Veedelsgeschichte(n)Die große Mülheimer Flutkatastrophe

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Mülheims Zerstörung durch den Eisgang im Februar 1784 (das Bild wurde der 1913 erschienenen „Geschichte der Stadt Mülheim“ von Johann Bendel entnommen).

Mülheim – „Ein beweinenswertes Schicksal hat vor kurzem Mülheim am Rhein hart betroffen, durch verheerende Wasser- und Eisfluten.“ Mit diesen Worten beginnt eine Beschreibung der größten Flutkatastrophe, die den Kölner Raum je heimgesucht hat: Im harten Winter des Jahres 1784, der in ganz Europa schwere Schäden anrichtete, verwüsteten Hochwasser und Eisgang das damals zum Herzogtum Berg gehörende Städtchen Mülheim – ein Drittel aller Häuser wurde zerstört oder schwer beschädigt, die Hälfte der Bürger wurde obdachlos, 21 kamen ums Leben. Doch auch in Köln waren ganze Stadtteile vom Hochwasser betroffen.

Was als Katastrophe endete, begann als Volksbelustigung: „Die diesjährige Kälte, desgleichen kein hundertjähriger Greis je gefühlt hat, schloss endlich den schon lange mit Eisschollen beladenen und über die Maßen aufgeschwollenen Rheinstrom“, notierte ein Augenzeuge, „vielen diente es zur Lust. Menschen und Vieh trutzten dem stolzen Flusse, und traten seine ohnmächtigen Fluten mit Füßen; man sah täglich mehr als tausend Menschen, die jauchzend und springend über den Rhein pilgerten. Die Lust dauerte sieben Tage.“

Zugefroren war der Rhein im Kölner Raum bereits am 10. Januar 1784, das Eis erreichte eine Dicke von drei Metern. Schollen, die vom Oberlauf herantrieben, türmten sich zwischen Köln und Mülheim zu kleinen Gebirgen auf. Als Tauwetter und Schneeschmelze den Wasserstand steigen ließen, wurde die Eisdecke allmählich angehoben. Darauf warnten erfahrene Schiffsleute so eindringlich vor den Folgen drohenden Eisbruchs, dass die Bewohner beiderseits des Rheins ihr Heil in stundenlangen Bittgottesdiensten suchten.

"Erschröckliche Überschwemmung"

In den letzten Februartagen ließen Tauwetter und starker Regen den Rhein weiter steigen. Am frühen Morgen des 27. Februar verkündeten Kanonenschüsse dann, das Eis gerate in Bewegung, zunächst im Kölner Süden. „Der Morgen dämmerte herauf und brachte den ersten jener schrecklichen Tage, woran Gott seine verheerenden Gerichte über unser Mülheim herein brechen und diesen blühenden Ort zu einem Gegenstand des Grauens machen sollte.“ So liest man in der eingangs zitierten „Beschreibung der erschröcklichen Ueberschwemmung und Eisfahrt“, die ein Augenzeuge, der Französischlehrer J. W. Berger, verfasst hat (abgedruckt ist sein Bericht in der 1913 erschienenen „Geschichte der Stadt Mülheim“ von Johann Bendel). Köln war aber zuerst betroffen, am Bayenturm konnte der Druck der Eismassen noch abgewehrt werden. Ein zweiter Eisbruch weiter unterhalb führte dann zur Katastrophe, wie der Kölner Historiker Friedrich Everhard von Mering (1799-1861) nach Erzählungen im Familienkreis überlieferte. „Die Schiffe am Rheinufer wurden reihenweise teils an den Mauern zerschmettert, teils von den Tauen abgerissen und von den Eisbergen überwältigt. Die Kräne gingen zugrunde, Bollwerke konnten nicht einmal widerstehen. Die entsetzlichen Unglücke richtete die Naturgewalt mit so unglaublicher Geschwindigkeit an, dass sie dem Schiffer kaum einige Minuten Zeit ließ, sein Leben zu retten. Die Fluten waren bereits durch die Pforten und eingestürzten Mauern in die Stadt so tief eingedrungen, dass sie Verheerung und Todesangst verbreiteten.“

Kölner blicken voller Mitleid zum anderen Ufer

Ein anderer Kölner Augenzeuge hat seine Eindrücke so zusammengefasst: „Mich trieb die Neugierde auf einen der höchsten Türme der Stadt. Ich sah ein ganzes Meer – und Berge von Eisschollen. Deutz, Mülheim, Rodenkirchen und die dem Strom nächstgelegenen Ortschaften ließen nichts von sich sehen als die Spitzem der Türme und die Dächer der Häuser.“ Noch heute erinnert eine viel bestaunte Markierung am Westportal der Kirche St. Maria Lyskirchen an den höchsten Wasserstand, der am 28. Februar 1784 erreicht war – umgerechnet auf den heutigen Pegel 12,60 Meter. Trotz ihres eigenen Unglücks blickten die Kölner aber voller Mitleid zum anderen Ufer, wo noch größerer Schaden entstanden war – dass bei der Katastrophe „nur“ 21 Menschen zu Tode kamen, wurde hinterher als glücklicher Umstand gewertet.

Die Mülheimer waren schon am 17. Januar durch eine erste Überschwemmung vorgewarnt worden – die zur Überraschung aller von der Landseite her eintrat. Bei Westhoven war der Rhein, durch die Kölner Eisbarriere aufgestaut, über die Ufer getreten, hatte sich seinen Weg östlich von Deutz in Richtung Mülheim gebahnt und dort das Gebiet zwischen Mülheimer Ufer, Freiheit, Stöckergasse und Wallstraße blitzschnell überflutet. Die Wassermassen verliefen sich indessen glücklicherweise im Rhein, dessen Eisdecke zu dieser Zeit noch tiefer lag. „Durch die Wasserfluth“, so der Chronist Mering im Nachhinein, „wurde gleichsam der Weg gezeichnet, den hernach die Eisfluten nehmen und dem niederen Teil Mülheims Tod und Verderben bringen sollten.“

Das Eis stand wie durch ein Wunder still

Am 27. Februar brach das Inferno über Mülheim herein: Der Eisaufbruch setzte ungeheure Wassermassen frei, die den Damm schnell überspülten und einrissen. Selbst höher gelegene Bereiche wurden erfasst. Die Strömung war dabei so reißend, dass es gefährlich wurde, mit Kähnen zu fahren. Zudem kam plötzlich erneut die Flut von Westhoven her, riesige Eisblöcke mit sich führend, deren gewaltiger Druck eine Vielzahl von Gebäuden bis zur Bachstraße und Stöckergasse einstürzen ließ. Im Augenblick der höchsten Gefahr stand plötzlich – wie durch ein Wunder – das Eis für Minuten still, mehr als 400 Menschen konnten sich in diesem Moment in Sicherheit bringen, die einen in einen höheren Teil im Norden, die anderen in die Krautmühle am Mülheimer Bach, wo schließlich 190 Menschen versammelt waren. Auf den Turm der lutherischen Kirche hatten sich etwa 70 Leute geflüchtet. Ihnen konnte erst am nächsten Tag Hilfe gebracht werden.

In der Nacht zum 28. Februar kam es indessen zu einem neuen Eisgang, weit schrecklicher als jener des Vortages, wie Berger schrieb: „Chaotische Nacht brütete über diesen bejammernswerten Szenen und vermehrte den Schrecken der unglücklichen Einwohner, die nun sämtlich eine sichere Beute des Todes zu sein glaubten. Immer stärker, immer heftiger heulte der Sturmwind, und immer dicker und schwerfälliger rollte das Eis, bis es sich schließlich gegen die Häuser stemmte.“

„Diese ganze grauenvolle Nacht hindurch hörte man nichts anderes als das Toben des Windes, das Brausen des Wassers, das Krachen der einstürzenden Häuser und – was das Herz am meisten bluten machte – das jämmerliche Angstgeschrei und die Hilferufe der Bedrängten.“

"Der Rhein geht!"

Am nächsten Tag gelang es, trotz Eisgang und Flut die letzten Bewohner aus den noch stehenden Gebäuden zu retten, obwohl das Wasser hier erst gegen Mittag seinen höchsten Stand erreichte. Dann endlich trat die lang ersehnte Wende ein: Unter lautem Krachen brach die Decke des Rheineises endgültig auf, und sofort sank der Wasserspiegel, strömten Eis- und Wassermassen in Richtung Flussbett ab. „Der Rhein geht!“ wurde zum tausendfachen Jubelruf in Mülheim.

Lange bot der Ort ein Bild des Grauens. Wochen später, als man schon eine Bilanz der Katastrophe gezogen hatte, lagen noch immer Eisblöcke herum. In Köln wie in Mülheim gab es viele Beispiele herausragender Hilfsbereitschaft – der Fabrikant Christoph Andreae, selbst einer der am schlimmsten Betroffenen, ließ zur Linderung der ärgsten Not Geld und Nahrungsmittel verteilen, aus dem Bergischen kamen Fuhren mit Hilfsgütern, die Stadt Solingen übersandte Brot und andere Lebensmittel, Elberfeld und Barmen schickten Decken und Kleidungsstücke, in Köln brachten vor allem protestantische Kaufleute eine Hilfsaktion in Gang, zu der aber auch der Generalvikar 300 Brote beisteuerte – die Gaben wurden ohne Unterschied der Konfession verteilt. Und der Herzog von Berg gewährte seinen Mülheimer Untertanen für die nächsten 25 Jahre Steuerfreiheit.