Krieg, Klima, Sorge um DemokratieWarum wir gerade jetzt mehr Schönes brauchen

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Illustration: Menschen sitzen an einem Tisch inmitten chicer Dekoration

Gerade in Krisen investieren Menschen in Schönes, zum Beispiel in der Wohnung.

Viele empfinden die Gegenwart als Zumutung – und versuchen, ihr Leben mit schönen Dingen und Erlebnissen erfreulicher zu gestalten. Ist das verwerflich? 

Manchmal ist es nur ein Moment, ein kurzer Blick, eine andere Perspektive – und die Welt erscheint in einem anderen Licht. Die Publizistin Gabriele von Arnim erlebte das vor ein paar Jahren an ihrem Geburtstag. Da saß sie allein am Frühstückstisch, schaute durchs Fenster in einen regnerischen, trüben Tag in Berlin und fühlte sich annähernd so matt, wie es das Sonnenlicht an diesem Tag war.

Dann aber sieht sie „auf der anderen Straßenseite einen – vom Regen glänzend schimmernden – länglichen Wunderteppich aus gelben, braunen, rötlichen und grünen Blättern. Kein Trugbild. Sondern schönste Wirklichkeit. Ein bunter, nass glitzernder, freundlicher Blätterstreifen.“ So schildert sie es in ihrem gerade veröffentlichten Buch „Der Trost der Schönheit“, erschienen im Rowohlt Verlag.

Dieser schöne „Wunderteppich“ hebt ihre Stimmung schlagartig. „Ich brauche Schönheit. Den Trost der Schönheit. Denn wenn ich Schönheit sehe, höre, lese, spüre, dann glaube ich an Möglichkeiten, an Wege, Räume, Purzelbäume“, erklärt die Autorin. „Schönheit kann Gefühle befreien, kann uns den Mut geben, Neues zu wagen, oder die Kraft, Unveränderbares zu ertragen“, schreibt die 76-Jährige.

Schönheit spielt eine große Rolle in unserem Leben

Brauchen wir Schönheit? Ist sie gar lebensnotwendig? Zumindest spielt sie eine große Rolle in unserem Leben. Unser Outfit soll schön sein, unsere Wohnung, und erst recht unser Körper. Dafür investieren die meisten Menschen Unmengen an Zeit und Geld. Nur wenige fühlen sich in einer Umgebung wohl, in der nur das Nötigste in schmuckloser Ausführung vorhanden ist: Tisch, Stuhl, Bett und Schrank, Teller, Tasse und etwas Besteck. Kann man nicht auch eine asketische Szenerie als schön empfinden?

Ja, die meisten aber mögen es irgendwie wohnlicher und gediegener  – also: schöner –, wenn sie es sich nur eben leisten können. Gerade während der Corona-Pandemie haben viele Männer und Frauen – nachdem sie erst Keller, Dachböden und Garagen ausgemistet hatten – sich der Gestaltung ihrer Wohnung angenommen. Die meisten verbrachten plötzlich unerwartet viel Zeit in den eigenen vier Wänden. Da sieht man schon mal etwas genauer hin und entdeckt, wie abgewetzt der Teppich ist, wie verschlissen der Sofabezug und wie abgestoßen die Kommode im Schlafzimmer.

Seit den Lockdowns ist Menschen ein schönes Zuhause noch wichtiger

Doch da spielte wohl noch ein anderes Motiv mit. Umfragen zeigen: Seit den Lockdowns ist noch mehr Menschen als zuvor ein schönes Zuhause wichtig. Derzeit umgeben sich viele Menschen bewusst mit ganz vielen Dingen, und es darf gern auch unaufgeräumt und wild gemustert sein. „Cluttercore“ heißt dieser Trend, bei dem jede Menge schöner Krimskrams das Zuhause schmückt.

Wichtig ist das Aufbewahren von möglichst vielen Dingen, an denen schöne Erinnerungen hängen und die beim Betrachten die Stimmung aufhellen. Das darf man wohl auch als Versuch verstehen, ein Bollwerk gegen die Welt da draußen zu errichten, die die meisten als immer bedrohlicher und undurchschaubarer empfinden. Klimakatastrophe, Krieg in der Ukraine, Inflation: Da soll es dann wenigstens zu Hause friedlich und geschmackvoll sein. Und da will man sich wenigstens möglichst viele schöne Momente gönnen.

Solch ein Moment – sei es ein Museums- oder Theaterbesuch, ein besonderer Ausflug oder ein Essen an einem besonders hübsch gedeckten Tisch (wozu hat man schließlich Omas Damasttischdecke geerbt?) – kann einen für eine Weile in Hochstimmung versetzen.

Wir brauchen Schönheit im Alltag

Wir brauchen Schönheit im Alltag, meint Frank Berzbach, Autor mehrerer Bücher zum Thema – wie „Die Form der Schönheit“ (Eichborn Verlag). Diese erkennen zu können, „ist eine endlose Quelle für gute Stimmung. Wer sich mit schönen Dingen umgibt, kann sie genießen“, sagt der 52-Jährige. „Das Hässliche springt überall ins Auge, manchmal braucht es etwas Anstrengung, um auch das andere zu sehen.“ Und wer Schönheit nicht sehen kann, weil sie schlicht nicht existiert, kann aktiv werden. „In Bezug auf viele Umgebungen gilt auch: Wir können sie selbst verschönern. Form und Ordnung spielen dafür eine große Rolle“, sagt Berzbach.

Doch was ist schön? Wann und warum empfinden wir Dinge und Menschen so? Für die griechischen Philosophen war das Schöne unabdingbar mit dem Wahren und dem Guten verknüpft. Die Gelehrten stritten über den Begriff und diskutierten über die objektiven Kriterien für Schönheit. Als schön galt Platon zum Beispiel nur, wer oder was „nicht des richtigen Maßes entbehrt“. So spielte die Ausgewogenheit eines Bauwerks, die Balance der einzelnen Elemente, eine wichtige Rolle.

Unsere ästhetischen Urteile folgen Mustern

In der Moderne sieht man die Sache anders: Entscheidend ist die Empfindung des Subjekts, sprich: Schönheit liegt im Auge des Betrachters, der Betrachterin. Wobei sich letztlich die Geschmäcker doch auffallend einig sind: Einen Sonnenuntergang am Meer, Botticellis Venus oder Audrey Hepburn im kleinen Schwarzen in „Frühstück bei Tiffany“ findet nahezu jeder, nahezu jede wunderbar. Unsere Sehgewohnheiten und ästhetischen Urteile folgen Mustern, die historisch und sozial geprägt sind.

Natürlich gibt es trotzdem viele Geschmacksvarianten. Wer kühle Eleganz vorzieht wird üppige Heimeligkeit als Kitsch empfinden. Und es gibt auch Menschen, die wenig empfänglich für besondere Bilder, Texte oder Designobjekte sind. Was dabei dieses „Besondere“ ausmacht, ist oft kaum zu beschreiben. Wohl aber meint es etwas entschieden anderes als ein rein äußerlicher Begriff von Schönheit, als „beauty“.

Wenn ich Schönheit sehe, höre, lese, spüre, dann glaube ich an Möglichkeiten
Gabriele von Arnim, Autorin von „Der Trost der Schönheit“

Von „einfacher Attraktivität“ unterscheide sich Schönheit durch eine „unergründliche Tiefe“, sagt Berzbach. „Sie entsteht oft durch Atmosphäre, also das Zusammenspiel der Dinge. Kirchen und Klöster sind gute Beispiele dafür, es sind nicht nur heilige, sondern auch Orte der Schönheit.“ Vom Glück sagen kann laut Berzbach, wer das erkennen und empfinden kann: „Wer schöne Dinge und Situationen wahrnehmen kann, hat ein besseres Leben. Und er ist nicht allein.“ Außerdem könne in schönen Dingen ein Trost liegen, meint auch er: „Sie können eine heilsame Wirkung auf uns haben.“

Von solch einer Wirkung kann wohl nahezu jede Laiin und jeder Laie erzählen. Wie genau das Betrachten von schönen Bildern, Möbeln und Städten auf unser Hirn wirkt, untersuchen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen seit einigen Jahren verstärkt. Denn warum wann was genau unser Hirn stimuliert und warum wann was uns beruhigt (das heißt auch: Stress reduziert), ist erst relativ wenig erforscht. Hirnscans weisen jedoch die Auswirkungen nach, erklärt der britisch-libanesische Neurobiologe Semir Zeki, der zu den neurobiologischen Grundlagen für Kunst und Ästhetik arbeitet und als Begründer der Neuroästhetik gilt.

Schönheit aktiviert das Hirn

„Wenn Sie etwas Schönes erleben, dann wird unter anderem der mediale orbitofrontale Cortex aktiviert, eine Hirnregion, die über unseren Augenhöhlen liegt. Die Stärke dieser Aktivität ist proportional dazu, wie intensiv Sie die Schönheit erleben“, erklärte der 82-Jährige im Frühjahr in einem Gespräch mit dem österreichischen „Standard“. Diese Hirnregion ist wichtig für unsere Persönlichkeit, unsere Gefühle und unser Sozialverhalten.

Schönheit zu sehen oder zu erleben, streichelt also nicht nur die Seele, wie es landläufig heißt, sondern aktiviert auch das Hirn.

Schönheit in sein Leben zu tragen, ist laut Berzbach dabei keine Frage des Geldes: „Es gibt zwar kostspielige Dinge, aber Schönheit selbst hat mit Luxus wenig zu tun. Wer Geld hat, der hat noch lange keinen guten Geschmack; das sieht man in Deutschland leider an der Oberschicht“, meint er. „Schönheit ist eine Frage von Formbewusstsein, Ordnung, Wissen und Geschick.“ Einen Kriterienkatalog dafür gibt es aber nicht.

Die Publizistin Gabriele von Arnim stellt aber noch eine andere Frage: Ist es nicht Eskapismus, wenn wir in diesen Zeiten nach Schönheit streben? Ist es vielleicht sogar moralisch verwerflich? „Wir müssen uns alle entscheiden, wie wir umgehen mit der Gewalt dort und dem Genuss hier“, schreibt sie, es sei eine Gratwanderung. „Schönheit hier, Krieg dort. Ein Widerspruch, den ich nicht zusammendenken kann. Ein Widerspruch, den ich täglich lebe.“


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