Der König der AngreiferJulian Alaphilippe prägt Tour de France wie im Vorjahr

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Julian Alaphilippe ist in zwei Jahren zu Frankreichs Radsport-Liebling geworden.

Sisteron/Köln – Zu den Dingen, die einfach passieren, gehört neben dem Wechsel von Tag und Nacht ein Angriff von Julian Alaphilippe am Ende einer schweren Etappe, die einen Hügel kurz vor dem Ziel in ihrem Profil aufweist. Obwohl der Franzose am Sonntag nach zwei Bergwertungen der ersten und einem Hügel der zweiten Kategorie vor der letzten Erhebung des Tages als Teil eines immer kleiner werdenden Pelotons also ein großes, imaginäres Schild auf seinem Rücken spazieren fuhr, auf dem stand: „Ich jage gleich los“, passierte es gut 13 Kilometer vor dem Ziel der zweiten Etappe der 107. Tour de France genauso. Nur Marcel Hirschi aus der Schweiz und später noch der Brite Adam Yates konnten folgen. Dieser Vorstoß gipfelte in Alaphilippes fünftem Tageserfolg bei der Tour – selten hat ein Fahrer einen für alle klaren Plan mit derartiger Grandezza bei der Frankreich-Rundfahrt umgesetzt, denn dort gehören die Gegner zu den besten Fahrern der Welt.

Alaphilippe versetzte La France zudem erneut in Trance, schließlich schloss sich an seinen Etappensieg eine Krönung auf dem Siegerpodest an: Der Empfang des Gelben Trikots. Schon wieder. Es ist ein Déjà-vu.

Frankreichs Radsport-Liebling

Julian Alaphilippe aus Montluçon in der Mitte Frankreichs, 28 Jahre alt, ist seit 2018 Frankreichs Radsport-Liebling. Das liegt an seinem steten Willen zur Attacke, seiner Leidensfähigkeit auf dem Rad und seinem Auftreten, das aufgeladen ist mit Emotionen, die mitreißen. 2018 animierte Alaphilippe die Tour, gewann zwei Teilstücke und das Bergtrikot. Doch sein Meisterstück lieferte er ein Jahr später ab: noch mal zwei Etappensiege und zudem fuhr er 14 Tage im Gelben Trikot, das er bei jener Frankreich-Runde gleich zweimal eroberte. Abgeben musste er es erst zwei Tage vor Paris an den späteren Sieger Egan Bernal aus Kolumbien. Für Alaphilippe, den König der Angreifer, blieb am Ende Rang fünf der Gesamtwertung übrig.

Am Montag also fuhr Alaphilippe während der dritten Etappe in seinem gewohnten Look durch die Provence: gelber Helm, gelbes Trikot, gelbe Handschuhe und schwarze Hose mit gelben Streifen. Sechs weitere Tage in Gelb werden ihm durchaus zugetraut – mindestens. Jemand, der die Tour komplett erobern kann, ist Alaphilippe gleichwohl nicht. Dafür fehlt ihm die Konstanz in den Bergen.

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Alaphilippe führt das Feld an

Am Sonntag verblüffte er noch mit dem Wechsel der Temperamente: Zunächst überzeugte er als hochkonzentriertes Kraftwerk, das hochtourig Watt auf die Pedale brachte. Dazu kam Eiseskälte beim Finish. Schließlich rissen die Gefühle aus, als Alaphilippe sein Rad verließ, sich auf einen Bordstein setzte und zu weinen begann. „Das ist für dich, Papa. Du fehlst mir unendlich“, twitterte Alaphilippe am Abend. Schon vorher hatte er erklärt, dass dieser Sieg Jacques Alaphilippe gewidmet sei, genannt Jo, seinem Ende Juni verstorbenen Vater.

Alaphilippe ist ein Familienmensch, seine jüngeren Brüder Léo und Bryan versuchen sich auch als Radsportler, seine Mutter Catherine ist oft bei Rennen ihres ältesten Sohnes zu sehen. Das galt zuletzt auch für den Vater, der nach einem Herzinfarkt im Rollstuhl saß. Cousin Franck Alaphilippe ist in dem Unternehmen der Trainer, Julian Alaphilippes Freundin Marion Rousse fuhr einst erfolgreich Rennrad. Nun ist sie während der Tour Reporterin des französischen Fernsehens; gemeinsam wohnen die Beiden in Andorra. Julian Alaphilippe sagt: „Ich weiß, dass mein Vater von oben zugeschaut hat. Das hat bei mir sehr viele Emotionen freigesetzt. Meine Erfolge auf dem Rad machen meine Familie stolz.“

Viele Erfolg in Alaphilippes Karriere

Erfolge hatte Alaphilippe Zeit seiner Karriere. Zunächst in der Spezialdisziplin des Crossfahrens – da war er 2010 Vizeweltmeister bei den Junioren und 2013 EM-Dritter in der Kategorie U 23. Im Gelände hat er gelernt, Anstiege hinaufzufliegen, zu spurten und sein Rad zu beherrschen. Dieses Können kommt ihm vor allem bei den Abfahrten zugute, wo sich bei ihm Können und Wagemut mischen.

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31 Profisiege hat Alaphilippe bisher erreicht, davon jeweils zwölf 2018 und 2019. Seine Siege sind zudem qualitativ wertvoll: zwei Mal gewann er den Flèche Wallonne, dazu Mailand-Sanremo, die Strade Bianche und Etappen in allen Spielarten: im Sprint, bei Bergankünften und im Zeitfahren. Doch in dieser skurrilen Corona-Saison kam Alaphilippe noch nicht richtig in Tritt. Zweiter war er bei Mailand-Sanremo am 8. August, bei den Strade Bianche hatte er als Titelverteidiger gleich sechs Defekte – und keine Siegchance mehr. Zweifel machten sich breit und immer wieder musste Alaphilippe darauf verweisen, dass seine Form im Aufbau begriffen sei im Hinblick auf die Tour de France. Mit seinem Erfolg vom Sonntag in Nizza schließt sich zudem ein Kreis, sein letzter Sieg gelang ihm beim Zeitfahren von Pau im Gelben Trikot am 19. Juli bei der Tour 2019. „Der Erfolg von Nizza bedeutet mir sehr viel. Ich habe hart gearbeitet dafür, das Siegen hat mir sehr gefehlt zuletzt“, sagte Alaphilippe noch.

Der Vater war in der Heimatregion der Alaphilippes ein bekannter Musiker, der mit seinen Melodien Hochzeitsgesellschaften unterhielt. Julian Alaphilippe hat seine Hyperaktivität einst auf Initiative seines Vaters am Schlagzeug abreagiert. Eine Karriere als Musiker hätte er sich auch vorstellen können – doch die auf dem Fahrrad behagt ihm und seinem Temperament sogar noch mehr. Wobei: „Musik entspannt mich, sie gibt mir viel“, sagt er. Aber Radsport, nun ja – „das ist mein Schicksal.“

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