Kölner tauschen RollenIhr Leben lang kümmerte sie sich um alles – jetzt ist er dran

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Harald staunt heute über seine Frau Maria: „Was sie alles geleistet hat!“

  • Maria Lehmann hat sich ihr Leben lang gekümmert: Um die Kinder, das Geschäft in Nippes und um ihren Mann.
  • Sie hat viel unbezahlte Arbeit geleistet – wie es viele Mütter machen.
  • Jetzt ist ihr Mann der Kümmerer. Unsere Reportage zum Muttertag

Köln – Wenn Frau Lehmann von ihrem Sofa aufstehen möchte, dann ist das ein mühseliger Akt. Bevor sie ihre Beine vom geblümten Schemel bringt, massiert sie ihre Oberschenkel durch die anthrazitfarbene Hose. Anschließend beugt sie sich nach vorne und knetet knöchelaufwärts an den Schienbeinen entlang. „Das sind die Krämpfe.“  Wenn das Kribbeln aufgehört hat und Leben in ihre Beine zurückgekehrt ist, kommt ihr Mann. Harald Lehmann. Der 85-Jährige steht vom Esszimmertisch auf, reicht seiner Frau beide Hände und geht mit seinem sportlichen Körper leicht in die Knie. Mit einem Ruck steht sie. Gemeinsam sind sie stark genug, ihren Körper in die Senkrechte zu bringen.

Nicht, dass sie viel wiegen würde, im Gegenteil. Aber seit sie an Nierenversagen leidet, ist ihr ganzer Organismus beeinträchtigt. Sprache, Bewegung, Vitalität. „Dabei war sie immer die Fittere von uns beiden“, sagt der mehrfach am Herzen operierte Harald Lehmann und lächelt. Seine Augen, strahlend blau wie Eisbonbons, leuchten bei jedem Satz, den er voller Respekt und Anerkennung über seine Frau äußert. „Was sie alles geleistet hat…“, sagt der einstige Geschäftsmann immer wieder an diesem Wolken verhangenen Aprilmittag in ihrer Wohnung auf dem Gelände der Riehler Heimstätten an der Boltensternstraße.  

Ohne Hilfe könnte sie sich nicht mehr versorgen

Maria Lehmann, 84 Jahre alt, steht, sammelt sich kurz, koordiniert ihren Bewegungsapparat. Um vom kleinen Wohnzimmer Richtung Toilette zu kommen, sucht sie mit ihren Händen Halt an den Wänden, an denen Fotos der drei Kinder und Enkel hängen. Links, rechts, links, dann hört man die Türklinke. Die Wege sind kurz in der 40-Quadratmeterwohnung. Dennoch könnte die Seniorin, die ihr Leben lang für Mann und Kinder sorgte, ohne die Hilfe ihrer Familie sich heute nicht mehr versorgen.

Die Frau, mit ihrem erstaunlich dichten, grauen Haar und jugendlichen Aussehen, hat sich ihr Leben lang gekümmert. Weniger um sich, mehr um ihren schwer herzkranken Mann, um die Kinder, „dass aus denen etwas wird“. Und um das kleine Geschäft, das sie auch wochen- und monatelang alleine geführt hat, wenn ihr Mann nach Unfällen oder Herzoperationen im Krankenhaus war. Und selbstverständlich auch um die beiden Hunde, erst um den kleinen Rauhhaardackel Rowdy, dann Charly, einen Mischling.

Sie arbeitet, sie sorgt, sie näht - umsonst natürlich

Für den kleinen Nippeser Raumausstattungsbetrieb „der lange gut lief bis uns die Großen platt machten“, nähte Maria Lehmann mehrere 10 000 Kilometer Gardinen. Hunderte Bandolieren stellte sie für die Nippeser Bürgerwehr her, „umsonst natürlich“. Denn der Karnevalist Harald Lehmann hält der Karnevalsgesellschaft seit einem halben Jahrhundert die Treue. 40 Jahre hielt sie den Betrieb aufrecht, nähte im Atelier, wo die Kinder ihre Hausaufgaben machten.

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Harald Lehmann war früher bei der Nippeser Bürgerwehr.

Maria Lehmann hat ihr Leben lang den Löwenteil der Arbeit übernommen, die ganzen Einsatz verlangt, keinen Feierabend kennt und unbezahlt ist. Lehmann hat das gemacht, was die meisten Mütter machen. Auch heute noch übernehmen Frauen nach Zahlen von Oxfam drei Viertel dieser unbezahlten Arbeit, in Deutschland investiert eine 34 Jahre alte Frauen jeden Tag mehr als fünf Stunden ins Kümmern, Putzen, Trösten, Versorgen. Ein 34 Jahre alter Mann wendet dafür nur gut zwei Stunden auf.

Wenig Geld und ein Haufen Arbeit

Hinter der Verteilung von unbezahlter Care-Arbeit scheint der Schlüssel zur Gleichberechtigung zu liegen. Oder eben auch zu deren Verhinderung. Denn wer viel unbezahlt tröstet und sich kümmert, hat weniger Zeit, sie in bezahlte Erwerbsarbeit zu stecken, hat weniger Geld, weniger Ansehen. Mütter verdienen nach einer aktuellen Studie von Bertelsmann über ihr gesamtes Leben berechnet 62 Prozent weniger als Männer. Was ihnen dennoch bleibt, ist ein ganzer Haufen Arbeit. Die Ungerechtigkeit hat System und fällt meist nur denen auf, die sie am eigenen Leib erfahren. So wie Harald Lehmann. Denn heute sind die Rollen bei den Lehmanns vertauscht. Der 85-Jährige muss seine mütterlichen Kümmer-Qualitäten unter Beweis stellen. Seither weiß er: Unfassbar, was seine Maria, was Mütter generell unbezahlt leisten.

Auf dem Rückweg vom Bad zum Sofa sagt Maria Lehmann: „Wer hätte das gedacht, dass ich mal so dran bin?“  Und ergänzt: „ich jedenfalls nicht“.  Aber seit sie vor drei Jahren den totalen Zusammenbruch erlitt, hat sich alles geändert. Fünf Krankenhausaufenthalte hat sie in diesem schrecklichen Jahr hinter sich gebracht, mit dem Tod gekämpft. Und Harald Lehmann mit der großen Last der Sorge um einen Menschen, den man liebt: „Einmal schickte mich abends die Ärztin aus dem Krankenhaus nach Hause und sagte, ich könne jetzt nichts mehr tun, und wenn etwas passiere, würde ich angerufen. Ich setzte mich ins Taxi und heulte Rotz und Wasser, bis mich der verzweifelte Taxifahrer zuhause in der Bülowstraße absetzte“, erinnert sich Harald Lehmann an das mit Abstand schlimmste Jahr seines Lebens.

Dabei hatte er schon viele schreckliche Jahre und Erlebnisse in seinem Leben. Etwa als er mit einem lahmen, aber kräftigen Pferd als Kind im 2. Weltkrieg aus Schlawe in Pommern geflüchtet ist. Oder die Schikanen der russischen Besatzer erleben musste. Oder als sein Vater die Familie von heute auf morgen einfach verlassen hatte und er, als Junge, aber Ältester, die Verantwortung für die Geschwister übernehmen musste. „Aber nichts, wirklich nichts ist so schlimm gewesen wie dieses Jahr 2019“, in dem er so oft um sie gezittert hat. 

Die Rollen sind getauscht

Seither ist Maria Lehmann Dialysepatientin mit Rollator und Rollstuhl. Nachts schläft sie nicht mehr, dämmert dafür tagsüber immer wieder müde auf ihrem Sofa mit Kissen im Rücken weg. Manchmal scheint sie fast abwesend, ist es aber nicht ist, weil sie schlagartig den Faden wieder aufnimmt, oft ins Gespräch einsteigt, wenn ihr Mann erzählt und das lange Leben am vollgepackten Esstisch Revue passieren lässt. Jede Jahreszahl, die kleinste Erinnerung hat er sofort parat, schmückt sie aus mit Anekdoten. Maria Lehmann ergänzt hier und da. Früher führte sie das Kommando zu Hause, heute er. Die Rollen sind getauscht im eingespielten Team, das karierte Hemden im gleichen Lilaton trägt und bald, am 16. Juni, 63. Hochzeitstag feiert.

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Das Ehepaar bewohnt 40 Quadratmeter. Er kümmert sich um alles.

Dass die 84-Jährige heute vieles von dem nicht mehr tun kann, was sie früher gern gemacht oder wenigstens klaglos erledigt hat, und dass sie jetzt auf all die Hilfe angewiesen ist, ärgert sie schon. „Natürlich ist das Mist. Aber ich werde ja wahnsinnig, wenn ich dauernd darüber nachdenke.“ Sie sei froh, dass sie den Schock überwunden hat, den sie damals nach dem letzten Krankenhausaufenthalt erlebte hatte. Als die Lehmanns nämlich nicht in ihre alte, vertraute Wohnung nach Nippes zurückkehren konnten, sondern hierhin kamen, in den Wohnblock der Heimstätten. Wo unten an der Klingel 60 Namen stehen, die ihr alle nichts sagten, und die beiden in der zweiten Etage eher beengt als großzügig leben.

Die schicke Küche plante Harald Lehmann selbst

In acht langen Schritten ist das Wohnzimmer durchmessen. Das Schlafzimmer liegt gespiegelt hinter der Wand. Schon 2014 unterschrieben sie den Vertag, mussten aber fünf Jahre warten, bis zwei nebeneinanderliegende Wohnungen in den seit 1927 bestehenden Heimstätten frei wurden und verbunden werden konnten. „Dass das mit dem letzten Krankenhausaufenthalt und der Rückkehr aus der Reha so aufging, war ein großes Glück“, sagt Harald Lehmann, der sich, im Gegensatz zu seiner Frau, von Anfang an mit der neuen Wohnsituation besser arrangierte. Er plante die schicke Küche auf knapp vier Quadratmeter, die drei Kinder räumten die alte Wohnung und richteten die neue ein, solange die Eltern gemeinsam in der Reha waren.

„Ich vermisse schon vieles, aber die Kinder konnten ja nicht alles einpacken, wenn wir nur noch die Hälfte Wohnfläche zur Verfügung haben“, sagt Harald Lehmann. Im Flur stehen Kisten, für ein weiteres Regal wäre kein Platz. „Aber: Ich bin froh, dass ich nicht mehr in die zweite Etage laufen muss, sondern jetzt mit dem Fahrstuhl fahren kann. Nach all den komplizierten Herzoperationen würde ich das gar nicht mehr schaffen.“ 

Als sie hier hinkamen, war alles fertig. Armin, der Älteste, Nicole, die in Berlin lebt, und der Jüngste, Michael, der jeden Tag außer montags seine Eltern besucht und für sie einkauft, machten den Umzug. Kleine Schrankwand, Tisch, Bett, Fotos… alles da. Im Schlafzimmer steht in der Ecke der Computer. Der Esszimmertisch dient als Ablage für Rätselheft, Tageszeitung, die Tablettensammlung.

Eine grüne Osterkerze brennt noch vom Frühstück, Schokohasen stehen auf der Ablage. „Frische Blumen, die sind mir wichtig“, sagt Maria Lehmann. Herr Lehmann könnte auf die kleine Figur auf dem Wohnzimmerregal nicht verzichten: Ein Tanzoffizier in weiß-orangefarbener Uniform der Nippeser Bürgerwehr. Wo er jahrelang im Tanzkorps aktiv war, genauso wie er Handball spielte im Nippeser Turnerkreis und das Kinderturnen im Verein leitete.

„Das war es, mehr war nicht drin“

„Wir waren schon sehr aktiv“, sagt Maria Lehmann. „Und sehr glücklich mit dem, was wir hatten.“ Auch wenn die Einnahmen des kleinen Raumausstattungsbetriebs für große Sprünge nicht reichten: Urlaub mit den Kindern fand in Deutschland statt, oft in Holstein, wo er sich auf der Flucht aus Pommern 1945 sieben Jahre aufhielt. Später, 1998, war er mal mit dem Karnevalsverein in New York, ein Jahr später konnten sie zusammen noch mal dahin. Und zum 40. Hochzeitstag überraschte er sie mit einer Reise nach Mallorca, einmal waren die Lehmanns auf der Insel Korfu. „Das war es, mehr war nicht drin“, sagt Harald Lehmann.

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Er hatte den Karneval, sie ihre Frauenclique, mit der sie Städtereisen unternehmen konnte. Rom, London, Paris. Als dies für die älteren Damen zu anstrengend wurde, ging es „auf die Schönheitsfarm. Deshalb bin ich so schön“, sagt sie und lacht in einem der wachen Momente über ihren Witz. „Klar fehlt mir das alles.“  So klein der Radius heute in Riehl ist, sorgt ihr Mann doch dafür, dass sie an die frische Luft kommt.

Den Balkon hat er mit Blumen bepflanzt

Wenn es regnet, setzt er sie auf den kleinen überdachten Balkon, den er liebevoll mit bunten Frühlingsblumen bepflanzt hat. Ansonsten gehen sie spazieren. „Runter an den Rhein. Nur um die Ecke, aber mit Rollator dauert es ewig.“ Zum Riehler Markt spazieren sie auch, kaufen frisches Gemüse. Alle zwei Wochen bringt er sie zu ihrem Frauenstammtisch in den „Goldenen Kappes“. Wenn sie ihren gemeinsamen Termin bei der Psychologin am Friesenplatz wahrnehmen, dann gleicht das mit der Bahn und Rollstuhl einer Weltreise.

Ansonsten ist ihr Alltag von drei Dialyse-Terminen im Heiliggeistkrankenhaus bestimmt. „Montags, mittwochs und freitags werde ich abends abgeholt und am nächsten Tag zurückgebracht, sagt Maria Lehmann. „Nachts ist das einfacher. Außerdem ist mein Mann dann nicht so allein.“

Harald Lehmann plant auch das Essen

Langweilig wird ihm nicht, wenn sie bis zum nächsten Morgen an den Apparat angeschlossen wird, der ihre Nieren bei der Entgiftung unterstützt.  Er rätselt in seinen Heften, setzt sich an den Computer, überlegt, was er in den nächsten Tagen kocht. „Seit sie krank ist, hat sie mir ihre einstige Domäne übertragen. Und ich koche sehr gut, schaue immer nach neuen Rezepten.“ Gestern gab es Tafelspitz mit viel Gemüse.  Fünfmal hat er in dieser Saison schon Spargel gekocht, erzählt sie. „Spargelschälen macht er wunderbar“, schwärmt sie. Harald Lehmann hat die Care-Arbeit perfektioniert. „Alles, was ich anpacke, mache ich hundertprozentig. Es gibt nichts Schlimmeres, als Pfusch abzuliefern. Das habe ich jedem Lehrling in der Werkstatt schon eingebläut.“

Damit auch er Pausen hat, sich nicht überfordert mit dem Kümmern, gehen sie sonntags im Riehler Hof essen, oder in den Schlemmergärten nach einem Spaziergang durch den Park. Schnitzel essen sie dann, oder was es so gibt auf der Tageskarte. Die Wirte kennen das Paar, das immer nur eine Portion und einen zweiten Teller bestellt. „So viel essen können wir nicht mehr.“ So wie sie vieles nicht mehr können. Aber so lange sich einer um den anderen sorgt, ist alles gut.   

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