60 Jahre Anwerbeabkommen mit der TürkeiAtila Tosuns lange Geschichte vom Ankommen

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Atila in seiner ganz besonderen Metzgerei.

Köln – Wer in die Markthalle in der Ehrenfelder Körnerstraße kommt, sieht Atila Tosun schon von weitem hinter der Theke in der Hinterhofgarage stehen. Der Türke, der für seine Stammkunden einfach Atila ist, ist in Ehrenfeld eine Institution. Nicht nur wegen der Qualität seines Fleischs, die auch Profiköche hierher führt. Es ist auch seine Haltung: Wer  den Mann im weißen Kittel  beobachtet, wie er mit fast ästhetisch anmutenden Schnitten das Fleisch vom Knochen löst, spürt die Wertschätzung. Hier ist das tote Tier kein Produkt und der Kunde nicht nur  Käufer.   

Tosun, der die Beziehung zu Tieren in seinem türkischen Dorf gelernt hat, sagt, er spüre  beim Anfassen des Fleisches, ob das Tier artgerecht gelebt hat. Für ihn ist es eine Sache des Respekts vor dem Tier, es selbst zu zerlegen und alles restlos zu verwerten.  

Die Kunst des Wartens

Ein Besuch in Tosuns Markthalle ist auch ein Ausflug in eine andere Zeit- und Klimazone: Wer hier einkauft, muss Zeit mitbringen. Sich in die Schlange einreihen, einen türkischen Tee trinken und warten bis auch für einen selbst das Fleisch zerlegt wird. „Alle, die herkommen, wissen das. Sie kommen trotzdem.“ Wegen der warmherzigen Atmosphäre und weil man es genießt, zu Gast zu sein, in einem Kosmos, der anders tickt. „Mein Vater macht alles mit Herz und Seele “, sagt Tochter Yasemin (30) liebevoll. Der 55-Jährige ist Türke der zweiten Generation. Einer, der es mit seiner Frau Hanife geschafft hat, würde jeder Außenstehende sagen. Der beim Körnerstraßenfest dabei ist und jeden kennt. Die Seele der längst hipp gewordenen Straße.  

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Atila und Hanife vor ihrem Geschäft in Ehrenfeld kurz nach der Eröffnung.

Aber seine Geschichte ist keine klischeehafte Bilderbuchgeschichte müheloser Integration. Es ist eine Geschichte von Träumen, Hoffnungen, Zumutungen, Fremdheit, Schmerz, unerschütterlicher Energie und Optimismus. Es ist die Geschichte der türkischen Gastarbeiter, die sich in den drei Generationen der Familie Tosun spiegelt. Es ist ein Teil der Geschichte dieses Landes.

Genau 60 Jahre ist es her, als die Bundesrepublik mit der Türkei ein Anwerbeabkommen abschloss, weil der Wirtschaft Arbeiter fehlten. Wegen dieses Jubiläums erinnert man sich in diesen Tagen an Menschen wie Atilas Vater, Gastarbeiter der ersten Generation, der mit einem Koffer auf dem Kölner Bahnhof stand. Sein Plan war der einsame Traum aller, die damals kamen: Ein paar Jahre bleiben, arbeiten bis zur Erschöpfung, Geld verdienen für die daheim gebliebenen Kinder – dann sollte es  zurück gehen. Erst bei Ford, später bei einer Montagefirma. „Mein Vater konnte kein Wort deutsch, es gab keinen Kontakt zu Deutschen, keine Sprachkurse, keiner hat ihm erklärt, wie das Leben hier funktioniert.“

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Stolz hinter der Theke.

Man blieb unter sich, was sollte man auch sonst. Es blieben der Münzfernsprecher und die Post, die oft Wochen brauchte. „Mein Vater war  ein eindrucksvoller Mann. Leider habe ich ihn erst nach seinem Tod kennengelernt“, sagt Atila. Aus den Erzählungen seiner Mutter. Aus Koffern lebten sie über viele Jahre, auch noch als Atilas Mutter 1969 hinterherkam, um hier auch zu arbeiten. Leben und schuften für den Traum von Morgen.  Atila und seine sechs Geschwister blieben in der Türkei  bei den Großeltern und sahen die Eltern nur in den Sommerferien. Ein Schicksal, das er mit fast allen Kinder der zweiten Generation teilt, die ihre Eltern kaum kannten. Als die Eltern 1979 ihre Kinder in der Türkei besuchten, verunglückte der Vater bei einem Autounfall tödlich. Für den 13-jährigen Atila veränderte das alles: „Meiner Mutter war klar, dass wir jetzt nicht mehr in zwei Ländern leben konnten.“ Von heute auf morgen ging es  ohne ein Wort deutsch in ein neues Leben. 

Eine Stunde Deutsch die Woche

In Köln wurde er in der Hauptschule angemeldet, in einer Förderklasse mit 30 anderen türkischen Kindern, denn immer mehr Gastarbeitereltern holten ihre Kinder nach, da die lange Trennung nicht mehr auszuhalten war. Die Sprache war türkisch. „Einmal die Woche kam Frau Pütz, um mit uns eine Stunde Deutsch zu lernen.“ Das ist die Basis, auf der die Kinder der 2. Generation deutsch lernten und zugleich die Antwort darauf, warum viele die Schriftsprache nie von Grund auf lernten. „Für uns hat sich keiner groß interessiert.“ Und daheim war man allein, da die Mutter die Kinder durchbringen musste. „Ich hab geträumt, dass ich zurück gehe und wollte bis dahin Geld verdienen – wie mein Vater.“ Er jobbte neben der Schule, schaffte Schulabschluss und Ausbildung. 

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Atila Tosun (r.) mit seiner Mutter (2.v.l.), Tochter Yasemin (3.v.l.), Ehefrau Hanife (4.v.l.) und Sohn Altan (5.v.l.)

Es schaffen. Das war das Ziel. Und sie schafften ganz viel, er und seine große Liebe Hanife, die er 1989 – drei Jahre nach der Hochzeit – endlich nach Deutschland holen konnte.  Sie wagten den Traum der Selbstständigkeit und zahlten einen hohen Preis: Den Lebensmittel- und Metzgerladen in Ehrenfeld konnte er von einem Bekannten übernehmen und nahm dafür Schulden auf. „Das Mobilar war Schrott, die Kunden unzufrieden, das habe ich aber erst hinterher gemerkt. Es lief erst nicht gut.“

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Also hieß es Arbeiten bis zum Umfallen, sich einen Ruf erarbeiten. Sich zerreißen zwischen den inzwischen geborenen Kindern Altan und Yasemin und dem Druck der Existenznot. Kitaplätze gab es keine. Als dann die Schwägerin noch ausfiel, und Hanife Vollzeit mithelfen musste, wiederholte sich die Geschichte: Die Familie in der Türkei nahm die zehn Monate alte Yasemin auf, damit beide Eltern arbeiten konnten. Mit einem Kind ging das gerade so. Noch heute treten Mutter Hanife die Tränen in die Augen, wenn sie von der Zeit spricht. Der Schmerz und auch die Verzweiflung, dass man damals keinen Ausweg sah, sind lebendig. Mit drei Jahren holten sie die Kleine zurück. Es war nicht mehr auszuhalten. Und irgendwoher zauberte das Schicksal einen Kindergartenplatz für beide Kinder. 

Dankbarkeit für Oma Hedi

Die 30-Jährige, die gerade ihr erstes Baby erwartet, weiß um den Schmerz. Den ihrer Mutter und auch den ihren. Aber anders als die Kinder der 2. Generation ist es möglich, darüber mit den Eltern ins Gespräch zu kommen. Die Familie, die Herzenswärme, der Zusammenhalt, die türkischen Familienfeste – das ist für die Tosuns alles. Ihr gemeinsames Fundament, auf dem alles ruht. Als Jugendliche haben ihr Bruder und sie nach der Schule abends im Restaurant „Konak“ mit geholfen, das ihr Vater, der Workaholic, später über Jahre parallel zu dem Geschäft in Ehrenfeld betrieb. Anders als ihre Eltern konnten beide über Kindergarten und Schule die Sprache von Grund auf lernen, fanden Lehrerinnen, die sie unterstützen, und Nachbarin Hedi, die mit ihnen Hausaufgaben machte. „Bis heute ist sie so etwas wie unsere deutsche Oma.“ 

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Altan und Yasemin nach dem Martinszug im Laden.

Altan ist Programmierer und Yasemin studiert nach einer Ausbildung zur Hotelfachfrau und Tätigkeit in dem Beruf  Betriebswirtschaft. Stolz sind die Eltern auf den Weg, den beide gemacht haben. Köln ist ihre Heimat. Sie  sind überzeugte Europäer und in ihrem Herzen fühlen sie sich türkisch. Sie sind Wandler und Vermittler zwischen den Welten: „In der Türkei merken die Menschen sofort, dass unser Türkisch nicht so perfekt ist. In Deutschland sind wir Türken“, sagt Yasemin. Kölner sind sie überall.

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