterreichen können Maßnahmen verschärft oder gelockert werden. So wird es besser gelingen, die Menschen mit ins Boot zu holen. Sie wissen dann, was sie erwartet, und das Stolpern von Lockdown zu Lockdown wird durch einen transparenten, vorhersagbaren Maßnahmenkatalog ersetzt. Schleswig-Holstein hat hier mit einem ersten Entwurf eines Stufenplans bereits die Vorreiterrolle übernommen.

Erfordert denn das Auftreten der neuen Mutationen nicht noch einmal härtere Maßnahmen?

Das sehe ich gegenwärtig nicht so, auch wenn die in Großbritannien entdeckte Variante B.1.1.7 tatsächlich etwas infektiöser zu sein scheint. Für die Pandemieplanung ist entscheidend, ob es signifikante Probleme bei der Bekämpfung gibt. Das ist offensichtlich nicht der Fall: In Irland gehen die Infektionen um mehr als zwei Drittel zurück, obwohl B.1.1.7 anteilmäßig zunimmt. Ähnlich sieht es in Dänemark und Großbritannien aus. Weltweit hat es bis jetzt schon mehr als 6000 genetische Varianten des Coronavirus gegeben, ohne dass diese die Bekämpfung deutlich beeinflusst hätten.

Die Initiative Zero-Covid möchte die Pandemie mit noch viel drastischeren Maßnahmen dauerhaft beenden und die Inzidenz dadurch auf null senken. Was halten Sie von diesem Ansatz?

Die Elimination eines Pandemievirus in Deutschland ist nicht realistisch. Eine Inzidenz gegen null anzustreben ergibt 100 Prozent Sinn in den Alten- und Pflegeheimen. Sie in der Gesamtpopulation im Winter gegen null zu drücken ist weder aufrechtzuerhalten noch gerechtfertigt. Sars-CoV-2 wird uns noch jahrzehntelang begleiten, wenn auch nicht mit den derzeitigen Auswirkungen. Es wird weniger schwere Verläufe geben, wenn immer mehr Menschen ganz oder teilweise immun sind – entweder durch eine Impfung oder eine durchgemachte Infektion. Es zirkulieren ja auch jetzt schon vier andere Coronaviren. Die machen im Winter etwa 30 Prozent der Erkältungskrankheiten aus, ohne in besonderer Weise gefährlich zu sein. Sars-CoV-2 wird irgendwann einfach dazugehören. Das wird das Ende der Pandemie sein. Zero-Covid hingegen, das ist zero realistisch.

Das Gespräch führte Irene Habicht

Der Epidemiologe Klaus Stöhr hat mehrere Jahre lang das Global-Influenza-Programm der WHO geleitet und war dort Sars-Forschungskoordinator.

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