Krankenwagen als TaxiRettungsdienste am Limit – jeder siebte Einsatz in Köln ist vermeidbar

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In einer Wagenhalle der Berufsfeuerwehr steht ein Rettungswagen.

Die Mitarbeitenden des Rettungsdienstes sind überlastet.

Die 112 wird längst nicht mehr nur von Menschen gewählt, die dringend Hilfe brauchen. Manche missbrauchen sie sogar als Taxi-Service.

Kopfschmerzen zum Beispiel, ein lästiger Insektenstich, Probleme mit dem Rücken, ein bisschen Durchfall oder ein kleiner Schnitt in der Hand: Immer mehr Hilfesuchende wenden sich an die nordrhein-westfälischen-Rettungsdienste, obwohl sie in keiner medizinischen oder gar lebensbedrohenden Notlage sind, beklagt Professor Bernhard Eßer vom Fachbereich Gesundheit der Fachhochschule Münster. Zunehmend würden sich auch Menschen melden, die soziale Probleme hätten.

„Patienten beispielsweise, die verwirrt sind, oder überforderte pflegende Angehörige“, so Eßer, der bis zu seiner Berufung an die Hochschule als ärztlicher Leiter des Rettungsdienstes in Hamm und davor unter anderem als Notfallsanitäter der Feuerwache 1 in Köln gearbeitet hat.

Aus Berlin beispielsweise sei von einer Patientin berichtet worden, die in elf Monaten 194-mal den Rettungsdienst in Anspruch genommen habe, bis eine Lösung gefunden wurde. Ein anderer Betroffener habe nach 74 Anrufen zu 14 Einsätzen innerhalb nur eines Monats geführt. Natürlich hätten auch diese Patienten ein Recht auf Unterstützung, betont der Gesundheitsexperte: „Aber wenn der Rettungsdienst das leistet, ist das System überlastet.“

Zu wenig Personal für zu viele Einsätze

Eßer ist nicht alleine mit seinem Weckruf. Vertreter der Branche haben schon vor einigen Wochen vor einem Kollaps der Notfallrettung in Deutschland gewarnt. Es bestehe die Gefahr, dass das System zusammenbreche, erklärte ein kürzlich gegründetes „Bündnis pro Rettungsdienst“. Der Dienst sei generell zwar leistungsfähig, er gerate aber immer mehr an seine Grenzen. Die Einsatzzahlen nähmen bundesweit zu, weiß Frank Flake vom Deutschen Berufsverband. Oft seien es Bagatell-Fälle, mehr Personal für mehr Einsätze stehe aber nicht zur Verfügung. „Wir erleben gerade eine nie dagewesene Berufsflucht.“

Auch die Situation im Großraum Köln ist angespannt, wie eine Umfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“ ergeben hat. Neben den zahlreichen Hochwasser-Notrufen hätten „insbesondere die Coronapandemie und die dadurch erforderlichen Infektionsschutzmaßnahmen erhebliche Auswirkungen auf die Mehrbelastung“, betont beispielsweise ein Sprecher des Rhein-Erft-Kreises. Um eine „kritische Unterdeckung“ beim Personal zu vermeiden, seien „in den letzten Monaten intensiv Entlastungsmöglichkeiten gesucht und zum Teil auch gefunden“ worden. Zudem werde derzeit „die Einbindung von weiteren Leistungserbringern im Rettungsdienst forciert“.

Wir erleben gerade eine nie dagewesene Berufsflucht
Frank Flake, Deutscher Berufsverband Rettungsdienst

Während der Pandemie seit März 2020 habe sich „die Personallage im Rettungsdienst hochdynamisch“ entwickelt, konstatiert eine Sprecherin des Oberbergischen Kreises. „Bereits vor dieser Zeit gab es nicht besetzte Stellen, mangels geeigneter, qualifizierter Bewerber.“ Bis zum heutigen Tag hätte „die Situation grundsätzlich nicht verbessert“ werden können. „Durch massive Krankheitsausfälle sind auch aufgrund der vorbeschriebenen Personalsituation weiter signifikante Personalprobleme und Engpässe alltäglich vorhanden“, so die Kreis-Sprecherin.

Die Belastung des noch vorhandenen Personals steige stetig. Dies liege auch an „der permanent nicht erreichbaren oder nur mit langer und zum Teil sehr langer Wartezeit erreichbaren Service–Hotline des Kassenärztlichen Bereitschaftsdienstes“. Sehr viele Patientinnen und Patienten, bei denen es sich „nur selten“ um Notfälle handele, würden deshalb entnervt die 112 anrufen.

Prof. Bernhard Eßer lächelt in die Kamera.

Prof. Bernhard Eßer sprich von einer „Überlastung “des Systems.

Die problematische Personallage habe sich „analog zu der bundesweiten Situation entwickelt, nicht alle Abgänge konnten ersetzt werden“, bestätigt auch ein Sprecher des Rhein-Kreises Neuss. „Akute Personalausfälle“ jedoch „konnten bislang noch immer kompensiert werden, sodass der Rettungsdienst sichergestellt war“. Die Zahl der Einsätze und damit die Belastung der Hilfskräfte sei darüber hinaus vor allem wegen der Corona-Pandemie deutlich gestiegen. „Hierzu trägt bei, dass immer häufiger auch in Fällen ein Rettungswagen gerufen wird, in denen kein wirklicher Notfall vorliegt“, so der Sprecher. Im vergangenen Jahr seien durch die Leitstelle im Rhein-Kreis Neuss 55.425 Fahrten disponiert worden, fast 4400 mehr als 2021.

Ähnliche Zuwächse meldet der Rheinisch-Bergische-Kreis, wo die Einsätze im vergangenen Jahr um 4500 auf insgesamt rund 49.000 gestiegen sind. Und auch die Belastung in Euskirchen steigt stetig. Der sich zunehmend verschärfende Fachkräftemangel führe zudem dazu, „dass der Konkurrenzkampf unter den Rettungsdiensten zunimmt, mit entsprechenen Fluktuationen des Personals,“ berichtet der Sprecher des Kreises.

15 Prozent der Rettungsdienst-Fahrten in Köln vermeidbar

Die gesunkene Schwelle, Rettungsdienste zu alarmieren, wirkt sich vor allem in Großstädten verheerend aus. So seien in Köln etwa 15 Prozent aller Einsatzfahrten im vergangenen Jahr vermeidbar gewesen, heißt es in einem Papier des Stadtrates. Bei drei Prozent der Einsätze war kein Patient und keine Patientin mehr vor Ort. Gut zwölf Prozent der Einsätze wurden als sogenannte „Bagatelleinsätze“ kategorisiert, in denen die Behandlung – soweit überhaupt nötig – problemlos auch von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte hätte übernommen werden können. In einem Fall wollte ein Patient mit gepacktem Koffer lediglich ins 500 Meter entfernte Krankenhaus gefahren werden, obwohl er keine offensichtlichen gesundheitlichen Schwierigkeiten hatte.

Taxifahrer statt Lebensretter: Solche unnötigen Einsätze sind gefährlich, weil sie die Retter immer öfter an ihre Kapazitätsgrenzen bringen. Im vergangenen Jahr sei die Gesamtzahl der Einsätze noch einmal um 20 Prozent gestiegen, berichtet der Kölner Rettungsdienst-Leiter Alex Lechleuthner. Das Personal reiche dafür aber schon jetzt nicht mehr aus. „Wir brauchen jede Menge Nachwuchs. Aber wir bekommen den im Moment nicht“, sagt Lechleuthner – und warnt: „In den nächsten fünf Jahren werden wir kein vollständig besetztes Rettungsdienstsystem haben.“

Wir brauchen jede Menge Nachwuchs. Aber wir bekommen den im Moment nicht
Kölner Rettungsdienst-Leiter Alex Lechleuthner

Schon jetzt seien seine Kolleginnen und Kollegen quasi im Dauereinsatz. „Es gibt Tage, da sehen unsere Notfallsanitäterinnen und -sanitäter die Wache kaum oder gar nicht. In der Leitstelle sind oft fast alle Autos rot auf dem Monitor, weil alle Rettungswagen unterwegs sind und zu Spitzenzeiten im gesamten Stadtgebiet nur einer oder zwei noch frei sind“, berichtet Leitstellen-Mitarbeiter Mario Trommer. „Oft werden die Anfahrtszeiten dadurch so lange, dass die Hilfsfristen nicht mehr eingehalten werden können.“ Dann müsse halt die Besatzung eines in Reserve gehaltenen „Springer-Rettungswagen“ oder eines Löschfahrzeugs der Feuerwehr Erste Hilfe leisten.

Weichensteller für nicht lebensbedrohliche Situationen

Eine Unterstützung für den Rettungsdienst jedenfalls sei auch in NRW dringend nötig, betont Professor Eßer. In einigen Städte würden bereits die Ordnungsämter und Gemeindenotfallsanitäter zur Entlastung eingesetzt. Videosprechstunden, in denen Notfallärzte oft schon zahlreiche Fälle klären oder vorsortieren könnten, seien eine weitere Möglichkeit. „Wir benötigen jedenfalls dringend einen Weichensteller für nicht lebensbedrohliche Situationen“, fordert Gesundheits-Experte Eßer: „Eine Telefonnummer, unter der pflegerische Probleme, einfache medizinische Akutlagen sowie psychiatrische und soziale Anliegen identifiziert und klassifiziert werden.“

Möglicherweise könne dies unter der 116 117 geschehen, der Nummer des ärztlichen Bereitschaftsdienstes. Oder aber durch ein neu zu schaffendes „medizinisches Informationszentrum“, das wie eine vorgeschaltete „Leitzentrale entscheiden könnte, ob und welche medizinische Hilfe nötig ist“. Falls kein medizinischer Notfall vorliege, solle die Zentrale dann andere Hilfsangebote vermitteln, beispielsweise eine Akutpflege oder einen sozialen Notfalldienst. „Die 112 aber muss ein Synonym alleine für medizinische Notsituationen bleiben“, fordert Eßer.

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