Antisemitismus nach Hamas-Angriff„Die Verunsicherung der Jüdinnen und Juden in Köln ist enorm“

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Ein Polizeiposten vor der Synagoge in der Roonstraße.
Nach dem Angriff der Hamas auf Israel sind auch in Köln die Sicherheitsmaßnahmen vor jüdischen Einrichtungen verschärft worden.

Nach dem Angriff der Hamas auf Israel sind auch in Köln die Sicherheitsmaßnahmen vor jüdischen Einrichtungen verschärft worden.

Das Sicherheitsgefühl von Jüdinnen und Juden weltweit wurde durch die Attacke der Hamas auf Israel zutiefst erschüttert. Auch in Köln beschreiben Menschen jüdischen Glaubens ihre Verunsicherung und das Bedürfnis nach Solidarität in Deutschland.

Die Polizisten, die die Synagoge an der Kölner Roonstraße sichern, tragen die Maschinenpistolen wieder sichtbar, die Gefährdungslage gilt als hoch. In jüdischen Schulen wird mit Kindern nicht nur über die Terrorangriffe der Hamas und den aktuellen Krieg in Israel gesprochen, sondern auch darüber, wie sie sich hier in Deutschland, hier in Köln verhalten sollen, um sich keinen vermeidbaren Risiken auszusetzen.

Jüdische Eltern sprechen mit ihren Kindern darüber, was sie im Bus oder im Café besser nicht laut sagen sollten. Die Sicherheitsvorkehrungen vor jüdischen Einrichtungen sind nicht erst seit dem Brandanschlag auf eine Berliner Synagoge am Dienstag in Berlin, sondern sofort nach den bestialischen Terrorangriffen der Hamas in Israel am 7. Oktober mit mehr als 1000 ermordeten Israelis verstärkt worden.

Angriff auf Israel: Traumatisierung von Jüdinnen und Juden auch in Köln spürbar

Die Verunsicherung der Jüdinnen und Juden sei auch in Köln enorm – und sie nehme eher noch zu, sagt Abraham Lehrer, Stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Juden und Vorstandsmitglied der Kölner Synagogengemeinde dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ am Mittwoch. Diese Woche fuhren mehrfach schwarze Limousinen mit NRW-Kennzeichen an der Synagoge vor. Die immense Traumatisierung von Jüdinnen und Juden ist auch in Köln sicht- und spürbar.

Zu sehen bei einer Pro Israel Kundgebung auf dem Roncalliplatz ist Abraham Lehrer, Vorstand der Synagogen-Gemeinde Köln.

Abraham Lehrer ist Stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Juden und Vorstandsmitglied der Kölner Synagogengemeinde.

„Wir haben einige Maßnahmen ergriffen, um den großen Sorgen der jüdischen Gemeinschaft zu begegnen“, sagt Lehrer. Dass eine Stolperstein-Verlegung am Gymnasium Kreuzgasse bei der er als ehemaliger Kreuzgassen-Schüler am Mittwoch teilnahm, vom Bundeskriminalamt gesichert wird, gehört für Lehrer längst zu einer Normalität, die keine sein sollte. Aber was ist mit der Jugend?

Jüdische Lehrerin: Tägliche Konfrontation mit Fake News

„Es gibt auch in Köln viele jüdische Kinder, die von Mitschülern jetzt vermehrt mit Vorwürfen und Vorurteilen konfrontiert werden“, sagt eine jüdische Lehrerin aus Köln, die nicht namentlich genannt werden möchte, „weil ich leider momentan Sorge habe, mich öffentlich zu bekennen“. Ihre Schülerinnen und Schüler würden täglich mit Fake News und antisemitischen Ressentiments aus Sozialen Netzwerken konfrontiert, „die oft unreflektiert weitergebenen werden“. Auch an Schulen in NRW kursierten Mails mit vermeintlichen Unterrichtsmaterialien, in denen es heiße, Israel habe nach der Staatsgründung 1948 einen „Krieg begonnen, bei dem es palästinensische Gebiete erobert und viele Palästinenser vertrieben“ habe – tatsächlich hatten arabische Staaten Israel nach der Staatsgründung postwendend den Krieg erklärt.

Was mich verzweifeln lässt, ist die ständige Täter-Opfer-Umkehr
Jüdische Lehrerin in Köln

Auch bei nichtjüdischen Kindern und Jugendlichen schwinge im Unterricht spürbar die Angst mit, etwas Falsches zu sagen, sagt die Lehrerin. „Was mich verzweifeln lässt, ist die ständige Täter-Opfer-Umkehr, das Teilen und Verbreiten der Nachricht, die israelische Armee habe jüngst das Krankenhaus in Gaza angegriffen, die Darstellung, Israel greife auf unverhältnismäßige Art die Palästinenser an.“

Sie habe selbst kleine Kinder, vor denen sie glücklich erscheinen wolle, sagt die Pädagogin. „Aber ich schlafe seit dem 7. Oktober fast nicht, esse wenig und kann mich kaum konzentrieren, wenn ich am Schreibtisch sitze und arbeite. Weil ich in Gedanken bei Freunden und Verwandten in Israel bin und mich ständig frage, was ich tun kann, um Kinder und Jugendliche hier aufzuklären.“

Abraham Lehrer: „Ich spüre viel Solidarität, vermisse aber, dass sich eine breite Mehrheit der deutschen Gesellschaft mit Israel solidarisiert.“

Am vergangenen Freitag hätten die Eltern der Kita-Gruppe der Unter-Dreijährigen in Köln aus Sorge vor Übergriffen beschlossen, ihre Kinder zu Hause zu lassen, erzählt Abraham Lehrer. In Internet-Netzwerken war ein der Hamas zugeordneter Aufruf verbreitet worden, Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt anzugreifen, egal ob in Kultur-, Bildungseinrichtungen oder im öffentlichen Raum. Die Kölner Synagogen-Gemeinde veranstaltet dieser Tage Diskussionsabende, um den Sorgen und Ängsten Raum zu geben und über Sicherheitsmaßnahmen zu informieren.

„Es gibt viele Fragen und das starke Bedürfnis, zusammenzukommen“, sagt Lehrer. „Ich spüre viel Solidarität, vermisse aber, dass sich eine breite Mehrheit der deutschen Gesellschaft mit Israel solidarisiert, auch mit Kundgebungen, Lichterketten, Aktionen.“ Zu einer pro-israelischen Demonstration waren am vergangenen Wochenende rund 350 Menschen auf den Kölner Heumarkt gekommen, in Berlin hatten sich nach den bestialischen Überfällen, Massenmorden und Entführungen durch die Hamas rund 2000 Menschen mit Israel solidarisiert. Angesichts von barbarischen Gräueltaten mit den meisten ermordeten Juden seit der Schoa durch die Nationalsozialisten darf man das für Deutschland dürftig finden. Zumal, wenn parallel die Umfragewerte für die AfD steigen und in Bayern ein Spitzenpolitiker, der in seiner Jugend zutiefst antisemitische Flugblätter mit sich trug und sich heute höchstens halbherzig davon distanziert, bei Wahlen deutlich hinzugewinnt.

Andrei Kovacs, Geschäftsführer des Vereins Jüdisches Leben in Europa, ist im Porträt zu sehen.

„Immer, wenn in Israel etwas passiert, flammen auch hier und in ganz Europa antisemitische Ressentiments und Gewalt gegen Juden auf“, sagt Andrei Kovacs, Geschäftsführer des in Köln gegründeten Vereins Jüdisches Leben in Europa,

„Beunruhigt, traurig, wütend.“ So beschreibt Andrei Kovacs seinen Gefühlszustand. Der Brandanschlag auf die Synagoge in Berlin am Dienstag habe ihn „schockiert, aber leider nicht überrascht. Immer, wenn in Israel etwas passiert, flammen auch hier und in ganz Europa antisemitische Ressentiments und Gewalt gegen Juden auf“, sagt der Vater von drei Töchtern und Geschäftsführer des in Köln gegründeten Vereins Jüdisches Leben in Europa. „Und jetzt herrscht Krieg, dessen Ausmaß nach dem Pogrom der Hamas weitaus größer sein wird als die Raketenbeschüsse in den vergangenen Jahren.“

„Auch viele Menschen in Köln haben Freunde und Verwandte durch die brutalen Morde der Terroristen verloren oder machen sich Sorgen um ihre Sicherheit“, sagt Kovacs. Angesichts des größten Traumas seit der israelischen Staatsgründung im Jahr 1948 (und dem Angriff der arabischen Staaten Ägypten, Transjordanien, Syrien, Libanon und des Irak noch am gleichen Tag,) sei er besorgt, dass „die Stimmung auch in Deutschland umschlagen könnte – und Vorurteile sich verstärken, weil Fakten weder ausreichend hinterfragt noch differenziert werden“. Wünschen würde er sich, dass öffentlich klarer herausgestellt würde, „dass es sich nicht um einen Krieg zwischen Juden und Muslimen handelt“, sagt Kovacs. „Hier verteidigt sich ein demokratisches Land gegen Terrorristen, die ein barbarisches Blutbad an tausenden von Menschen begangen haben.“

Steigende Zahl an Diffamierungen und Übergriffen erwartet

Die Meldestelle für antisemitische Vorfälle im NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln geht davon aus, dass die Zahl der gemeldeten Diffamierungen und Übergriffe in diesem Jahr weiter steigt. Es sei zu befürchten, dass es aufgrund der Lage im Nahen Osten in den kommenden Wochen und Monaten „vermehrt zu antisemitischen Vorfällen in Köln kommen könnte“, teilte die Meldestelle jüngst mit.

Die Sorge begründe sich mit der Erfahrung der vergangenen Jahre: So hatte es auf einer pro-palästinensischen Demonstration im Mai 2021 auf dem Heumarkt antisemitische Sprechchöre und Plakate gegeben, auf Arabisch seien Terroranschläge gegen Israel propagiert worden, die eine ideologische Zugehörigkeit zur Terrororganisation der Hamas offenbart hätten. Die Menschen hatten sich in Köln zu jenem Militärführer der Hamas bekannt, der auch die jüngsten Massaker gegen die israelischen Zivilsten zu verantworten hat. In den Wochen nach der Kundgebung war die Zahl antisemitischer Vorfälle in Köln gestiegen.

„Jeder einzelne kann Verantwortung übernehmen, indem er Fakten von der perfiden Propaganda der Terroristen unterscheidet, Verallgemeinerungen, Stereotypen entgegentritt und hilft, den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland und Europa zu wahren“, sagt Andrei Kovacs. „Im Land der Erfinder des Holocausts sollte das selbstverständlich sein. Niemand darf zulassen, dass Terror als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln unbestraft bleibt.“

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