Unser Restaurantkritiker ist fassungslos über die Entscheidungen des Guide Michelin in diesem Jahr – vor allem im Rheinland. Seine Analyse der Sterne-Vergaben.
Carsten Henn zu Guide Michelin 2024„Welche Gaumenblinden testeten eigentlich bei Michelin im Rheinland?“
Er möchte nicht mehr, dass sein Restaurant bewertet wird, auch einen Michelin-Stern wolle er keinen, erklärte Vincent Moissonnier nachdrücklich auf der von Sarah Brasack moderierten Veranstaltung „Den Teller lesen“ im Theater am Tanzbrunnen auf der diesjährigen lit.Cologne. Wenn er doch einen bekäme, so Moissonnier augenzwinkernd, würde er diesen an das „Sahila“ weitergeben, denn dessen Chefin Julia Komp hatte an dem Abend offen über ihre Ambitionen für einen zweiten Stern gesprochen.
Man könnte sagen: Nun kann er seinen Worten Taten folgen lassen. Aber so einfach geht es natürlich nicht. Auch kann man sich eben nicht freimachen von einer Bewertung, denn der Guide Michelin sieht sich den Gästen verpflichtet, nicht den Restaurants. Und so vermeintlich kulinarisch schlicht, wie das Bistro 2023 startete, geht es hier längst schon nicht mehr zu. Viele Speisen hätten so oder zumindest so ähnlich auch beim Vorgängerrestaurant auf den Tisch kommen können, Spitzenkoch Eric Menchon und sein Team können Gott sei Dank nicht aus ihrer Haut. Verdient hat das Le Moissonnier Bistro die Auszeichnung also allemal. Der „Kneipier“ kann mit dem Stern ja ebenso lapidar wie das MaiBeck umgehen, als sie ihn vor Jahren erhielten: bloß nichts ändern und nicht groß drüber reden.
Roberto Carturan kocht kein bisschen schlechter als bei der erstmaligen Verleihung
Worüber man allerdings reden muss, sind die nicht erfolgten Auszeichnungen in Köln und die einzige Abwertung: Das „Alfredo“ verliert nach dreizehn Jahren seinen Michelin-Stern. Dabei kocht Roberto Carturan kein bisschen schlechter als bei der erstmaligen Verleihung, ganz im Gegenteil, immer souveräner und selbstbewusster wurde seine Küche mit den Jahren, immer konzentrierter auf das Wesentliche – womit sie zur hochmodernen Produktküche wurde, bei der die Edelprodukte ihre ganze Aromenvielfalt ausspielen dürfen. Man spürt Carturans Liebe für Top-Lebensmittel bei jedem Bissen. Zudem setzt kaum ein Koch Olivenöl so klug und meisterhaft ein wie er. Auf Carturans Gästezuspruch wird die Abwertung keinen Einfluss haben, in Köln weiß man seit Langem um die einzigartigen Qualitäten vom besten „Italiener“ der Stadt und dem neben Vincent Moissonnier auch wunderbarsten Gastgeber.
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Welche Gaumenblinden testen eigentlich bei Michelin?
In diesem Jahr hat der Michelin so viele Fehler im Rheinland gemacht, dass man sich fragt, welche Gaumenblinden hier eigentlich testeten. Das „ITO“ im Belgischen Viertel hat sich prächtig entwickelt, weiter Richtung Fine Dining, dabei kreativ und einzigartig. Der Schwesterbetrieb im Gut Lärchenhof hätte seit Jahren den zweiten Stern verdient – aber wieder wurde er nicht verliehen. Andere Restaurantführer sehen dieses Kleinod längst viel weiter vorn. Auch die mutige Neuausrichtung des Bensberger Vendôme wurde abermals nicht honoriert. Schwach! Die „Hanse Stube“ im „Excelsior Hotel Ernst“ hat sich unter Chefkoch Joschua Tepner ebenfalls enorm entwickelt, liefert an sieben Tagen die Woche mittags und abends exzellent ab.
Aber nicht nur bei den Sternen gab es in diesem Jahr – außer natürlich für das Le Moissonnier Bistro – nichts Neues in Köln, auch beim BiB Gourmand, der Restaurants mit bestem Preis-Leistungs-Verhältnis auszeichnet (15 neue Restaurants wurden in dieser Sparte 2024 ausgezeichnet). Caruso Pastabar? Ouzeria? Phaedra? Hallo, Michelin?
Auch kein grüner Stern für Köln – das macht mich fassungslos
Auch bei den grünen Sternen, die für nachhaltig arbeitende Restaurants verliehen werden, gibt es in Köln keinen neuen, was mich wirklich fassungslos macht. Denn wir haben mit dem NeoBiota eines, das sich seit Jahren vorbildlich in diesem Bereich aufgestellt hat. Hier wird im Detail über das Thema nachgedacht und entsprechend gehandelt. Neuerdings gibt es keinen Meeresfisch mehr, auch Schokolade lässt man sein und findet kreative Lösungen mit Zutaten, die keinen so weiten Weg haben. Nose-to-tail-Cooking, also die Verwertung des ganzen Tieres, ist hier an der Tagesordnung, etliche Zutaten werden selbst gesammelt. Sonja Baumann und Erik Scheffler ist Nachhaltigkeit eine Herzensangelegenheit. Wie bitte kann man das übersehen?
Vor den Toren Kölns, auf Schloss Loersfeld in Kerpen, hat das Gourmet-Restaurant seinen Stern verloren – was aufgrund des Personalwechsels am Herd nicht verwundert. Auf Benjamin Schöneich, der an seiner neuen Wirkungsstätte, dem Sanct Peter in Bad Neuenahr-Ahrweiler, dieses Jahr auf Anhieb den ersten Stern holte, folgte sein Sous-Chef Giorgo Mimisa. Der Michelin will sicher erst sehen, wie dieser sich entwickelt. Natürlich werden auch wir das Restaurant wieder unter die Lupe nehmen.
Der Küchenchef von Deutschlands neuem 3-Sterner ist Kölner
Düsseldorf räumte diesmal mit zwei neuen Sternerestaurants in NRW ab, wobei weder die Verleihung an das Jae noch das Zwanzig23 by Lukas Jakobi in Gourmet-Kreisen überraschten. Allerdings verlor die Landeshauptstadt mit Dr. Kosch und Phoenix auch zwei Sternelokale.
Über einen indirekten neuen Stern darf sich das Rheinland allerdings freuen, und was für einen. Deutschlands einziger neuer 3-Sterner ist das „Es:senz“ im Chiemgau, dessen Küchenchef Edip Sigl einst drei Jahre in Kerpen seine Lehre machte, im Restaurant des Gut Lärchenhofs unter Bernd Stollenwerk.