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Pierre Littbarski über die WM 1990„Gegen Holland war immer was los“

Lesezeit 7 Minuten

Pierre Littbarski (l.) jubelt gemeinsam mit Lothar Matthäus über den WM-Titel 1990.

Pierre Littbarski war dabei, als die deutsche Mannschaft im Sommer 1990 zum bislang letzten Mal den WM-Titel gewonnen hat. Im Interview mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ erinnert er sich an das Turnier in Italien, äußert sich zu Christoph Daums Entlassung beim 1. FC Köln und der Perspektive des FC in der Bundesliga und gibt eine Prognose für das Turnier in Brasilien ab.

Herr Littbarski, woran denken Sie als erstes, wenn Sie sich an die WM 1990 in Italien erinnern?

Pierre Littbarski: Daran, dass das ein stolzer Titelgewinn war. Wir haben guten Fußball gespielt und waren verdienter Weltmeister.

Sie waren einer von vier Spielern des 1. FC Köln im Kader. Bodo Illgner, Thomas Häßler und Sie haben fast immer gespielt, Paul Steiner nicht einmal. Wie war die Stellung der Kölner Spieler in der deutschen Mannschaft?

Pierre Littbarski ist ein ehemaliger Fußballspieler und heutiger Funktionär. Als Spieler war er in Deutschland nur für den 1. FC Köln aktiv, in 406 Bundesliga-Spielen traf er insgesamt 116 Mal.

Für die deutsche Nationalelf bestritt er 73 Länderspiele (18 Tore), 1990 wurde er Weltmeister. Als Trainer war er seit 1999 unter anderem in Yokohama, Duisburg, Sydney und Vaduz aktiv. Heute ist er Chefscout beim Bundesligisten VfL Wolfsburg.

Littbarski: Recht gut. Häßler und ich waren als Mittelfeldspieler ein belebendes Element für die Mannschaft und mit Illgner hatten wir einen Torwart, der in die Fußstapfen von Toni Schumacher getreten ist. Wenn man mit vier Spielern bei einem Turnier ist, dann hat man schon einen gewissen Stellenwert. Wir wurden aufgrund unserer Leistungen akzeptiert und respektiert.

In den Vorrundenspielen hat Teamchef Franz Beckenbauer Sie jeweils eingewechselt, im Achtel- und Viertelfinale standen Sie in der Startelf, im Halbfinale saßen Sie auf der Bank, im Finale waren Sie wieder von Beginn an dabei. Ein komischer Verlauf…

Littbarski: Ich bin sehr stolz auf das Turnier. Wir hatten im Mittelfeld viele gute Spieler, außer Häßler und mir waren da noch Guido Buchwald, Lothar Matthäus, Uwe Bein, Olaf Thon und Andreas Möller, also sieben sehr gute Männer. Mir war klar, dass ich mich im Laufe des Turniers Stück für Stück hineinspielen kann und die Startelf der Vorrunde nicht zwingend die Mannschaft sein würde, die auch den Titel holt. Für mich war es nur wichtig, mich immer wieder zu zeigen und anzubieten, und dann hat der Franz mich ja auch teilweise gebracht. Für ein Turnier war mein Verlauf eigentlich nicht komisch, da sind solche Entwicklungen normal, dass sich die Mannschaft erst herauskristallisiert.

Wie hat Franz Beckenbauer Ihnen seine Entscheidungen erklärt?

Littbarski: Der Franz musste nicht so viel sprechen – wir wussten, woran wir sind. Jeder hat sich darauf konzentriert, fit zu sein und Leistung zu bringen, wenn er eingesetzt wird. Es war nicht so wichtig, dass der Franz uns täglich den Kopf streichelt.

Das hat sich mittlerweile ein wenig geändert…

Littbarski: Ich kann nicht gut beurteilen, wie es heute innerhalb der Mannschaft aussieht.

Das Spiel gegen die Niederlande ist auch wegen der Spuck-Attacken von Frank Rijkaard gegen Rudi Völler und den anschließenden Platzverweisen in Erinnerung geblieben. Wie haben Sie diese Szenen erlebt?

Littbarski: Diese Szenen werden natürlich immer herausgepickt – obwohl es insgesamt ein grandioses Spiel war. Diese Momente allerdings waren überraschend und außergewöhnlich, das war auch für mich das erste Mal, dass ich so etwas während eines Spiels gesehen habe. Ich konnte das einfach nicht begreifen.

Überhaupt war die Atmosphäre während dieses Duells sehr aufgeheizt.

Littbarski: Die Spiele gegen Holland sowieso. Wir hatten 1988 ja schon Theater, als sie uns die Begrüßung vor dem Spiel verweigert haben. Gegen Holland war immer richtig was los.

Im Finale 1990 gegen Argentinien aber auch. Die 85. Minute, das Foul an Völler, der Elfmeter von Andreas Brehme – sind diese Augenblicke 24 Jahre später bei Ihnen noch sehr präsent?

Littbarski: Das ganze Spiel ist noch sehr präsent. Wir hätten es gern schon vorher entschieden, wir hatten ja einige gute Chancen. Ich habe während des Spiels schon an die Verlängerung und das Elfmeterschießen gedacht. Das wollten wir uns ersparen, deshalb war ich sehr froh, dass wir den Elfmeter bekommen haben und Brehme getroffen hat.

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Wie haben Sie als Kölner Spieler die Entlassung Ihres Vereinstrainers Christoph Daum während der WM aufgenommen?

Littbarski: Absolut enttäuscht. Das war vollkommen unverständlich. Normalerweise werden Leute entlassen, wenn sie keine Leistung bringen, das war bei Christoph Daum jedoch überhaupt nicht der Fall. Er musste aus anderen Gründen gehen. Das hat den Verein über Jahre geschwächt.

Wenn Sie den Fußball betrachten, wie er 1990 war und wie er heute ist: Könnte die damalige Mannschaft bei der WM in Brasilien noch bestehen?

Littbarski: Technisch auf alle Fälle. Wir müssten natürlich körperlich noch viel fitter sein, aber wir hatten Spieler mit einer sehr guten Technik dabei. Der Fußball an sich hat sich schon sehr gewandelt, besonders im Mittelfeld muss man unglaublich handlungsschnell sein. Aber wenn wir den gleichen Trainingszustand hätten wie die aktuelle Mannschaft, dann könnten wir durchaus mithalten.

Sie haben auch mit dem kommenden Turnier zu tun, sind kürzlich mit Horst Eckel, Weltmeister von 1954, und Bernd Hölzenbein, Weltmeister von 1974, durch die Republik gereist und haben den WM-Pokal präsentiert. Welche Chancen hat die deutsche Mannschaft in diesem Jahr?

Littbarski: Wir können wieder unter die letzten vier Teams kommen. Wie immer muss man bei großen Turnieren sehen, wie die Stimmung in der Mannschaft ist, wie das Feintuning funktioniert und wie groß der Hunger der Spieler nach dem Titel ist. Kleine Fehler entscheiden das Turnier – da kommt es dann darauf an, wie man diese Fehler wegsteckt und wie konzentriert die Mannschaft ist. Es gab in den letzten Jahren immer wieder Spiele, in denen wir in den letzten Minuten noch Gegentore kassiert haben. Da muss die dann wirklich die Konzentration stimmen – die Qualität der Mannschaft reicht sicher aus.

Es wird viel über klimatische Bedingungen und die schwierigen Umstände in Brasilien gesprochen. Worauf kommt es beim Turnier wirklich an?

Littbarski: Es ist schon eine Umstellung. Wenn man sich sechs Wochen in Brasilien aufhält, ist es aber auch das Gesamtpaket: Die Entfernungen, klimatische Bedingungen, eine andere Infrastruktur. Das kann dann natürlich nerven. Wenn man da nicht locker bleibt, kann das sehr schnell dazu führen, dass ein Spieler angespannt ist und nicht mehr seine Leistung bringt.

Verfolgen Sie die Proteste in Brasilien?

Littbarski: Ich blicke nicht täglich nach Brasilien, aber man bekommt es hier in den Nachrichten natürlich regelmäßig mit. Ich hoffe, dass es trotzdem ein Fußballfest wird.

Kommen wir zu Ihnen: Sie sind Chefscout des VfL Wolfsburg, arbeiten also im Optimalfall an der Nationalmannschaft der Zukunft. Sehen Sie sich auf Dauer in dieser Position?

Littbarski: Ich lege meine Arbeit nicht auf Jahre hinaus an. Ich bin seit vier Jahren hier, das ist ein Zeichen dafür, dass ich mich wohl fühle. Die Arbeit macht mir Spaß und ich kann mir das noch eine Weile vorstellen – aber ob ich das noch zehn oder zwanzig Jahre mache, das kann ich Ihnen nicht sagen.

Sie sind gebürtiger Berliner, haben aber viele Jahre in Köln gespielt. Wie beurteilen Sie die Entwicklung des FC?

Littbarski: Sie sind aufgestiegen und ich glaube, dass Jörg Schmadtke und Peter Stöger sehr gute Arbeit leisten. Sie haben eine Mannschaft geformt, die am Anfang nicht besonders gut gespielt, sich aber zu einer sehr soliden und guten Einheit entwickelt hat. Mit Patrick Helmes haben sie sich noch einmal sehr gut verstärkt. Die Kölner haben viel Potenzial und eine gute Mischung aus jungen und alten Spielern. Ich sehe da noch Luft nach oben und glaube nicht, dass der FC in der nächsten Bundesligasaison durchgereicht wird.

Das Gespräch führte Philip Sagioglou

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