KinderschutzKann ein Gesetz Kinder behüten?

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Statistisch gibt es jährlich mehr als 100 000 Kinderschutzfälle in Deutschland.

Köln – Mit dem Bundeskinderschutzgesetz (BKischG), das am 1. Januar 2012 in Kraft getreten ist, wurden die Rechte von Kindern in Deutschland klar gestärkt. Anlass für das neue Gesetz waren unter anderem mehrere dramatische, deutschlandweit diskutierte Fälle von Kindesmisshandlung und Vernachlässigung –  und das, obwohl das Jugendamt zuvor  involviert war. Ähnlich wie der tragische Missbrauchsfall eines Neunjährigen in Freiburg.

Schutzlücken schließen

Ziel des Gesetzes ist, „das Wohl von Kindern und Jugendlichen zu schützen und ihre körperliche, geistige und seelische Entwicklung zu fördern“. Konkret sollen vier Artikel für verlässliche Netzwerke und Hilfsangebote von Beginn  an sorgen, für mehr Handlungssicherheit für alle Akteure im Kinderschutz und  für verbindliche Standards in der Kinder- und Jugendhilfe. Kurz gesagt ging es bei der Gesetzeseinführung darum, neue Formen der Hilfe über einen verbindlichen Rahmen abzusichern und  bestehende Lücken im Kinderschutz zu schließen. 

Netzwerk für mehr Unterstützung

Ein zentraler Baustein des BKischG ist die gesetzliche Verankerung der „Frühen Hilfen“, Unterstützungsangebote für Schwangere und Eltern von Kindern zwischen null und drei Jahren. Alle Kinderschutz-Akteure wie Jugendämter, Schulen und Beratungsstellen werden in einem Netzwerk zusammengeführt, damit die Unterstützungsangebote  abgestimmt werden.

Renate Blum-Maurice, Mitglied im Team der Familienberatung und ehemalige fachliche Leiterin des Kinderschutz-Zentrums in Köln, findet: „Das Bundeskinderschutzgesetz greift im Alltag tatsächlich weit in die Praxis ein. So hat das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz mit der Verankerung der  Frühen Hilfen eine wichtige Veränderung bewirkt. In jedem Kölner Bezirk  gibt es inzwischen ein Netzwerk Frühe Hilfen, das war früher nicht der Fall.“

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Gewalt gegen Kinder und Jugendliceh geht uns alle an

Rechtsanspruch von Kindern

Die im Gesetz konstituierte Bundesinitiative – seit 2018 Bundesstiftung – „Frühe Hilfen und Familienhebammen“ wurde seit 2012 mit 177 Millionen Euro vom Bundesfamilienministerium gefördert. Anfangs mit 30 Millionen, seit 2016 und dauerhaft mit 51 Millionen Euro jährlich. Damit trägt der Bund nach eigenen Angaben „mehr als die Hälfte der Mehrbelastungen, die durch das Gesetz bei Ländern und Kommunen entstehen“.  Das Gesetz stärkt außerdem den eigenständigen Rechtsanspruch von Kindern und Jugendlichen auf Beratung  in Not- und Krisensituationen – wenn nötig auch ohne Kenntnis der Eltern. Auch alle, die mit Kindern beruflich in Kontakt kommen, haben nun Anspruch auf fachliche Beratung.

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Gewalt gegen Kinder finden in der realen wie der virtuellen Welt statt

Mangelnde Ressourcen

„Als Kinderschutz-Zentrum sind wir mit den entsprechenden Anfragen sehr  beschäftigt, ohne dass zusätzliche Kapazitäten dafür geschaffen wurden“, so Blum-Maurice. Die Frage im Alltag sei häufig die nach den Ressourcen: Wer macht es? Wie kann das alles gewährleistet werden? „Das ist oft schwierig in der Umsetzung,  und zwar für alle  in der Jugendhilfe.“   Was viele Experten am Gesetz loben: Es hat mehr Handlungssicherheit geschaffen für alle „Berufsgeheimnisträger“.

Infos an das Jugendamt

Vor 2012 war in Deutschland nicht eindeutig geregelt, wie Ärzte, Psychologen und Lehrer bei Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung reagieren sollen. Sie alle haben durch das Gesetz das klare Okay bekommen, bei „gewichtigen Anhaltspunkten für die Gefährdung des Kindeswohls“ ihre Informationen an das Jugendamt weiterzugeben. Heute werden dem Jugendamt nach Angaben des Familienministeriums 38 Prozent der jährlich insgesamt 107.000 Kinderschutzfälle gemeldet – von Polizisten, Ärzten, Kita-Mitarbeitern oder Lehrern.

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Scheidungen müssen kein Leid für die Kinder bedeuten

Missbrauch in den Familien

Und trotzdem passieren immer noch tragische Fälle von Vernachlässigung und Missbrauch – vor allem innerhalb der Familien. Im Januar kam heraus: In Freiburg soll  ein heute Neunjähriger jahrelang von seiner Mutter und deren Lebensgefährten für Vergewaltigungen verkauft worden sein. Ein unfassbares Martyrium.  „Leider können wir auch mit dem Bundeskinderschutzgesetz das Risiko, dass Kindern etwas passiert, nicht völlig ausschließen“, sagt Renate Blum-Maurice.  Das neu geschaffene Recht  ziele darauf ab,  möglichst vorbeugend zu schützen.  Und es schaffe klare Wege, was zu tun ist, wenn  etwas auffällt. „Wenn Gefährdungen festgestellt werden, müssen Hilfe- und Schutzvereinbarungen verbindlich umgesetzt und kontrolliert werden.“  Im Alltag stünden  Fachkräfte immer wieder in einem schwierigen Abwägungsprozess zwischen der Gefährdung eines Kindes und seiner positiven Einbindung im Familiensystem. „Guter Kinderschutz hängt auch davon ab, wie wir mit Familien in Kontakt kommen. Wenn sie sich zurückziehen, sind sie für uns leider nur schwer erreichbar“, so die Expertin.

Führungszeugnis für Mitarbeiter

Verhindert werden soll durch das Gesetz  das „Jugendamt-Hopping“. Das war  für Ämter  in der Vergangenheit  ein großes Problem. Bei einem Umzug von Familien wird nun, zumindest auf dem Papier, sichergestellt, dass das neue Jugendamt alle notwendigen Informationen, die es braucht, um das Kind zu schützen, vom bisherigen Jugendamt bekommt. Was ebenfalls neu ist: Alle hauptamtlichen Mitarbeiter der öffentlichen und freien Jugendhilfe müssen ein erweitertes Führungszeugnis vorlegen  – abhängig von der Art der Tätigkeit gilt das auch für Ehrenamtliche. So sollen einschlägig vorbestrafte Personen von der Arbeit in der Jugendhilfe ausgeschlossen werden.

Schutzkonzepte für Betriebserlaubnis

Festgelegt wurde in den Artikeln auch die Verbindlichkeit fachlicher Standards der Kinder- und Jugendhilfe, um eine kontinuierliche Qualitätssicherung zu gewährleisten. Einrichtungen müssen nun als Teil ihrer Betriebserlaubnis Konzepte entwickeln, wie sie ihre Schutzbefohlenen vor Gewalt und Übergriffen schützen. Und auch, wie sie deren Rechte auf Beteiligung und Beschwerde umsetzen. Damit wurden die zentralen Empfehlungen der Runden Tische „Aufarbeitung der Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ und „Aufarbeitung der Missbrauchs-Skandale in Kirchen und Internaten“ aufgegriffen.

Und trotzdem, Kinderschützerin Renate Blum-Maurice ist überzeugt: „Kein Gesetz dieser Welt kann  in sämtliche Familien hineinregieren.“

"Es muss nachgebessert werden"

Interview mit Winfried Möller, Professor für Verwaltungs-,  Jugendhilfe-  und Strafrecht an der Uni Hannover.

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Auch vor häuslicher Gewalt sollen die "Frühen Hilfen" präventiv schützen

Das Bundeskinderschutzgesetz ist seit sechs Jahren in Kraft. Ihr Fazit? Es ist  gut, aber nicht gut genug. In der Anwendung ist einiges nachzubessern. Deswegen hat der Bundestag im Juni das Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen verabschiedet. Es ist aber steckengeblieben, weil der Bundesrat  seine Entscheidung vertagt hat.  Leider.

Wo muss nachgebessert werden? Etwa im Bereich der Jugendhilfe-Einrichtungen. Vor der Aufnahme des Betriebs sollte  unbedingt die Zuverlässigkeit des Trägers festgestellt werden. Bei jeder Kneipe wird gefordert,  dass der Betreiber zuverlässig ist, das sollte für die Jugendhilfe doch auch gelten. Zudem muss das Beschwerdewesen in den Einrichtungen verbessert werden. Dafür sollten die Jugendämter verpflichtend unabhängige Ombudsstellen schaffen.

Apropos Jugendamt. Im Freiburger Missbrauchsfall an einem  Neunjährigen  waren dessen Mitarbeiter informiert... Der Fall zeigt: Gesetzliche Regelungen sind das eine, deren Anwendung das andere. Hier hatte das Jugendamt festgestellt, dass vom Lebensgefährten der Mutter eine Gefährdung für den Jungen ausgeht. Es wurde angeordnet, dass er sich dem Kind nicht nähern darf. Das ist lächerlich. Täter interessiert so eine Vereinbarung nicht, ihr Verhalten ist nicht kontrollierbar. Die Tendenz,  vieles nur über Vereinbarungen regeln zu wollen, liegt aber auch daran, dass Eltern viele Rechte haben und dass Kinderschutz-Akteure in ständiger Angst leben, in dieses Elternrecht einzugreifen.

Genügt das Kinderschutzgesetz, um Kinder zu schützen? Ja, wenn es von den Involvierten zur Kenntnis genommen wird und ihnen alle Handlungsmöglichkeiten bekannt sind. Positiv ist,  dass Mitarbeiter der Jugendhilfe ein erweitertes Führungszeugnis vorlegen müssen. Und dass es eine klare Regelung für Ärzte und Lehrer gibt, einen Verdacht auf Kindeswohlgefährdung melden zu dürfen.  

Warum ist das Gesetz in Deutschland so wenig bekannt? Das Thema ist komplex, lässt sich nicht unkompliziert kommunizieren. Viele Jugendamts-Mitarbeiter empfinden es zudem als Zumutung, dass ihre Arbeit öffentlich in Diskussion und Kritik steht.

Zur Zukunft des Gesetzes ... Der Koalitionsvertrag ist in diesem Punkt sehr wolkig. Ich gehe davon aus, dass es künftig  eine Weiterentwicklung auf Basis des Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen geben wird. Ich finde  wichtig, dass die Kinderrechte im Grundgesetz verankert werden. Damit gäbe es nicht nur ein Elternrecht, sondern Kinder könnten sich, wenn es angebracht ist, gegen ihre Eltern wenden. Denn Kinderschutz bedeutet in den meisten Fällen Schutz vor den eigenen Eltern und deren Partnern. 

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