Bewegende Lesergeschichten„Uns begleiteten große Angst und kurze Albtraumnächte“

Lesezeit 24 Minuten
Familie Winterscheid an Heiligabend im Jahre 1934

Familie Winterscheid an Heiligabend im Jahre 1934

  • Historische Momente, bewegende Ereignisse, ganz besondere Erlebnisse in der Stadt: Das Buch „Mein Köln – Leser erzählen Geschichten“ enthält 100 typisch kölsche und bewegende Geschichten.
  • Wir haben acht tolle Lesererlebnisse vorab für Sie hier zusammengestellt.

Mein Köln – Leser erzählen Geschichte: Für dieses Buch haben Leserinnen und Leser des Kölner Stadt-Anzeiger ihre ganz persönliche Köln-Geschichte aufgeschrieben. Zu einem historischen Moment, einem bewegenden Ereignis oder zu einem ganz besonderen Erlebnis in dieser Stadt. Viele Geschichten stammen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit. Der Tausend-Bomber-Angriff etwa im Mai 1942 bleibt für viele nach wie vor unvergessen. Aber auch schöne und amüsante Begegnungen und Erlebnisse haben die Leserinnen und Leser in diesem Buch festgehalten – Geschichten, die typisch kölsch und gerade deswegen ganz besonders sind.

Neben den über 100 persönlichen Texten enthält das Buch auch zahlreiche Fotos aus den privaten Archiven unserer Leserinnen und Leser. Die Fortsetzung der beliebten „Mein Köln“-Reihe ist ein ganz besonderes Stück Kölner Zeitgeschichte. Wir haben acht tolle Geschichten aus dem Buch für Sie hier vorab zusammengestellt.

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Mit dem Gutschein-Code Leser2018 können Sie das Buch versandkostenfrei für 19,99 € im Kölner-Stadt-Anzeiger-Shop bestellen. Das Angebot ist gültig bis Freitag, den 04.01.2019

"Mein Großvater" von Wolfgang Bickenbach

Gehe ich über den Roncalliplatz und schaue auf die Portale der südlichen Querhausfassade des Kölner Doms, erinnere ich mich oft an meinen verstorbenen Großvater. In seinen Fotoalben waren Schwarz-Weiß-Fotografien, die ihn um 1935 als Fahrer „seines“ Reisebusses vor eben dieser Fassade zeigen. Auf die Bilder angesprochen, erzählte er mir von guten und sehr schlechten Zeiten seines Lebens: „Als junger Mann arbeitete ich in einer Firma in Berlin. Der Firmeninhaber hatte im Juni 1915 seine Gesellen ohne zu fragen „freiwillig“ zum Kriegsdienst überstellt. Noch keine 20 Jahre alt kam ich an die Westfront und wurde 1916 in Frankreich an der Somme in einem Schützengraben an vorderster Linie schwer verwundet. In einem Kölner Lazarett wurde ich halbwegs gesund gepflegt. Ab 1935 fuhr ich für ein Kölner Reisebusunternehmen einen Reisebus quer durch Europa. Auf dem Foto siehst du mich als Fahrer. Es waren schöne Zeiten, an die ich mich gerne erinnere.

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Reisebus um 1935 vor der südlichen Querhausfassade des Kölner Doms

Diese unbeschwerte Zeit endete abrupt, als zum 1.1.1940 die Wehrmacht den Bus konfiszierte und diesen als Truppentransporter einsetzte. Obwohl ich doch schon 45 Jahre alt war und im Ersten Weltkrieg als Frontsoldat schwer verwundet wurde und nicht schon wieder in den Krieg wollte, wurde ich gleichzeitig mit dem Bus als Fahrer eingezogen. Jetzt beförderte ich quer durch Europa Soldaten statt Urlauber. Erst fünf Jahre später kam ich Ende 1945 erneut verwundet in das zerstörte Köln zurück.“

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"Weihnachten 1965 im Dom-Hotel" von Rosemarie Clemens-Edeltraut

Natürlich fuhr ich nicht mit der Limousine vor, obwohl das damals noch problemlos möglich gewesen wäre. An diesem nasskalten Nachmittag des Heiligen Abends fuhr ich mit der Straßenbahn von der Stegerwaldsiedlung zur Deutzer Freiheit, stieg dort um in die Bahn, die mich über die Deutzer Brücke zum Heumarkt brachte. Die letzte Strecke ging ich zu Fuß.

Es fuhren nicht viele Leute um diese Zeit, und so konnte ich wenigstens in der Bahn sitzen. Wir waren noch so erzogen, dass wir selbstverständlich aufsprangen, um unseren Platz einem Erwachsenen frei zu machen. Eigentlich war um diese Zeit Bescherung in unserer Familie. Aber meine Familie hatte zugestimmt, dass ich als Babysitterin im Dom-Hotel arbeiten durfte. Einen Ferienjob zu ergattern war damals auch schon nicht einfach. Der Vater meines Freundes war Leiter des Kölner Arbeitsamtes und hatte mir dabei geholfen. Als Stundensatz waren fünf D-Mark inklusive Fahrgeld ausgemacht.

Voraussetzungen waren: Englische Sprachkenntnisse, Alter mindestens 16 Jahre und gutes Auftreten. Im Sommer war ich 16 geworden und Englisch war mein Lieblingsfach auf dem Genoveva-Gymnasium in Mülheim. Mit meinem Freund Helmut hospitierte ich in der Tanzschule Meyer, Bismarckstraße, einer Kölner Institution damals. Dort lernten wir auch entsprechende Umgangsformen, so dass diese Voraussetzung wohl auch erfüllt war.

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Rosemarie Clemens-Edelkraut mit Großmutter, Mutter und Bruder

Der Dom ragte grau und dominant in den Himmel. Ich war sehr aufgeregt und bemerkte den Schneeregen kaum. Einmal tief durchatmen und durch das Portal in das Dom-Hotel hinein! Auf der einen Seite blühten Orchideen, die ein benachbartes Blumengeschäft ausstellte, auf der anderen Seite war eine lange Rezeption. Verwirrt schaute ich mich um. Orchideen waren damals noch etwas ganz Besonderes. Welchen der beiden Männer in den grauen Anzügen sollte ich ansprechen? Einer der Herren kam lächelnd auf mich zu: „Sie sind sicher Fräulein Clemens.“ Ich bejahte und wurde rot, denn sonst sprach mich niemand mit „Sie“ und „Fräulein Clemens“ an. „Mein Name ist Stein (meine ich, weiß es aber nicht mehr genau). Wir konnten Sie leider nicht erreichen. Das Flugzeug, mit dem die australische Familie kommen sollte, hat Verspätung. Heute benötigen wir Sie nicht mehr“, fuhr er fort. Ich war den Tränen nahe. Dafür hatte meine Familie die Bescherung auf den späteren Abend verlegt und ich musste jetzt wieder hinaus in die Kälte, um mit der Bahn zurück nach Hause zu fahren. Die U-Bahn gab es damals noch nicht. Deren Bau wurde zwar 1963 begonnen, der erste Teilabschnitt aber erst 1968 eingeweiht. Fast drei Stunden Fahrtzeit an Heiligabend umsonst.

Herr Stein lächelte mich freundlich an. „Sie sollen aber den Weg nicht umsonst gemacht haben. Und morgen um 11 Uhr besucht das Ehepaar die Messe im Dom und bittet Sie, auf den kleinen Sohn aufzupassen. Können Sie dann hier sein?“ Damit zückte er seine Brieftasche und gab mir 20 D-Mark. 20 D-Mark! Das war mein Taschengeld von fast einem halben Jahr. Natürlich konnte ich am ersten Weihnachtstag wieder kommen.

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Rosemarie Clemens-Edelkraut mit Mutter und Bruder (rechte Bildhälfte)

Herr Stein wünschte mir am nächsten Morgen frohe Weihnachten und ein Page begleitete mich zu dem Zimmer im dritten Stock. Das Baby schlief. Die jungen Eltern verabschiedeten sich freundlich und meinten, der Kleine werde wohl vor ihrer Rückkehr nicht aufwachen.

Das Zimmer war eine Suite. Ich befand mich im Wohnzimmer mit einer Anrichte, einem Tisch, einem zweisitzigen Sofa und zwei mit demselben Stoff bezogenen Sesseln. Durch das Fenster schaute ich auf den Domhof, der 1971 in Roncalliplatz umbenannt wurde. Dort, wo heute das Römisch-Germanische Museum steht, war ein Parkplatz. Eine Straße führte genau am Dom vorbei und wurde um den Parkplatz herum zur Rheinuferstraße geleitet. Ich konnte das neu gebaute Hotel Mondial erkennen, sah den Bahnhof, die Hohenzollernbrücke und sogar den Rhein. Es klopfte. Bevor ich mich entschließen konnte, was zu tun sei, betrat ein Kellner den Raum, um das Frühstücksgeschirr und die Essensreste abzuräumen. Ich war überrascht, wie viel von dem Frühstück noch übrig war. Wir lebten in den 60er Jahren sparsam trotz Wirtschaftswunder und Lebensmittel wurden nicht verschwendet, was ich bis heute beherzige.

Der Kellner fragte nach meinen Wünschen. Natürlich hatte ich keine. Ich hatte ja schon gefrühstückt und würde zum Mittagessen wieder zu Hause sein. Kurze Zeit später brachte er mir einen Traubensaft und ein Tablett mit kleinen Leckereien. Heute weiß ich, dass es Canapés und Pétit Fours waren. „Das schickt Ihnen Herr Stein. Und wenn Sie noch Wünsche haben, rufen Sie bitte die Rezeption an“, sagte der Kellner. Natürlich habe ich diesen Köstlichkeiten nicht widerstehen können. Sehr bald kamen die Australier zurück. Der Kleine schlief immer noch und fast hatte ich ein schlechtes Gewissen, als ich meinen Lohn erhielt. Ich hatte wenig dafür getan und sogar noch Essen und Trinken erhalten. In der Woche zwischen Weihnachten und Silvester vereinbarten wir noch einige Termine, an denen ich den Schlaf des kleinen Jungen bewachte. Silvester flog die Familie nach Australien zurück. Als ich mich bei Herrn Stein verabschiedete, erkundigte sich dieser, ob ich an weiteren Aufträgen als Babysitter interessiert sei. So war ich 1966 dann noch einige Male Babysitter im Dom-Hotel und konnte aus anderen Zimmern unter anderem auf den Heinzelmännchen-Brunnen schauen. Mit dem verdienten Geld kaufte ich mir meinen ersten eigenen Plattenspieler, der damals die horrende Summe von 300 DM kostete. Sogar Singles von Elvis Presley und Cliff Richard waren noch drin. Seit Mai 2018 wird das Dom-Hotel abgerissen und generalsaniert. Nur die Fassade bleibt stehen. Die Betreiber des neuen Dom-Hotels wollen eine repräsentative Zufahrt zum Hotel, damit die Gäste mit Limousinen am Haupteingang vorfahren können.

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„Meine Kindheit in Köln“ von Gisela Horbert-Freytag – und fünf weitere Geschichten

"Meine Kindheit in Köln" von Gisela Horbert-Freytag

Als ich vier Jahre alt war, zogen wir in die Merowingerstraße, meine Mutter, meine Oma, mein Opa und ich. Meine Großeltern verkauften auf dem Großmarkt Obst und Gemüse. Sie hatten dort einen festen Stand mit einem Holzhäuschen, das im Winter auch beheizt wurde. Zwei Weltkriege hatten sie überlebt, jetzt wurde wieder eine neue Existenz aufgebaut.

Zu klein war ich noch, zu begreifen, warum die Stadt so zerstört war, zu klein, zu verstehen, warum der Vater fehlte, die Zeit so hart und bitter war. Trotzdem oder gerade deswegen erfuhr ich viel Liebe und Zuwendung von Mutter und Großeltern. Erst einmal kam ich in den Kindergarten in der Loreleystraße in die Obhut von Schwester Firmata, die uns Kinder liebevoll betreute. 1950 ging ich dann in die Volkschule Zugweg. Fräulein Strowitzky, unsere Lehrerin mochte ich sehr. Spielplätze kannten wir nicht, aber nach Schulschluss auf dem Heimweg tobten wir erst mal in den Ruinen und auf den Schuttbergen. Das war strengstens verboten, doch umso spannender und aufregender - unser Abenteuerspielplatz. Klingelmäuschen spielen und dann davonrennen, war auch aufregend, aber auch ganz schön feige von uns. Ich denke, manche Bewohner werden es mit Humor genommen haben, sie wussten, jetzt ist die Schule aus. „Pänz, Pänz, Pänz“, sangen später die Bläck Fööss.

Gisela Horbert-Freytag mit ihrer Kindergartengruppe

Gisela Horbert-Freytag mit ihrer Kindergartengruppe

Am liebsten aber trafen wir uns auf der Straße. Wir spielten Hüppekästchen, (meinen Stein habe ich heute noch), Seilchenspringen, ließen den Kreisel sausen oder wirbelten das Diabolo kunstfertig durch die Luft. Glücklich, wer Dreirad, Roller oder gar Rollschuhe besaß. Im Hinterhof durften wir auch spielen. Für die meist älteren und alleine lebenden Bewohnern des Seitenflügels und des Hinterhauses war der Kinderlärm sicherlich kein Vergnügen. Es konnte passieren, dass der Inhalt eines Wassereimers auf unseren Köpfen landete. Aber andere wiederum hatten auch Freude an unserem Spiel. Im ersten Stock hatte ein Zahnarzt seine Praxis. Damals wurde wohl mit Betäubungsspritzen sparsam umgegangen, die Schreie der Patienten hallten dann durch den Hinterhof. Straßenmusikanten spielten uns oft auf, dann fielen die Groschen aus den Fenstern herab.

Gisela Horbert-Freytag mit Schultüte

Gisela Horbert-Freytag mit Schultüte

Damals streckte sich ein mickriges Bäumchen dem Himmel entgegen. Als ich 2016 „meinen Hinterhof“ wiedersah, war die Wand zum Nachbarhaus üppig begrünt, ein Wasserfall aus Blättern. Sonntags ging es zuerst früh am Morgen in die Kirche. Während Mutter und Großmutter das Mittagessen vorbereiteten, spazierte mein Opa mit mir zum Rhein oder in den Volksgarten. Irgendwo auf dem Weg gab es ein Büdchen. Lakritz oder Veilchenpastillen - köstlich! Manchmal gingen wir auch in den Dom, ein Bauwerk, das mich auch heute noch bei jedem Besuch aufs Neue beeindruckt. Hinter dem Dom am Bahnhof im Alten Wartesaal, der damals wirklich noch ein Wartesaal war, und zwar 1. Klasse, schmeckte die Tasse Schokolade besonders gut. Meine Kindheit in Köln - eine glückliche Zeit.

Als meine Mutter wieder heiratete, zogen wir in eine Kleinstadt südlich von Bonn, auch schön. Und doch, den Kindertagen entwachsen, habe ich meine Schulkameraden vermisst, meine Spielgefährten auf der Straße, das turbulente Leben am Chlodwigplatz mit dem Gebimmel der Straßenbahnen, „mein Veedel“. Zum Glück floss in der Nähe der Rhein, mir ein so vertrauter Anblick. Und ich bekam einen Seelentröster geschenkt, einen kleinen schwarzen Hund, den Mori. Nach einigen Wohnungswechseln lebe ich nun wieder in dieser Kleinstadt, wieder mit Hund.

Neben unserem Haus befindet sich ein Bolzplatz. Ich freue mich immer, wenn Kinder dort spielen und toben, wenn „Messi“ oder „Ronaldo“ aufs Tor schießen und „Manuel Neuer“ den Ball halten kann.

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"Kulturschock in Kölle" von Helma Ruland

Ich wuchs in einem kleinen Dorf auf und wurde im Frühjahr 1951, kriegsbedingt nach neun Jahren Schulzeit, aus der Volksschule entlassen. Schon 1951 belegte ich in der nahegelegenen Kreisstadt einen Steno- und Schreibmaschinenkursus, mit dem Hintergedanken irgendwie eine Bürolehre zu absolvieren. Obwohl meine Eltern mich gerne im familieneigenen Lebensmittelgeschäft gesehen hätten. Als meine Mitschülerinnen den fortgeschrittenen Kursus in Köln besuchten, war ich auch dort mit von der Partie. Vom platten Land in die Großstadt - ein Kulturschock.

Helma Ruland und ihr damaliger Verlobter beim Karneval

Helma Ruland und ihr damaliger Verlobter beim Karneval

Eines Tages bummelten und alberten wir sieben Mädchen durch die City (mir war nicht bewusst, dass es die Schildergasse war). Dort entdeckte ich in einem mit Blumen geschmückten Schaufenster ein Schild „Büro-Lehrling gesucht“. Spontan sagte ich zu meinen Freundinnen: „Hier frage ich nach der Lehrstelle.“ Und alle kamen hinterher. Hinter der Theke lächelte uns eine junge Frau an und ich fragte sie, ob die Stelle noch frei wäre. „Wie?“, fragte sie, „für alle von euch?“ „Nein, nur für mich“, sagte ich kleinlaut.

Sie konnte es nicht alleine entscheiden und schickte mich zu ihrer Mutter, der Chefin. Diese war noch im Behelfsladen, einer Holzbaracke am Hahnentor. Schnell hatte ich mich dorthin durchgefragt. Eine gesetzte, resolute Dame nahm mich in Augenschein und ich konnte noch im selben Monat beginnen. So einfach ging das damals im hillije Kölle.

Helma Ruland und Kollegin stellen für Fotografen ein Verkaufsgespräch nach

Helma Ruland und Kollegin stellen für Fotografen ein Verkaufsgespräch nach

In dem kleinen Laden wurden Brautschmuck, Kommunionskränze und das dazu gehörende Zubehör verkauft. Ein Neustart im zerbombten Köln. Mein Arbeitsplatz war Büro- und Lagerraum in einem, mit einem Vorhang vom Verkaufsraum getrennt. Leider gab es aber hier kein Wasser und keine Toilette. Wasser holten wir in den Ruinen vom alten Opernhaus. Auf die Toilette mussten wir ins Nachbarhaus. Die älteren Leute dort waren natürlich wenig begeistert von den Störungen. Genauso wie die etwas gehbehinderte, behäbige Chefin. Daher gab es für den Notfall für sie einen Blecheimer mit Deckel unter dem Schreibtisch, der dann bei Bedarf hervorgeholt wurde.

Es konnte passieren, dass Kundschaft in den Laden kam, wenn sie den Eimer aufsuchte. Dann war Holland in Not und sie raschelte ganz laut mit der Tageszeitung. In der Hoffnung, dass niemand ahnte, was hinter dem Vorhang vor sich ging. Nach Geschäftsschluss hieß es dann für meine Kollegin oder mich, den Eimer, auch schon mal mit kräftigem Inhalt, in einem Bombenloch hinter der Baracke zu entleeren. Der nächste Kulturschock kam für mich, als wir diesen Behelfsladen auflösten und zur Schildergasse übersiedelten. Was wurde da nicht alles verkauft? Es gab Kunstblumen aller Art, daraus wurden Dekorationen hergestellt. Angefangen von Krippenzubehör, über Karnevalshüte bis hin zu Kommunionskränzen und Brautschmuck.

Es schien, als hätten die Kölner Geld ohne Ende. Sogar Moos wurde teuer verkauft, einfach unvorstellbar. In großes Staunen versetzte mich auch der reißende Absatz von Karnevalsartikeln, die teilweise für Kinder von den Großeltern mit Warenkreditscheinen gekauft wurden.

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Helma Ruland und Kollegen vor dem Geschäft auf der Schildergasse beim Rosenmontagszug

Das war Köln in der Nachkriegszeit. Einige „Kölner Größen“ durfte ich auch kennenlernen. Unter anderem den Kunde Willy Millowitsch, ebenso wie Hans Herbert Blatzheim (der Stiefvater von Romy Schneider). Sein Markenzeichen: dunkler Anzug, weiße Chrysantheme am Revers. Ihm gehörten die sogenannten Blatzheim Betriebe. Dort durfte ich einige Male dekorieren, zum Beispiel das Tanzlokal Weindorf, kurz vor der Neueröffnung mit künstlichem Weinlaub und Geranien.

Es gäbe noch vieles zu berichten, denn es war eine spannende, lebensprägende und trotz allem schöne Zeit, an die ich gerne zurückdenke.

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"Mein Schulweg 1948" von Karola Schulz

Nach dem Krieg waren die Raumverhältnisse in den Kölner Schulen sehr beengt. In dem Gebaude in Ehrenfeld, das nach dem Krieg meine Schule beherbergte, befand sich vor dem Krieg nur eine Grundschule. Jetzt waren dort ein Gymnasium und eine Frauenoberschule. Aber unsere neue Schule im Stadtzentrum am Waidmarkt war schon im Bau und wir alle freuten uns auf die Fertigstellung. Endlich war es soweit. Wir konnten unsere neue Schule beziehen. Wir waren begeistert von dem modernen Baustil und den freundlich eingerichteten Klassenräumen. Besonders interessant war, dass wir jetzt mit der Straßenbahn dorthin fahren durften. Wir kamen aus unserem engen Vorort Ehrenfeld hinaus, wir lernten Köln kennen. Das Straßenbahnfahren war neu und aufregend für uns. Im Sommer standen die Türen der Bahn immer offen. Wir stiegen ein und drangelten uns in Grüppchen auf der hinteren Plattform.

In respekteinflößender Haltung erschien der Schaffner mit seinem glitzernden Kleingeldsammler vor dem Bauch und prüfte unsere Fahrausweise. Setzen durften wir uns nur, wenn wirklich genug Sitzplatze frei waren. Mittags, wenn wir müde nach Hause fuhren, war das oft schwer. Manchmal kam eine ältere Dame mit strengem Blick und bedeutete uns, doch den Platz zu raumen. „Nein, diese Jugend heute, keine Höflichkeit mehr!“ So horten wir dann einen leise gemurmelten Seufzer. Unsere Straßenbahn endete am Dom und wir konnten durch die Hohe Straße bis zur Schule gehen, aber meistens nahmen wir den Schulbus, der dort abfuhr. Den Rückweg nach Schulschluss nahmen wir immer durch die Hohe Straße. Hier gab es nur Ruinen und Bretterbuden. Höchstens war einmal das Untergeschoss eines zerstörten Hauses mit Brettern aufgebessert. Schuttberge lagen noch an vielen Stellen, wo früher einmal Seitenstraßen einmündeten. Es gab Schaufenster, an denen wir uns die Nasen plattdruckten und in den Schuttbergen fanden wir oft noch interessante Dinge. Wir nannten die Straße, die heute eine der Vorzeigestraßen von Köln ist, die „Budengasse“. Viele Menschen waren dort nicht unterwegs. Diejenigen, die wir trafen, habe ich grau und farblos in Erinnerung, aber es war etwas wie Aufbruch in ihren Gesten und Blicken, eine Geschäftigkeit, die manchmal anstecken konnte.

Oft ging ich nicht auf direktem Weg zum Dom, sondern durch einige Seitenstraßen. Die ausgebrannten Ruinen behinderten den Blick bis zum Rhein, aber der Fluss, die Lebensader von Köln, war nahe. Manchmal konnte man das Wasser riechen. Das Trümmerfeld zwischen Hohe Straße und Alter Markt war noch totes Land. Aber in der Altstadt, zwischen Alter Markt und Rhein waren viele Hauser stehen geblieben und auch bewohnt.

Brettersteg bei Hochwasser am Haxenhaus

Brettersteg bei Hochwasser am Haxenhaus (ehemaliger Wappenhof).

Als in einem Jahr das schreckliche Hochwasser war, ging ich bis in die Altstadtgassen und über die notdürftig angelegten Bretterstege bis an den Fluss. Erlaubt war das nicht, aber es war auch nichts abgesperrt. Ich schaute über die weite Wasserfläche bis zum gegenüberliegenden Ufer und fühlte etwas wie Abenteuer und Fernweh. Ich wollte mit dem Fluss ziehen, dorthin in die Ferne, wo er mit seiner ganzen Gewalt hinströmte und wirbelte. Von den Stegen aus konnte ich durch die Wohnungsfenster in die vom Hochwasser verwüsteten Wohnungen sehen. Wenn ich in der Stadt getrödelt hatte, musste ich den Heimweg etwas abkürzen. Die Straßenbahn fuhr vom Dom nach Ehrenfeld über die Gladbacher Straße, vorbei an dem heutigen Herkulesberg, dem „Tränenberg“, an dessen Flanken die LKW mit dem Schutt aus den Ruinen, mit allen verlorenen Traumen und Verlusten von tausenden Menschen, hochkrochen und leer wieder zurückkamen. Weiter führte der Weg die Subbelrather Straße entlang stadtauswärts und in einer engen Kurve bog die Bahn in die Landmannstraße ein. Dort fuhr sie so langsam, dass ich vom Trittbrett abspringen konnte und nur noch wenige Schritte bis nach Hause hatte.

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"Das ärmste und gleichzeitig schönste Weihnachtsfest" von Heinz Winterscheid

Mein Vater wurde im Januar 1944 von der Deutschen Wehrmacht als Pionier eingezogen. Er wurde nach der Ausbildung im Juni 1944 an die Normandiefront verlegt.

Am 23.10.1944 bekamen wir von dem Kompanie-Chef die Nachricht, dass mein Vater in der Normandie am 20.08.1944 als vermisst gemeldet wurde. Wir waren sehr geschockt, bedrückt, betrübt und traurig. Die Ungewissheit, was wohl passiert war: Vermisst, unauffindbar, verwundet oder gar nicht zu glauben, gefallen. Es war schrecklich. Große Angst und kurze Albtraumnächte begleiteten uns.

Nach drei Wochen wurde unser Haus durch einen Fliegerangriff in Brand gesetzt. Mithilfe der Nachbarn konnten wir einige Möbelstücke retten. Danach wurden wir nach Sachsen evakuiert. Ein Zimmer für drei Personen. Küche, Wohn- und Schlafzimmer, alles zusammen. Wir hatten kaum etwas zu essen. Nun stand Weihnachten vor der Tür. Einen Tag vor Heilig Abend bekamen wir die Nachricht, dass unser Vater in englischer Kriegsgefangenschaft war. Die Freude war unvorstellbar groß – nach so langer Ungewissheit ein Lebenszeichen zu bekommen. Heilig Abend so zu feiern wie gewohnt, war nicht möglich.

Familie Winterscheid an Heiligabend im Jahre 1934

Familie Winterscheid an Heiligabend im Jahre 1934

Es gab keinen Tannenbaum, keine Geschenke, keinen Teller mit Süßigkeiten, keine Apfelsine, keine Schokolade, noch nicht einmal einen Apfel. Es gab ja nichts zu kaufen. Wie die Zeit nun einmal war.

Auf der Straße haben wir einen Tannenzweig gefunden und irgendwie eine Kerze organisiert. Diese wurde angezündet, ein Bild von Vater daneben gestellt und unter Tränen sangen wir „Stille Nacht, Heilige Nacht“. Das war das ärmste, aber schönste Weihnachten, das ich als Kind erlebt habe.

Vater lebte und er war unter uns.

Er wurde am 16. April aus der englischen Kriegsgefangenschaft entlassen.

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"Wahre Weihnachten" von Josef Hundeborn

24. Dezember 1938 - ein klarer, frostiger Wintertag. Die Kälte schneidet messerscharf ins Gesicht. Josef eilt schnellen Schrittes - dicke weiße Wolken vor sich her pustend - in Richtung Innenstadt, Kölner Dom. Es ist schon spät, er will vor Ladenschluss unbedingt noch eine Weihnachtsüberraschung für seine dreijährige Tochter Miechen besorgen. Gerne täte er das in aller Ruhe und mit Bedacht, doch die lange Arbeitszeit - zehn Stunden am Tag von Montag bis Samstag - lässt das nicht zu. Heute ist Heiligabend. Da haben die Werktätigen frei und können in Eile die letzten Festvorbereitungen treffen. Schon früh am Morgen war Josef mit der Straßenbahn Linie 0 nach Köln-Ehrenfeld gefahren, um Eltern und Schwiegereltern zu besuchen. Er wollte ihnen eine bescheidene Weihnachtsgabe und alle guten Wünsche zum Fest persönlich überbringen. Nach dem Mittagessen macht er sich jetzt auf den Rückweg in die Stadt, um wenigstens einen Teil des Fahrgeldes zu sparen. Unterwegs kann er in einem Billigkaufhaus ein Weihnachtsbuch für Miechen erstehen. Sie hört so gerne Geschichten vom Christkindchen.

Unmerklich zieht Dämmerung auf. Josef fühlt die Kälte unangenehm an sich empor kriechen. Er zieht die Schultern an und bohrt seine Hände so tief es geht in die Manteltaschen. „Was für ein erbärmliches Weihnachten“, denkt er. Die paar Kröten, die ich verdiene, reichen gerade mal für Miete und Nahrung. An Kleidung und all die anderen Dinge ist überhaupt nicht zu denken.

Dabei ist Josef mit seinen 28 Jahren ein strebsamer, bildungsbeflissener Mann, der alles in seinen Kräften stehende tut, um seine kleine Familie gut zu versorgen. Mehrmals in der Woche legt er nach Dienstschluss mit dem Fahrrad weite Strecken zurück, um an einer beruflichen Weiterbildung teilzunehmen. Trotz starker Beanspruchung beobachtet er aufmerksam, was um ihn herum geschieht. So sieht er die politische Situation in eine ungute Richtung driften. Wo wird das noch alles hinführen? Über seinen schweren Gedanken brütend, hat Josef die Innenstadt erreicht. Ein Blick auf die Uhr, nur noch eine knappe Stunde bis Ladenschluss. Er muss sich beeilen, wenn er für Miechen noch ein Weihnachtsgeschenk finden will. Die sonst so belebte Hohe Straße ist wie leergefegt. Vereinzelt hasten Leute mit verfrorenen Gesichtern, um letzte Besorgungen zu machen. Von Ferne tönt das Lied „Stille Nacht, heilige Nacht“ verloren aus einem Leierkasten.

An der Ecke der Straße „In der Höhle“ wird Josef von den erleuchteten Schaufenstern eines kleinen Kaufhauses magisch angezogen. Ohne zu wissen, was er eigentlich will, geht er hinein und steht in einem menschenleeren Ladenlokal. Er lässt seinen Blick durch den Raum schweifen, in dem kaum noch Ware vorhanden ist. Auf den leeren Regalen steht einsam ein Puppenwagen aus hellblauem Korbgeflecht. „Guten Tag“, eine sehr junge Verkäuferin tritt aus einer Türöffnung, die mit einem Vorhang bedeckt ist. „Kann ich etwas für Sie tun?“ lhre Stimme klingt freundlich. „Mir gefällt dieser Puppenwagen oben auf dem Regal“, sagt Josef. „Ja, der ist sehr schön, wir hatten eine ganze Anzahl davon, dieser hier ist der Letzte.“ Sie steigt auf eine Trittleiter und holt den Wagen herunter. „Er ist wunderbar verarbeitet, hat ein abnehmbares Verdeck und Kissen mit hübschem Blümchenmuster“, schwärmt sie. Josef ist begeistert. Dieser Puppenwagen entspricht haargenau seiner Vorstellung von einem idealen Geschenk für ein kleines Mädchen. „Er kostet nur 17 Mark.“ Dieser Satz, den die Verkäuferin wie beiläufig ausspricht, wirkt auf Josef wie eine eiskalte Dusche. 17 Mark, das ist fast ein Wochenlohn. „Tut mir leid um Ihre Mühe, aber so viel Geld habe ich nicht.“

Das Mädchen schaut ihn eine Weile nachdenklich an. „Bitte, warten Sie einen Augenblick, mein Chef hat bestimmt ein Einsehen. Er wird Ihnen den Preis etwas heruntersetzen.“ Schon war sie hinter dem Vorhang verschwunden. „Was kann der Chef mir schon nachlassen“, denkt Josef traurig. „Selbst die Hälfte könnte ich nicht bezahlen. Ich fürchte, Miechen wird sich mit dem Bilderbuch begnügen müssen.“ Das Mädchen kommt in Begleitung eines etwa 45-jährigen Mannes zurück. „Sie interessieren sich für den Puppenwagen? Meine Verkäuferin sagte mir, Sie hätten nicht so viel Geld. Ich gebe Ihnen den Wagen gerne für einen geringeren Preis“, sagt der Mann ermunternd. „Sie sind sehr großzügig, aber auch einen geringeren Preis kann ich nicht zahlen. Ich zeige Ihnen, was ich habe.“

Josef kramt seine Geldbörse aus der Hosentasche und stülpt den Inhalt auf den Ladentisch: vier Markstücke, ein Fünfziger und ein paar Kupferpfennige. „Davon

brauche ich noch etwa eine Mark, um mit der Vorortbahn nach Leverkusen zu fahren. Es bleiben also nur 3,50 Mark, dafür kann ich ja wohl den wunderschönen Puppenwagen nicht bekommen.“

Eine Weile stehen die drei Menschen da und schauen stumm auf den Puppenwagen. „lch bin auch mit 3,50 Mark zufrieden“, sagt der Ladenchef in die Stille. „Sicher habe ich etwas mehr Geld im Portemonnaie als Sie, ich kann getrost auf einen Gewinn verzichten.“ Er schaut Josef freundlich an: „Ich bin froh, dass ich Ihnen dienlich sein kann. Vielleicht - später einmal - wenn Sie besser bei Kasse sind, suchen Sie mein Geschäft auf.“ „Nichts lieber als das.“ Josef kann kaum glauben, was ihm da geschieht. Händeschüttelnd wünschen sich die drei Menschen frohe Festtage. Es ist etwas um sie herum, dass man Weihnachtsfreude nennt. Als Josef - den Wagen unter dem Arm - durch die eisige Luft zur Straßenbahnhaltestelle geht, ist ihm seltsam warm. In Erwartung des Jubels, den er gleich bei Frau und Kind auslösen wird und in tiefer Dankbarkeit über die Erfahrung menschlicher Größe, fühlt er sich auf einmal reich und vergisst vorübergehend die Dürftigkeit seines Alltags. Später, als Josef sein Wort einlösen will, steht er vor den leeren Schaufenstern des geschlossenen Kaufhauses. Inzwischen hat es eine Reichskristallnacht gegeben. Danach wurde dieses Geschäft wie viele andere boykottiert und enteignet. Vom Besitzer fehlt jede Spur.

All die guten und dankbaren Worte, die Josef seinem Gönner sagen will, muss er ungesagt in seinem Herzen bewahren.

Aufgeschrieben im Jahr 2002 von Anna-Maria Hundenborn, Josefs Tochter

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"Die Buttercreme-Torte" von Heinz Krämer

Nachdem wir in Köln dreimal ausgebombt waren, wurden meine Mutter und ich Ende 1942 bis Anfang Mai 1945 nach Sachsen evakuiert. Durch einen glücklichen Zufall fiel mir dort von einem Flüchtlings-Treck eine Holzkarre direkt vor die Füße. Meine Mutter packte daraufhin alle wichtigen Dinge wie Schuhe etc. darauf und wir trotteten los in Richtung Westen. Nach viereinhalb Wochen mehrmals unterbrochenem Marsch landeten wir in Niederesch bei Dernau an der Ahr auf dem kleinen Bauernhof meiner Patentante.

Von hier fuhr meine Mutter einmal in der Woche nach Köln auf Wohnungssuche. In Klettenberg wurde sie fündig und ihre frühere Chefin aus Lindenthal bot ihr ihre alte Stellung im Haushalt an. Sie besorgte uns eine  Zweizimmerwohnung in der Bachemer Straße in dem Haus gegenüber auf der ersten Etage.

Das Haus hatte durch einen Bombeneinschlag keine Treppe mehr, war aber sonst noch bewohnbar. Das Nachbarhaus dagegen war unbewohnbar, aber das Treppenhaus war heil geblieben. Ein mannsgroßes Loch durch die Brandmauer ermöglichte uns den Zutritt zu unserer neuen Wohnung. Der Schuttberg vor unserem Haus reichte fast bis zur Fensterbank und ermöglichte mir die Abkürzung zur Straße. Sehr praktisch bei Stubenarrest. Mit einer selbstgezimmerten Karre fuhr ich täglich durch die Trümmer, um Holz für den Winter zu holen.

Kurz vor Ostern 1947 stand der Pfarrer von St. Stephan vor unserer Tür und wollte wissen, warum ich nicht zur 1. Heiligen Kommunion angemeldet wäre. Meine Mutter erklärte ihm, dass sie mir bei ihrem Stundenlohn von 50 Reichspfennig keinen Anzug kaufen könne. Der Pfarrer versprach Abhilfe und sie bekam einen Bezugsschein, welchen wir bei „Weingarten“ einlösen konnten. Einen so schönen Anzug hatten wohl nur wenige. Nun kam das größte Problem.

Meine Mutter fragte mich, welchen Kuchen ich mir zum Weißen Sonntag wünsche, da meine Tante mit vier Pänz zu Besuch kommen sollte. Meine spontane Antwort „Buttercreme-Torte“ verschlug ihr fast die Sprache: „Ich brauche dazu bestimmt ein halbes Pfund Butter und die kostet beim Schwarzhändler 90 Reichsmark. Wo soll ich die her bekommen?“

Jemand erzählte mir, dass ein Mann in der Mommsenstraße sein zerstörtes Haus wieder aufbaut und dringend Ziegelsteine braucht. Er zahle für jeden ordentlich sauberen Ziegel 30 Reichspfennige. Ich rechnete … 90 Reichsmark : 30 Reichspfennige = 300 Steine. Also bewaffnete ich mich mit dem Hammer und meiner Karre und klopfte in den Trümmern fein säuberlich 300 Ziegelsteine. Stolz überreichte ich meiner Mutter 90 Reichsmark. Die Buttercreme-Torte war für mich die leckerste meines Lebens.

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