Die Unendlichkeit der Milchstraße

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György Ligeti

György Ligeti

Mit seinen Klangflächenkompositionen setzte er sehr spezifische Akzente in der Gegenwartsmusik.

„Das Bannen der Zeit, das Aufheben ihres Vergehens, ihr Einschließen in den jetzigen Augenblick ist mein hauptsächliches kompositorisches Vorhaben.“ Das schrieb György Ligeti im Vorwort zu seinem Klavierkonzert, welches er auch als „ästhetisches Credo“ bezeichnete. Man kann sich an diese Selbstbeschreibung erinnert fühlen, wenn in Stanley Kubricks Kultfilm „2001 - Odyssee im Weltraum“ der Computer endlich ausgeschaltet ist und das Raumschiff in die Unendlichkeit der Milchstraße rast - vorbei an bewegten Formen und Farben, wo das gewohnte Raum- und Zeitempfinden zum Nichts hin explodiert.

Dazu erklingt Musik von - György Ligeti. Genauer: „Atmospheres“, sein wohl berühmtestes Werk, mit dem er 1961 bei den Donaueschinger Musiktagen den definitiven Durchbruch als Komponist schaffte - ein statisches Klangband, ein vielstimmiges Summen unbekannter Herkunft, dessen Kontinuum nicht durch wahrnehmbare Einzelereignisse gestört wird. Melodie, Harmonie, Rhythmus? Nichts von alledem - und trotzdem war das Musik, kalt und schön, wie von einem anderen Stern.

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Mit seinem Prinzip der Klangflächenkomposition setzte sich Ligeti auch revolutionär vom seinerzeit herrschenden seriellen Stil ab. Das Unerhörte wurde auch als solches gehört. Adorno, der kritische Musikpapst der Nachkriegszeit, dem Ligeti zwiespältig verbunden war, erteilte den Ritterschlag, sprach von dem „ebenso scharfsinnigen wie wahrhaft originalen und bedeutenden ungarischen Komponisten“.

Angefangen hatte alles natürlich in Köln, welches in den 50er Jahren die Hochburg der Neuen Musik in Deutschland war. Zwischen 1957 und 1969 arbeitete Ligeti als freier Mitarbeiter im berühmten WDR-Studio für elektronische Musik Seit' an Seit' mit Karlheinz Stockhausen und Mauricio Kagel. Stockhausen war es auch gewesen, der den nach dem Ungarn-Aufstand 1956 aus Budapest Geflohenen aufnahm. Bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik wiederum traf Ligeti Pierre Boulez und Luigi Nono. Die Gruppe - wenn es denn je eine war - zerfiel freilich rasch angesichts ästhetischer und ideologischer Divergenzen, und Dankbarkeit hinderte Ligeti nicht daran, Stockhausen einen „Größenwahnsinnigen“ zu schimpfen, als der im Terroranschlag vom 11. September Kunstwerkhaftes zu erkennen glaubte.

Streitbar-bärbeißige Unabhängigkeit und Äquidistanz zu den Extremen des politischen Spektrums auch in bewegten Zeiten waren stets ein Markenzeichen Ligetis gewesen, der, als er nach Köln kam, bereits ein schweres biografisches Paket zu tragen hatte. Der 1923 Geborene wuchs im siebenbürgischen Klausenburg als Sohn eines Akademikerehepaars auf, das seit 1920 zur ungarischen Minderheit in Rumänien gehörte. Ein Großteil der jüdischen Familie wurde in den Lagern der Nazis ermordet, Ligeti selbst überlebte den Krieg eher zufällig. Nach 1950 bot das Radio dem Frühreifen die einzige Möglichkeit, im abgeschotteten kommunistischen Ungarn die westliche Musikentwicklung zu verfolgen. Die Emigration wäre fällig geworden, auch wenn es ein „1956“ nicht gegeben hätte.

Wenig beeindruckt war Ligeti, der zwischen 1973 und 1989 eine Klasse für Komposition an der Hamburger Musikhochschule innehatte, denn auch, als ihm die Fortschrittlichen in den 70er Jahren „Verrat an der Avantgarde“ vorwarfen. Damals besann er sich in der Tat zurück auf Tradition, Harmonie und Rhythmus, gab allerdings seine hochkomplexe Kompositionsweise samt ihrer „mikropolyphonen“ Verflechtung von Stimmen nie auf.

Dank der suggestiven Klangsinnlichkeit seiner Musik und ihrer hochspeziellen Farbmischungen gehört der mit vielen Preisen Ausgezeichnete zu den meistgespielten Gegenwartskomponisten im Konzertsaal. Das hielt ihn nicht davon ab, beredt über den Verfall einer nicht vom Kommerz kolonisierten Musikkultur zu klagen. Gestern nun ist György Ligeti gestorben - 83-jährig in Wien, seinem zweiten Lebensmittelpunkt neben Hamburg.

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