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KinderheimEin Zuhause auf Zeit

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Vorbereitungen für den Weihnachtsmarkt im Wohnheim der St.Anna-Stiftung

Köln – Ist die Rede vom Kinderheim, drängen sich unweigerlich und wider besseren Wissens Assoziationen von Waisenhäusern auf. Schlafsäle mit langen Reihen karger Stockbetten, uniformiert gekleidete Kinder, die vor einem großen Topf Erbsensuppe Schlange stehen, Heim-Väter mit strengem Blick und Rohrstock in der Hand.

Wie aus einem Dickens-Roman

Bilder, wie aus einem Charles Dickens Roman, geprägt von Entbehrung, Erbarmungslosigkeit, Einsamkeit. Dass diese Klischees seit Jahrzehnten der Vergangenheit angehören, daran wird erinnert, wer das Wohnheim der St. Anna-Stiftung mitten im Vogelsanger Wohngebiet besucht: Von außen bunt, offen, einladend - und auch in seinem Inneren eher einem Ferienhort als einer Festung gleichend.

Auf drei Etagen bietet die Evangelische Jugendhilfe St. Anna-Stiftung e.V. hier 54 Kindern und Jugendlichen ein Zuhause auf Zeit - aufgeteilt auf sechs Gruppen mit je neun Bewohnern zwischen sechs und 18 Jahren. Zusätzlich gibt es eine "Verselbstständigungsgruppe" für Jugendliche auf dem Weg in die Selbstständigkeit.

Schulverweis und Schokopudding

In der zweiten Etage ist die "Gruppe Blau" zu Hause. An den Wänden der großen Flure hängen in Pop-Art gemalte Dome und weiße Sterne im Gemeinschaftsraum. Leon (Name geändert) wartet schon sehnsüchtig am bunt gedeckten Tisch - die große Schüssel Schokopudding im Visier - auf seine acht Mitbewohner, besser gesagt: auf das Mittagessen.

Die Schule musste der Neunjährige heute früher verlassen, "ich wurde rausgeschmissen", sagt er mit gesenktem Blick. Den Grund für den Schulverweis verrät er nicht. "Weil er sich dort heute offenbar nicht so tadellos verhalten hat, wie wir es hier von ihm kennen", wirft sein Betreuer Mike Matzek ein. Und meint es ernst und ehrlich.

Hoher Bedarf an Geborgenheit

Was genau Leon ausgefressen hat, weiß der Erzieher nicht, wohl aber, dass er, wie die meisten Kinder, die unter diesem Dach leben, einen hohen Bedarf an Betreuung, Exklusivität und Geborgenheit hat. Weil ihnen all das zu Hause fehlte, die Eltern zum Beispiel alkoholsüchtig oder gewalttätig sind, neu im Land, wohnungslos, (psychisch) erkrankt oder aus sonst einem Grund überfordert mit der Erziehung ihrer Kinder.

"Pro Wohngruppe sorgen fünf Betreuer dafür, dass die jeweils neun Bewohner in einem sicheren Rahmen, entsprechend ihren Bedürfnissen erwachsen werden können", sagt Monika Langnickel, die Leiterin der Jugendhilfe St. Anna-Stiftung. Alle haben ein eigenes Zimmer, das sie selbst einrichten dürfen. Pro Wohngruppe gibt es ein Wohnzimmer, eine Küche, einen großen Gruppenraum.

Werkeln für den Adventsmarkt

Und auch außerhalb der WGs ist einiges geboten: Sport und Samba im Fitnessraum, Kunst und Handwerk in der großen Werkstatt, Spaß und Auszeit auf dem Spielplatz im Hof - das 41-köpfige Team tut alles, um Leon und seinen 53 Mitstreitern einen erfüllten Alltag im Bachstelzenweg 53 zu bieten. Im Werkraum im Keller herrscht dieser Tage geschäftiges Treiben. Noch sieben Tage bleiben bis zum Adventsbasar, den die Jugendeinrichtung jedes Jahr für Ex-Bewohner, Freunde, Familienangehörige und Stadtteilbewohner im großen Innenhof organisiert.

Gebacken und geschliffen

Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren: Es wird gefilzt und genäht, betoniert und bemalt, gebacken und geschliffen. Filzhüte und Betonvasen, Kunstdrucke und Keramiken - die ersten Ergebnisse lassen sich sehen und könnten ebenso gut für einen Designmarkt herhalten.

Leon hat erst in der Wohngruppe und während der vielen Freizeitangebote der St.-Anna-Stiftung erfahren, was es heißt, Kind sein zu dürfen, sich selbst wahr-, seine Bedürfnisse ernst zu nehmen und gefördert zu werden. Zuhause musste der Neunjährige schon früh seine Aufmerksamkeit auf die drogenabhängige und suizidgefährdete Mutter richten, sich um sie kümmern und sorgen.

Verkehrte Verantwortung

Umgedrehte Rollen. Verkehrte Verantwortung. Leon hat ein geschütztes Zuhause gefunden - und dennoch: "Hier zu sein empfinden die meisten Kinder und Jugendlichen nicht als Gewinn", sagt Langnickel, und erzählt von einem Dialog, den sie kürzlich zwischen einer Bewohnerin und deren Schulfreundin aufgeschnappt hat. "Du hast es gut", sagt die Schulfreundin, "bekommst an Weihnachten Geschenke, ich nur eines. Kannst Sport machen, dafür haben meine Eltern kein Geld. Verreist in den Ferien mit Deiner Gruppe, ich habe noch nie Urlaub gemacht." "Aber du lebst bei deinen Eltern", antwortet die Bewohnerin knapp.

"Wenn ein Kind bei uns aufgenommen werden muss, steckt mehr dahinter als nur Pubertätsprobleme oder Entwicklungsstörungen", sagt Langnickel. Dann ist die Kindheit über die Grenzen hinaus belastet. Weil dem Kind Gewalt droht, es Anzeichen für Misshandlung oder sexuellen Missbrauch gibt, für Vernachlässigung oder Überforderung der Eltern. Weil schwerwiegende Beziehungsprobleme die eigene Familie belasten oder Integrationsschwierigkeiten die Pflegefamilie. Weil es in der Ursprungsfamilie Kriminalität gibt, Sucht- oder Schulprobleme.

1100 Heimkinder in Köln

Die Anlässe dafür, dass Kinder aus ihren Familien geholt werden müssen, können sehr verschieden sein, gleich ist das Prozedere: Der Weg läuft in der Regel über das Jugendamt - und eine Inobhutnahme. Darunter versteht man die gesetzlich vorgeschriebene Maßnahme der Jugendämter zum Schutz von Kindern und Jugendlichen, die sich in einer akuten Krise oder dringenden Gefahr befinden. Derzeit leben in Köln rund 1100 minderjährige Jungen und Mädchen in Kinderheimen, genauer: in stationären Einrichtungen im Rahmen der Erziehungshilfe, wie sie im Behördendeutsch heißen. Viele bleiben nur vorübergehend, manche für ihre gesamte Jugend. "Zu den Klischees vom Leben im Heim gehört auch die Vorstellung, es sei eine Einbahnstraße, es gäbe kein Zurück in die Familie, keinen Kontakt mehr. Das Gegenteil ist der Fall", sagt Langnickel. Die Kooperation mit den Eltern gehöre, soweit das sinnvoll und möglich ist, zu den Grundprinzipien des Hauses.

Begleiter statt Elternersatz

"Wir verstehen uns auch weder als Eltern-Ersatz noch als Konkurrenten, sondern als Begleiter und Unterstützer", ergänzt Matzek. Schließlich sei das Ziel, darauf hinzuarbeiten, dass die Kinder wieder zu Hause leben können. Es gibt Besucherzimmer für Eltern, die keinen festen Wohnsitz haben, Familien- und Erziehungsberatungen und eine Eltern-Kind-Freizeit in den Ferien. Überhaupt gibt es in der Urlaubszeit und am Wochenende einiges an Programm: Die Wohngruppen fahren jedes Jahr auf Ferienfreizeit in den Süden und ins eigene Ferienhaus in die Eifel. Übers Jahr verteilt werden Rad- und Wandertouren angeboten, Kunst-, Sport-, Musikwochen und regelmäßig Feste. Das alles will bezahlt sein, denn öffentliche Zuschüsse, die über die Finanzierung der Grundversorgung hinausgehen, gibt es nicht. Weshalb die "Anna-Stiftung" für bestimmte Projekte und Freizeitangebote auf Spenden angewiesen ist. "Sinnvolle Freizeitgestaltung wird immer teurer. Sportvereine, Musikunterricht, Zoo- oder Kinobesuche können wir unseren jungen Bewohnern nur mit Unterstützung von Spenderinnen und Spendern anbieten", sagt Monika Langnickel. Damit Leon und seine 53 Mitbewohner sich nicht wie Waisenkinder aus einem Charles Dickens Roman fühlen.

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