Beratungsstelle am NeumarktRodriguez war wohnungslos – Hilfe bei den „Off Road Kids“

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Rodriguez möchte auf dem Bild nicht erkannt werden, deshalb steht im Text auch nicht sein voller Name.

Rodriguez möchte auf dem Bild nicht erkannt werden, deshalb steht im Text auch nicht sein voller Name.

Köln – Richtig auf der Straße geschlafen hat er nie, sagt Rodriguez. Auch nicht in einer Notschlafstelle der Stadt. Aber es gab Tage, an denen er stundenlang draußen herumgelaufen ist. Auf der Suche nach jemandem, der ihn bei sich auf dem Sofa übernachten ließ. Der heute 20-Jährige mit den dunklen Locken war das, was Sozialarbeiter Colin Emde „verdeckt obdachlos“ nennt und bringt mit, was die meisten von Emdes Klienten mitbringen – „vielfältige Problemlagen“. Beide Männer sitzen an einem wolkenverhangenen Vormittag im Dachgeschoss der „Off Road Kids“, einer Beratungsstelle für obdachlose Jugendliche am Neumarkt, und erzählen, wieso Rodriguez seit zwei Jahren regelmäßig herkommt.

„Mein Leben war schon immer kompliziert“, sagt der 20-Jährige. Er kam 2011 aus Brasilien mit seiner Mutter und seinen sechs Geschwistern nach Deutschland und könnte Bücher füllen, mit den vielen Stationen seines jungen Lebens. Die Kurzversion lautet: Als seine Mutter nach verschiedenen Wohnorten vor einigen Jahren mit seinen kleinen Geschwistern – die Vierlinge sind neun Jahre jünger als er – von Köln nach Frankfurt zieht, will er nicht mit. Seine Mutter hat psychische Probleme, hält es nie lange an einem Ort aus, „eine vernarbte Seele“, sagt Rodriguez. Er kann sich Zuhause nicht auf die Schule konzentrieren, muss sich um seine Geschwister kümmern.

Probleme mit dem Pass

Als sie weg sind, ist er plötzlich allein in Köln, ohne Bleibe und Einkommen. Nach einem Zwischenfall beim brasilianischen Konsulat, bei dem Rodriguez herausfindet, dass er eine gefälschte Geburtsurkunde hat, hat er keinen Pass mehr. Das heißt: keine Aufenthaltsgenehmigung, kein Arbeitslosengeld, keine Krankenversicherung.

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„Rodriguez ist quasi staatenlos“, sagt Emde. „Für so einen Fall gibt es keine eindeutige Rechtsprechung und im Amt keinen Vorgang.“ Ein Einzelfall, der doch exemplarisch für seine Arbeit steht. Viele der etwa 60 Jugendlichen, die monatlich zu den „Off Road Kids“ kommen, sind durch das engmaschige, soziale Raster gefallen. Sie werden zwischen Jugendamt, Jobcenter und den unterschiedlichen „Finanztöpfen“, in denen der Staat eigentlich Leistungen für seine Bürger vorhält, hin und her geschoben. Sie kapitulieren irgendwann vor den bunten Briefen vom Amt, machen sie nicht mehr auf – und die Unterstützung bleibt aus, die Miete kann nicht gezahlt werden.

Die offene Szene am Dom gibt es nicht mehr

Über 80 Prozent seiner Klienten werden mit 18 Jahren aus der Jugendhilfe entlassen, obwohl das Jugendamt eigentlich bis zum 21. Lebensjahr zuständig ist. Emde beklagt, dass die Betreuer dort zu kleinteilig denken, nicht den ganzen Menschen im Blick haben. „Viele kommen dann mit psychischen Problemen, Drogensucht oder Schulden bei uns an, ohne Schulabschluss und Perspektive.“

Genau wie bei Rodriguez schaut Emde dann: Welche Probleme sind da? Wie könnte man sie lösen? Für die finanzielle Unterstützung hängen im Büro des Sozialarbeiters eine Wand voller Kopiervorlagen für Anträge: Kindergeld, Arbeitslosengeld II, Wohngeld. Die Klienten können ihre Post direkt an die Beratungsstelle schicken lassen und sind so auch gezwungen, regelmäßig vorbeizukommen.

Das Bild vom Streetworker, der über die Domplatte streift, mit den Punks raucht und Kondome verteilt, stimmt bei Emde nicht mehr. Die offene Szene hat sich aufgelöst, obwohl die Zahl der Obdachlosen seit Jahren steigt. Im Sommer 2018 gab es im Land NRW laut Statistik 44 000 Menschen ohne eigene Wohnung, davon leben laut Schätzungen der Caritas 5000 dauerhaft auf der Straße. Aber die Straßenobdachlosigkeit ist älter geworden, viele haben starke psychische Probleme oder kommen aus Südosteuropa und haben deshalb keinen Anspruch auf Sozialleistungen. Jugendliche Ausreißer machen nur noch selten „Platte“.

„Ein guter Schulabschluss ist die beste Voraussetzung für ein eigenverantwortliches Leben“

In Rodriguez’ Fall musste Emde die komplizierte Ausgangslage mehreren verständigen Beamten schildern. Er hat nun eine Aufenthaltsgenehmigung, die er alle drei Monate neu beantragen muss. Rodriguez geht wieder in die Abendschule, hat eine kleine Wohnung in Porz, möchte Abitur machen und danach Psychologie studieren. „Ein guter Schulabschluss ist die beste Voraussetzung für ein eigenverantwortliches Leben“, sagt Emde. Seine Erfahrung zeigt: „Wenn Schule und Ausbildung nicht geklärt sind, ist das Leben fragil. Dann braucht es nur einen kleinen Wimpernschlag und alles stürzt in sich zusammen.“ Dann stünden die Klienten, mit denen er monatelang gearbeitet hat, zwei Jahre später wieder mit leeren Händen vor seiner Tür.

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Deshalb hält er Jugendliche dazu an, sich frühzeitig über die Website „Sofahopper.de“ zu melden. Im Mai haben sich die Anfragen im Gegensatz zum Vorjahr vervierfacht, erzählt Emde. Die Corona-Beschränkungen haben bei vielen Jugendlichen zu Familienstreits und Trennungen geführt. Sie fliegen raus – und wissen nicht wohin. Rodriguez sorgt sich um seinen Schulabschluss. Viele Lehrer seien in der Risikogruppe, sie hätten wochenlang kaum Unterrichtsstoff besprochen, obwohl seine Abschlussprüfungen anstehen.

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